In manchen frommen Kreisen wird verkündet, dass alle Gläubigen alle Vollmacht für alle Gegebenheiten des Lebens und Anspruch auf allen erdenklichen Segen haben. Diese Lehre wird mit zum Teil sehr konstruierten »biblischen« Belegen untermauert, aber dieses Fundament hat, wenn man einen Blick in die Geschichte der ersten Gemeinde, wie sie Lukas aufgeschrieben hat, wirft, keinen Bestand. Das oft gehörte »Du musst die Vollmacht nur ergreifen (wie immer das auch aussehen soll), den Segen nur abholen, weil alle Verheißungen für dich persönlich gelten« hat überhaupt nichts mit den Realitäten der ersten Gemeinde zu tun.
Nach dem Pfingsttag wurden dem Bericht in der Apostelgeschichte zufolge tausende Menschen gläubig und die Gemeinde wuchs auch in den anschließenden Wochen täglich. Doch wenn es darum ging, dass Kranke geheilt werden sollten, war offensichtlich diese Masse von Christen machtlos, nur einzelne konnten etwas ausrichten: »Es geschahen aber viele Zeichen und Wunder im Volk durch die Hände der Apostel; und sie waren alle in der Halle Salomos einmütig beieinander. Von den andern aber wagte keiner, ihnen zu nahe zu kommen; doch das Volk hielt viel von ihnen. Desto mehr aber wuchs die Zahl derer, die an den Herrn glaubten - eine Menge Männer und Frauen -, sodass sie die Kranken sogar auf die Straßen hinaustrugen und sie auf Betten und Bahren legten, damit, wenn Petrus käme, wenigstens sein Schatten auf einige von ihnen fiele.«
Anstatt also zu Tausenden die Kranken zu heilen und andere Wundertaten zu bewirken, wartete man im Sonnenschein, bis Petrus vorbei kam.
Nicht nur Petrus, sondern »die Apostel«, heißt es in dem obigen Textausschnitt. Stephanus war nun kein namentlich erwähnter Apostel, aber auch von ihm wird Vergleichbares berichtet: »Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk.« Das bekam ihm nicht sonderlich gut, er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. »Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Sie schrien aber laut und hielten sich ihre Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines jungen Mannes, der hieß Saulus, und sie steinigten Stephanus; der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied er.«
Der erste von vielen Christen, die wegen ihres Glaubens umgebracht wurden. Er hatte offensichtlich keine Gelegenheit gehabt, einem Vollmachts- und Wohlstandsprediger zuzuhören, der ihn darüber hätte aufklären können, dass es einen »geistlichen Kampf« gibt, den jeder Christ gefälligst zu gewinnen hat - schließlich kann er ja die Vollmacht dazu »ergreifen«.
Der nächste namentlich erwähnte nicht apostolische Wundertäter ist Philippus: »Philippus aber kam hinab in die Hauptstadt Samariens und predigte ihnen von Christus. Und das Volk neigte einmütig dem zu, was Philippus sagte, als sie ihm zuhörten und die Zeichen sahen, die er tat. Denn die unreinen Geister fuhren aus mit großem Geschrei aus vielen Besessenen, auch viele Gelähmte und Verkrüppelte wurden gesund gemacht; und es entstand große Freude in dieser Stadt.« Philippus überlebt die Verfolgung, soweit wir wissen. Jedoch nicht, weil er »mehr Glauben« hat als Stephanus (im übrigen soll ja die Größes eines Senfkornes ausreichen), auch nicht weil er irgend etwas proklamiert oder eine »geistliche Schlacht« gewinnt.
Der Apostel Paulus stellt in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth einige rhetorische Fragen: »Sind etwa alle Apostel? Alle Propheten? Alle Lehrer? Haben alle Wunder-Kräfte? Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Legen alle aus?« Die Antwort ist natürlich: Nein. Alle diese Gaben, für deren Ausübung Vollmacht des Heiligen Geistes zweifellos notwendig ist, sollten in der Gemeinde vorhanden sein, aber nicht jeder von uns hat die Vollmacht für die gleichen Dinge wie ein anderer.
Wenn dir also mal wieder jemand erzählen will, dass alle Verheißungen und alle Vollmacht und aller Segen nur darauf warten, von dir »ergriffen« zu werden, dann empfehle ich einen Blick oder zwei in die Bibel. Dort finden wir ganz andere Sachverhalte. Der einzige, der uneingeschränkte Vollmacht hatte, verzichtete (nicht nur) im Augenblick größter Bedrängnis darauf, sie anzuwenden. »Und siehe, einer von denen, die bei Jesus waren, streckte die Hand aus und zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?« ... »Als aber Herodes Jesus sah, freute er sich sehr; denn er hätte ihn längst gerne gesehen; denn er hatte von ihm gehört und hoffte, er würde ein Zeichen von ihm sehen. Und er fragte ihn viel. Er aber antwortete ihm nichts.«
Und wenn dir mal wieder jemand erzählen will, dass du nur zugreifen musst, um ein sorgen- und leidfreies Leben zu genießen, dann wirf ebenfalls einen Blick oder zwei auf das, was Jesus gelehrt hat: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.« ... »Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.« ... »Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.«
Das klingt so gar nicht nach Wohlstandsgarantie und High Life.