Dienstag, 3. Juli 2012

Vom Alltag und von Kleinigkeiten, die gut oder schlecht sein können

Der Alltag, nach zwei Monaten Chemotherapie, gestaltet sich unterschiedlich. Das war zu erwarten und damit rechne ich auch für die nächsten Monate. Es gibt, je nach Blickwinkel, die guten und die schlechten Kleinigkeiten, die so leicht übersehen werden. Kleinigkeiten sind sie deshalb, weil sie so gar nichts von einer Sensation an sich haben, Spektakuläres fällt auf, die Alltäglichkeiten nicht.

Da gibt es bei mir die ständig vorhandene Übelkeit, an die ich mich inzwischen so gewöhnt habe, dass sie mir nicht mehr auffällt, solange sie einigermaßen im Hintergrund bleibt. Nur wenn, vor allem in den ersten fünf bis sechs Tagen nach der Infusion des Oxaliplatin, aus der Übelkeit ein Brechreiz wird, »bemerke« ich das Gefühl und steuere mit Tropfen und Tabletten dem Erbrechen entgegen. Bisher übrigens durchgehend erfolgreich.
Die beste aller Ehefrauen kocht mir leckere Gerichte Also ist das nun eine gute Kleinigkeit oder eine schlechte? Angesichts dessen, dass im Therapie-Tagebuch »ein Mal Erbrechen innerhalb 24 Stunden« als Normalfall gilt, der keine Besorgnis beim Patienten auslösen soll, kann ich eigentlich nur die positive Seite der Dauerübelkeit sehen: Es könnte schlimmer sein. Ich kann trotz und mit der Übelkeit alles unternehmen, was wir planen, ich kann trotz und mit der Übelkeit gute Speisen genießen. Ich würde zwar an 90 Prozent der Tage nicht von mir aus auf die Idee kommen, etwas essen zu wollen, aber wenn es denn vor mir steht, dann schmeckt es doch.

Dann ist da der Dauerdurchfall, mit dem zu leben ich mich inzwischen gewöhnt habe. Gewiss nervt es, mehrmals am Tag und ein bis zwei Mal nachts abführen zu müssen, ausschließlich ungeformten Stuhl noch dazu, aber auch hierbei könnte die Situation wesentlich schlimmer sein und es herrscht ja in unserem Land kein Mangel an Toilettenpapier. Wenn es zu schlimm wird, verhilft ein Tag mit Zwieback, Banane und anderen Hausmitteln in der Regel zur Besserung, die Tabletten, die ich gegen den Dauerdurchfall bekommen habe, sind bisher nur an zwei Tagen zum Einsatz gekommen.
Auch eher – aus meiner Sicht – eine positive Kleinigkeit, die mich bei der Teilnahme am Leben zwar ein wenig beeinträchtigt, aber eben nicht davon abhält.

Gewöhnt habe ich mich auch an das Kälte-Syndrom, das sich in der Intensität inzwischen als schwankend herausgestellt hat. An den Tagen nach der Infusion ist der Schmerz beim Berühren kalter Gegenstände oder beim Händewaschen mit kaltem Leitungswasser besonders deutlich, so ab dem vierten oder fünften Tag geht dann die Empfindlichkeit nach und nach zurück, am Ende des Zyklus wird aus Schmerz dann ein unangenehmes Gefühl, solange ich die Haut nicht zu lange der kalten Berührung aussetze.
Auch damit kann ich zurechtkommen, am Alltag teilnehmen, fast alles erledigen, was zu erledigen ist. Nähme ich die Handschuhe mit zum Einkaufen, könnte ich sogar Butter, Käse und womöglich Tiefkühlkost in den Wagen packen.

Am ehesten noch wirklich die Teilnahme am normalen Leben beeinträchtigend ist das Fatigue Syndrom. Wenn bleierne Müdigkeit mich heimsucht, macht es mir große Mühe, mich weiter am Gespräch zu beteiligen oder die Straße entlang zu gehen oder die Saunabank nicht als Schlafstätte zu benutzen. Dann entgehen mir Teile des Gespräches im Freundeskreis (oder der Handlung des Tatort im Fernsehen), dann wird es zur Anstrengung, zu antworten … aber es bleibt immerhin möglich und die Fälle, in denen ich einen Spaziergang ablehnen oder die Gesellschaft anderer Menschen vorzeitig verlassen muss, sind eher selten.
Bisher ist auch das Fatigue Syndrom nicht in der Lage, mich zu isolieren oder vom Leben auszusperren, und das soll sich auch nicht ändern, da bin ich fest entschlossen. Ich lerne nach und nach, wie ich gegensteuern beziehungsweise vorbeugen kann, und das macht mir Mut, dass ich auch damit immer besser zurecht kommen werde.

Einiges an den Nebenwirkungen ist zur Zeit noch unklar für mich: Bleibt das jetzt oder ist das vorübergehend? Wird das schlimmer oder besser? Zum Beispiel ist seit Ende des zweiten Zyklus beziehungsweise der Zwangspause durch die Mandelentzündung keine Erektionsfähigkeit mehr vorhanden – einstweilen oder längerfristig? Ich werde es wohl oder übel ganz einfach abwarten müssen. In den Unterlagen über die Nebenwirkungen, die ich unterschrieben habe, war die Rede davon, dass eine auftretende Impotenz »in der Regel« spätestens innerhalb einiger Monate nach Ende der Behandlung abklingt und sich die normalen sexuellen Fähigkeiten wieder einstellen. Kann aber auch früher passieren. Oder später. Verlässliche Auskünfte ärztlicherseits wird es dazu (wie zu so vielen Nebenwirkungen) nicht geben, da reagiert jeder Patient eben individuell und unvorhersehbar.
Und mal ganz ehrlich: Dass mein Penis nicht steif wird ist verglichen mit so vielem anderen, was sein könnte (oder vor der Operation schon war) nun wirklich kein Weltuntergang.

Vor allem durch die Mandelentzündung und ihre Folgen ist mir klar geworden, was es heißt, ohne funktionierendes Immunsystem zu leben. Dadurch steigt natürlich bei mir die Vorsicht, wenn es darum geht, mit anderen Menschen zusammen zu sein, sei es anlässlich einer Einladung zur Hochzeit oder eines Gottesdienstbesuches oder eines Einkaufs im Supermarkt oder dem Training im Sportstudio … aber Vorsicht heißt nicht Verbot. Ich halte etwas mehr Abstand, achte darauf, ob jemand niest, schnupft, hustet … aber ich kann und darf trotzdem raus aus der guten Stube, mit Vorsicht und Verstand ab und zu hinein ins Leben. Das ist gut so und mir sehr wertvoll.

Der Alltag gelingt trotz der Nebenwirkungen, die sich bisher eingestellt haben. Und das ist etwas, worüber ich mich freuen kann und freuen will und freuen werde. Weder eine Krebserkrankung noch eine Chemotherapie sind etwas Gutes. Aber es gibt trotz einer Krebserkrankung und einer Chemotherapie immer noch Gutes, in Hülle und Fülle. Man muss es nur sehen wollen.

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