Josef Wilfling ist kein erfahrener oder gar »gelernter« Autor, das hat er auch nirgends behauptet. Er ist auch kein Psychologe, kein Seelsorger, kein Jurist, sondern der pensionierte Leiter einer Mordkommission.
Daher täte man ihm Unrecht, wenn man von seinem Buch eine herausragende Sprache, psychologische Einsichten in die Seelen der Verbrecher oder juristisch-distanzierte Analysen erwarten würde.
Zweifellos sind seine Formulierungen oft unfreiwillig komisch, wenn beispielsweise die Stiche »absolut tödlich« sind; es gibt nun mal keinen nicht absoluten Tod. Auch manche Redewendungen (Zittern wie Espenlaub) sind arg abgedroschen, doch wie gesagt – Wilfling lässt keine Ambitionen erkennen, ein guter Schriftsteller zu sein. Man könnte höchstens dem Verlag ankreiden, dass er das Geld für ein Lektorat nicht ausgegeben hat; vermutlich war Heyne etwas klamm in der Kasse.
Das Buch erzählt Fälle, die dem Autor aus seiner Laufbahn besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben sind. Zwar mit geänderten Schauplätzen und Namen der Beteiligten, aber der Leser darf wohl davon ausgehehen, dass die geschilderten Ermittlungen tatsächlich so verlaufen sind. Bei der Lektüre tun sich Abgründe auf, insofern verspricht der Titel des Buches nicht zu viel. Dass Josef Wilfling seine Empfindungen nicht ausspart, dass er auch von eigenen Überreaktionen und Fehlern berichtet, dass er eine Meinung zur juristischen Praxis hat und ausdrückt, macht ihn sympathisch und glaubwürdig.
»Die Wirklichkeit ist packender als jeder Krimi«, wirbt der Verlag für das Buch – das sei dahingestellt, es gibt Krimis, die packender und spannender sind. Dass man einem Krimiautor so manches nicht abnehmen würde, was dieses Buch berichtet, ist allerdings anzunehmen. Ein Polizist klettert über die Trennwand einer Toilette und springt auf den Verdächtigen herab, woraufhin beide samt Kloschüssel durch den Boden brechen und in der Sickergrube landen – da würde man bei einem Krimi den Kopf schütteln und »völlig übertrieben« murmeln. Dass ein Mörder beim Vergraben von Leichenteilen den Plastiksack nicht mit verbuddelt, um die Umwelt zu schonen, würde bei der Lektüre eines Krimis zumindest Stirnrunzeln hervorrufen.
Das Leben ist zuweilen absonderlicher als die Fiktion, und dieses Buch schildert Episoden, in denen das sichtbar wird.
Ist »Abgründe« ein Sachbuch? Nein. Dann hätte es sachlicher ausfallen müssen. Ist es ein Roman? Nie und nimmer, ein Roman bemüht sich um Handlungsstruktur und Erzählstil. Ist es eine Autobiografie? Keineswegs, das Leben des Autors spielt keine Rolle. Haben wir es mit einer Erzählung oder einer Sammlung von Erzählungen zu tun? Schon eher, denn hier erzählt jemand seine Erlebnisse, wie er sie seinen Freunden beim Bier am Stammtisch erzählen würde. Nicht mehr und nicht weniger.
Mein Fazit: Lesenswert, denn die Lektüre ist an keiner Stelle langweilig.