SPIEGEL ONLINE: Sie sind in einer bizarren religiösen Sekte, den „Kindern Gottes“ aufgewachsen. Wie haben Sie diese Zeit unbeschadet überlebt?Als ich vor rund 35 Jahren, Hippie unter Hippies, in Amsterdam lebte, gab es mehrere Anlaufstellen für kostenlose Mahlzeiten. Eine davon war der Hare-Krishna-Tempel, bei dem es eine Predigt aus der Bhagavat Gita und dann eine warme Mahlzeit gab; eine andere die Children of God, die ein Love-In betrieben. Dort erwarteten uns jeden Samstag belegte Brötchen, Tee und „flirty fishing“, wie der Vorgang intern genannt wurde. Im Klartext war das – wenn der Besucher oder die Besucherin es wünschte - nichts anderes als kostenlose Prostitution, um Menschen für die Gemeinschaft zu gewinnen. Junge Männer und Frauen, oft genug minderjährig, boten ihre Liebesdienste an.
McGowan: Ich habe sie gar nicht unbeschadet überlebt. Äußerlich wirke ich beinahe normal. Aber eigentlich bin ich vollkommen durchgedreht... (lacht). Ich erinnere mich, dass ich als Neunjährige mal in einem Flugzeug saß und die Dame neben mir meinte nach einer Stunde, in der ich mit ihr geredet hatte, ich solle ein Buch schreiben. Meine Jugend war wohl etwas ungewöhnlich. ... Es war nicht einfach. Aber ich habe mich durchgebissen. Mit dreizehn Jahren bin ich ausgerissen.
SPIEGEL ONLINE: Woran haben die „Kinder Gottes“ eigentlich geglaubt?
McGowan: Wissen Sie was? Das habe ich bis heute nicht begriffen. Ich glaube, sie waren in erster Linie ein Haufen Durchgeknallter. Sie nannten sich „Hippies für Jesus“. Das ganze fing wohl mal mit den besten Vorsätzen an. Irgendwann geriet es dann außer Kontrolle - wie alle Sekten mit einer Hierarchie der Macht. Später wurde es dann wirklich schlimm. Es passierten sehr bizarre Dinge, über die ich hier nicht näher reden möchte. Aber wegen dieser Dinge sind wir dann mitten in der Nacht geflüchtet. Glücklicherweise habe ich eher die idyllischen Sektenzeiten erlebt und nicht die verrückten.
Aus den Children of God, als Erweckungsbewegung in den USA entstanden, wurde seinerzeit unter der Leitung ihres Führers, der sich Mose David nannte, gerade eine Sekte, die Inzest innerhalb der „Familie Gottes“ genauso für richtig hielt wie das Menschenfischen mit dem Angelhaken Geschlechtsverkehr.
Ich hatte lediglich Interesse an den Mahlzeiten und lehnte die erotischen Angebote ab. Gerne unterhielt ich mich jedoch mit den Jugendlichen, die sich als Nachfolger Christi verstanden und den Kern des Evangeliums, die Errettung durch Tod und Auerstehung Jesu, unverfälscht verkündeten. Allerdings war dieser Kern eben nicht alles, was es in der Gruppe zu hören und zu erleben gab.
So absonderlich es klingt: Die ersten Denkanstöße, dass Jesus mich nach wie vor liebte und erretten wollte, drangen im Love-In in Amsterdam zu meiner Seele durch. Durch eines der Mädchen dort erhielt ich darüber hinaus eine Prophetie, die sich als geistlich sauber erwies und später erfüllte.
Wer kann eigentlich verhindern, dass Entwicklungen wie bei den Children of God stattfinden? Wer ist verantwortlich für die Qualität der geistlichen Speise, die gereicht wird? Wo sind die Väter, die Mütter im Glauben? Wo sind die Apostel, die einen Überblick haben und auf mögliche Irrtümer und Abwege hinweisen? Wo sind die Hirten, die bemerken, dass ein Schaf verletzt ist, womöglich eines fehlt?
„Und die einen hat Gott in der Gemeinde eingesetzt erstens als Apostel, zweitens andere als Propheten, drittens als Lehrer, sodann Wunder-Kräfte, sodann Gnadengaben der Heilungen, Hilfeleistungen, Leitungen, Arten von Sprachen. Sind etwa alle Apostel? Alle Propheten? Alle Lehrer? Haben alle Wunder-Kräfte? Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Legen alle aus?“Paulus schrieb diese Sätze in einem Zusammenhang, der oft genug nicht beachtet wird. Er hätte sie durchaus an die Children of God der Hippiezeit richten können.
Der Brief an die Christen in Korinth spricht in eine sehr konkrete Situation hinein: Es herrschte kein Mangel an Gnadengaben (1, 7), während die Gläubigen noch sehr ungefestigt waren (1, 8). Es gab Streit und Spaltungen (1, 10-11), die einen hingen Paulus an, die anderen Apollos, wieder andere Petrus (1, 12). Manch einer war auf Einfluss und Macht versessen (1, 26). Die Christen waren nicht im Glauben gewachsen; sie hätten längst feste Speise zu sich nehmen sollen, statt noch Babymilch zu benötigen (3, 2). Es gab Inzest unter den Gläubigen (5, 1), auch Götzendienst, Räuberei und Alkoholismus waren in der Gemeinde zu finden (5, 11). Offenbar waren auch außereheliche Eskapaden aufgrund eines mangelhaften Sexlebens in der Ehe nichts Ungewöhnliches, denn Paulus musste ausdrücklich daran erinnern, dass die Eheleute das Ehebett nicht nur zum Schlafen, sondern auch zum Sex benutzen sollten (7, 5)...
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen, aber vielleicht genügt dies, um festzustellen: Diese Gemeinde würde uns als Vorbild kaum taugen. Diesen Christen schrieb Paulus, um den chaotischen Haufen daran zu erinnern, dass die Gemeinde der Leib Jesu Christi und der eigene Körper der Tempel des Heiligen Geistes ist. Er gab ihnen Regeln für die Zusammenkünfte und das Verhalten im Alltag.
Diese Regeln sind richtig und gut. Weder Inzest noch Raub haben in der Gemeinde etwas zu suchen, und es ist auch nach wie vor keine gute Idee, im Gottesdienst ausschließlich in Zungen zu reden.
Nach wie vor brauchen wir erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, sodann Wunder-Kräfte, sodann Gnadengaben der Heilungen, Hilfeleistungen, Leitungen, Arten von Sprachen.
Ich meine, dass diese Dienste nicht mehr an eine Organisation, Kirche, Gemeinde oder ein Werk gebunden werden dürfen – und sich nicht mehr binden lassen werden.
Ich kenne Menschen mit apostolischem Dienst, die ganz bewusst kein Mitglied einer bestimmten Organisation im Leib Christi sind. Ich kenne andere mit dem gleichen Auftrag, die einer lokalen Kirche angehören – allerdings ihre Tätigkeit nicht auf diese beschränken.
Ich kenne Hirten, die sich liebevoll um Schafe kümmern, deren Mitgliedsausweis eine Konfession nennt, der die Hirten selbst nicht angehören.
Geistliche Lehrer stellen immer häufiger ihre Lehre unabhängig von irgendwelchen Zugehörigkeiten dem gesamten Leib Christi zur Verfügung. Das Internet trägt dazu erheblich bei, und das ist auch gut so.
Propheten sprechen vermehrt Situationen und Regionen an, anstatt sich auf die eigene Heimatgemeinde zu beschränken.
Gemeindeleiter fangen an, über den geistlichen Tellerrand hinaus zu blicken.
Sprachengebet und Zungenrede finden bei Menschen statt, deren kirchliche Organisation lehrt, dass es diese nicht mehr gebe.
Ich habe damals in Amsterdam etliche Traktate der Children of God gelesen, auch die oben abgebildete Publikation The devil hates sex - but Got loves it. Typisch für die Schriften der Children of God war ein Merkmal: Ein halber Bibelvers hier, ein oder zwei Sätze aus der Heiligen Schrift dort, dazu eine persönliche Offenbarung des Leiters, und fertig war die (biblisch begründete, da ja Bibelverse enthaltende) Lehre.
Zweifellos hatte Gott gesagt: Seid fruchtbahr und vermehrt euch. Zweifellos ist dazu Sex das beste Mittel. Zweifellos hatte König Salomo einen erheblichen Harem. Und wer dann noch eine Prise „eigene Offenbarung" hinzufügt, hat schnell diejenigen überzeugt, die ihm so zuhören, als sei er das einzig verlässliche auserwählte Sprachrohr Gottes.
Ein „gesalbter Gottesmann“ kann dir Orientierung geben, Impulse Gottes vermitteln, kann Sprachrohr des Heiligen Geistes sein, kann dir mit Vollmacht dienen; aber verlass dich nicht darauf, dass er nicht irren oder fallen kann.
Die Children of God hätten von einer Jugenderweckung zu einer tragfähigen Säule im Reich Gottes werden können, wenn ihr Leiter Einsicht gewonnen hätte. Ich weiß nicht, ob irgend jemand sich damals geistlich (wie Paulus um den Chaotenverein in Korinth) um den Anführer Mose David gekümmert hat, oder ob er nur verurteilt wurde. Paulus hat die Korinther auch gescholten, unverblümt, aber er tat dies aus Liebe zu Jesus Christus und den Menschen, die da auf abwegige Pfade geraten waren. Mit dem besten Gewissen vermutlich, selbst Paulus spricht sie ja als die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist, Geheiligte in Christus Jesus, berufene Heilige, samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an.
Ich rate dir, immer ein hinterfragendes Ohr zu behalten und nur das für unumstößlich zu halten, was du in der Bibel wiederfindest. Dazu musst du sie natürlich lesen, und zwar, wie ich nicht müde werde zu betonen, im Zusammenhang.
Schau nicht zwei oder drei Sätze an, sondern interessiere dich dafür, zu wem in welcher Situation etwas gesagt beziehungsweise geschrieben wurde. In der Bibel steht der Satz: „Es ist kein Gott.“ Nimm ihn aus seinem Zusammenhang heraus, und du hast ein wunderbares biblisches Fundament für deine neue Irrlehre.