Freitag, 16. Oktober 2009

Die Entblößung - Teil 3

Heute geht es, manche Leser werden rufen »endlich!«, mit der Entblößung des Stephan Haberling weiter. Es empfiehlt sich, Teil 1 und Teil 2 zu kennen - dieser Hinweis nur für den Fall, dass jemand auf verschlungenen Internetpfaden irgendwie unvermittelt zu diesem dritten Teil gelangt ist.

Am Schluss des vorangegangenen Abschnittes hatte ich die Leser eingeladen, den Fortgang mitzugestalten. Auch am Ende dieses Teiles gibt es kein Ende der Geschichte, sondern eine Frage an die Leser, denn wiederum ist die Fortsetzung noch nicht geschrieben. Doch nun erfahren wir zunächst, was in der E-Mail stand, die Stephan Haberling um 11:45 Uhr bekommen hatte.

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»Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu« las er. Nun ja. Wie erwartet nicht wirklich hilfreich, was alter.ego da schrieb. Aber immerhin ein kleiner Hinweis, dass der ominöse Tunichtgut meinte, einen Anlass für die Entblößung zu haben.
Stephan Haberling überlegte, was er wohl wem wann angetan haben mochte, um diese seltsame Galerie auszulösen. Ihm fiel nichts ein, so sehr er auch grübelte. Seine journalistischen Aktivitäten waren seriös, er schrieb nicht für niveaulose Blätter wie die BILD-Zeitung oder die Regenbogenpresse. Er bemühte sich bei seiner Arbeit stets um Objektivität, selbst wenn er – auch das war nun mal Aufgabe eines Journalisten – einen Missstand aufzudecken, Machenschaften beim Namen zu nennen oder kriminelles Tun zu beschreiben hatte, unterschied er nach bestem Wissen und Gewissen zwischen zu verurteilendem Handeln und Herabwürdigung einer Person. Und manches, was einschlägige Blätter und Sender für berichtenswert hielten, war für ihn einfach keine Nachricht. Ob Veronica Ferres in Rom geheiratet oder Stephen Gatley vor seinem Tod einen Schwulenclub besucht hatte – das gehörte nicht zu dem, was in der Öffentlichkeit breitgetreten werden musste. Natürlich passierte genau das trotzdem, und die Auflage mancher Publikation hing genauso davon ab wie die Einschaltquoten gewisser Sender. Es gab einen Markt für derartige Inhalte, aber Stephan Haberling weigerte sich, diesen zu bedienen.
Er war sich keines einzigen Falles bewusst, wo er jemanden auf eine Weise öffentlich bloßgestellt hätte, die alter.ego nun zur sonderbaren Entblößung seiner Person hätte veranlassen können.
Auch seine Geschichten und Romane kamen nicht in Betracht, denn darin traten ausschließlich fiktive Personen auf.
Also blieb nur das wirkliche Leben, falls es überhaupt einen Anlass geben sollte. Stephan Haberling grübelte, ohne Erfolg. Es gab keine Episode in seiner Biographie, bei der er jemanden buchstäblich oder metaphorisch entblößt hätte. Er lebte ohne Ausschweifungen und Skandale, hatte keine Affären, stellte niemanden bloß, nur sich selbst gelegentlich, in der Sauna oder am geeigneten Strand. Das konnte alter.ego ja nicht meinen?

Einstweilen gab Stephan Haberling das Grübeln auf, um den zweiten Auftrag zu erledigen, der heute noch fällig war. Er hatte eine Routineaufgabe für die Redaktion der Deutschen Presseagentur zu erledigen: Den Nachruf für Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow, allgemein bekannter als Loriot, aktualisieren. Für Prominente, die ein gewisses Lebensalter erreicht hatten, wurden Nekrologe bereit gehalten, damit im Fall des Falles nicht erst recherchiert werden musste, und Loriot gehörte seit einigen Jahren zu denjenigen, deren Lebensdaten in diesem Archiv vorgehalten wurden. Insgesamt war Stephan Haberling für 40 Nachrufe für Personen aus dem kulturellen Bereich verantwortlich, er überprüfte und ergänzte an jedem Arbeitstag einen, so dass er ungefähr alle zwei Monate jedem einzelnen potentiell demnächst Verstorbenen gedanklich begegnete.
In den letzten Jahren war bei Loriot nicht viel dazu gekommen, am 8. Juni 2009 hatte die Stiftung Deutsches Kabarett den Künstler mit einem Stern der Satire bedacht, davor hatte es sie Verleihung des Ehrenpreises der Deutschen Filmakademie gegeben. Im September hatte eine Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte begonnen, aber das war für den Nachruf unerheblich, zumal sie vorher in Berlin zu sehen gewesen war. Die beiden Ehrungen waren schon vermerkt.
Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow war nun 86 Jahre alt und Stephan Haberling gönnte ihm noch viele Jahre des wohlverdienten Ruhestandes. Loriot gehörte zu denjenigen, deren Filme und Sketche ihn auch beim x-ten Mal nicht langweilten. Für seine Schaffensperiode war er gelegentlich etwas risqué gewesen, von den entblößten Busen der vermeintlichen Mainzelmännchen (die ja wohl dem Oberkörper zufolge eher Mainzelmädchen waren) bis zu den Herren im Bad, die sich gelegentlich aus der Badewanne erhoben, wobei auch die etwas klein geratene Männlichkeit nicht verborgen blieb. Da war auch die Dame im Spielzeuggeschäft, die versonnen einen Holzstab in einem Bauklötzchen mit passendem Loch hin und her bewegte, oder die alkoholgeschwängerte Feststellung: »Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur blasen kann.« Nicht zu vergessen die Frage »Und wann wird er steif?« im Sketch mit der hochmodernen Feuerwehrspritze…

Solche Dinge waren natürlich verglichen mit dem, was heute im Kino und Fernsehen oder im Internet zu sehen war, harmlos. Wie harmlos mochte, überlegte Stephan Haberling, wohl seine Entblößung im Internet ausfallen, die ja kaum noch aufzuhalten schien? Er blickte auf seine Armbanduhr. 12:30 Uhr, somit konnte er sich ein Bier genehmigen, ohne sein selbst auferlegtes Gesetz zu brechen: Kein Alkohol vor 12 Uhr Mittags. Vielleicht sollte er auch einen Happen essen?

Ein Blick in den Kühlschrank überzeugte Stephan Haberling davon, dass der Besuch im Supermarkt nicht mehr aufzuschieben war. Der kümmerliche Rest Butter und eine einzige Scheibe Maasdamer ließen keine magenfüllende Mahlzeit erwarten, im Gefrierfach wartete eine einsame Pizza Tonno auf ihren Verzehr, mehr Vorräte gab es nicht. Er wusste selten, was er an Lebensmitteln einkaufen wollte, deshalb ging er so ungern zu Reichelt oder Rewe. Die endlosen Regale mit den verwirrend vielen Angeboten irritierten ihn jedes Mal, und in der Regel kam er Woche für Woche mit der gleichen Ausbeute zurück. Maasdamer und Kochschinken, Butter, Krustenbrot und Ölsardinen, Bier aus der Brauerei Krušovice oder Staropramen, zur Abwechslung auch mal Breznak. Dazu irgend etwas aus der Tiefkühlabteilung, meist Pizza. Langweilig, zugegeben, aber dafür war er sicher, dass ihm seine Mahlzeiten schmecken würden.
Er verließ die Wohnung und begegnete im Treppenhaus seinem Nachbarn Detlef Fischer. Genau der Mann, der ihm vielleicht bei seinem Entblößungsproblem helfen konnte. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Detlef Fischer war Kriminalpolizist im Ruhestand, ein liebenswerter, gebildeter und immer freundlicher Mensch, dem Stephan Haberling schon bei einigen Computerproblemen hatte helfen können.
Der Einkauf war einstweilen vergessen.
»Guten Tag, Herr Fischer, haben Sie einen Moment Zeit?«
»Gerne, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Das hoffe ich. Würden Sie so freundlich sein, in mein Arbeitszimmer zu kommen? Ich muss ihnen etwas zeigen, das nur so zu erklären, wäre zu schwierig. Und außerdem auch gar nicht logisch. Weil das, was da vor sich geht, gar nicht geht.«
»Da bin ich aber gespannt!«
Die beiden setzten sich an den PC und Stephan Haberling zeigte seinem Nachbarn die E-Mails und die Galerie mit den Bildern der fortschreitenden Entblößung. Er erklärte, dass er keine Ahnung hatte, wer alter.ego sein mochte und worauf er eigentlich hinaus wollte. Dann fragte er: »Und was mache ich nun?«
Detlef Fischer runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Viel können Sie da nicht tun. Soweit ich es beurteilen kann, liegt keine strafbare Handlung vor.«
»Jemand zieht mich im Internet aus, und das ist nicht strafbar?«
»Darüber könnten die Juristen sich vermutlich jahrelang streiten. Die Fakten sehen für mich als Polizist so aus: Sie sind als Journalist und vor allem als Autor eine Person öffentlichen Interesses. Daher ist es zulässig, Fotos von Ihnen aufzunehmen und diese auch öffentlich zugänglich zu machen, ohne dass Sie vorher zustimmen müssen. Die Bilder zeigen einen Mann, der ein Kleidungsstück nach dem anderen – äh – ablegt wäre ja falsch, also verliert. Bisher ist nichts zu sehen, was als anstößig gelten könnte, Männer in Unterhose und T-Shirt sind kein Grund, sich zu entrüsten. Vorausgesetzt es geht so weiter, werden Sie übermorgen im Adamskostüm zu sehen sein. Dann – aber auch erst dann – könnte die Schwelle des Zulässigen überschritten sein, weil Ihre Intimsphäre verletzt ist. Voraussetzung ist, dass die Aufnahmen nicht an einem öffentlichen Ort gemacht wurden, zum Beispiel am FKK-Strand. Das ist ja ersichtlich nicht der Fall. Also sind es private Bilder. Wenn die in der Wohnung der Person entstanden sind, der sie nun veröffentlicht, ist dagegen erst mal nichts zu unternehmen. Wenn die Aufnahmen aus Ihrem Wohnzimmer stammen würden, wäre das eventuell anders, es sei denn, Sie hätten zugestimmt.«
»Habe ich nicht. Und die Bilder sind auch überhaupt nicht echt. Ich kenne weder den Raum, noch habe ich mich jemals auf diese Weise fotografieren lassen.«
»Aber die Narbe am Knie ist Ihre?«
»Ja.«
»Und die Kleidungsstücke?«
»Ich besitze das, was hier zu sehen ist, wenngleich es keine Einzelstücke sind.«
»Haben Sie nachgeschaut, ob vielleicht gerade dieses Freizeithemd oder diese Unterhose in ihrem Kleiderschrank fehlen?«
Darauf war Stephan Haberling nicht gekommen. Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Das gestreifte Hemd hing auf einem Bügel, die drei Jockey-Briefs lagen vollzählig in der Schublade.
»Alles da«, erklärte er seinem Nachbarn.
Detlef Fischer war einigermaßen ratlos. »Was mit Fotos beziehungsweise der Bildbearbeitung am Computer alles möglich ist, da kann man heutzutage nur noch staunen. Ich könnte einen ehemaligen Kollegen bitten, sich das anzuschauen, nicht dienstlich natürlich, da ja keine strafbare Handlung vorzuliegen scheint. Der Mann ist noch nicht pensioniert, hat also die komplette polizeiliche Ausrüstung zur Verfügung, und er ist Experte für Fälschungen und Manipulationen an Bildern. Er könnte, da die Auflösung ja sehr hoch ist, zumindest zweifelsfrei feststellen, dass es stimmt, was Sie sagen, nämlich dass diese Bilder nie aufgenommen wurden, sondern durch technische Manipulation zustande gekommen sind.«
»Würde er Ihnen denn diesen Gefallen tun?«
»Bestimmt. Soll ich?«
»Ja. Schon um meine Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit zu beseitigen. Und dann?«
»Dann wüssten Sie, womit Sie es zu tun haben. Mit welchen technischen Tricks hier gearbeitet wird, vorausgesetzt, mein früherer Kollege kann das herausfinden.«
»Immerhin wäre ich einen Schritt weiter. Danke, Herr Fischer! Darf ich Sie zu einem Bier einladen?«
»Gerne. Sie haben immer diese tschechischen Sorten, ausgesprochen lecker.«
Stephan Haberling ging zum Kühlschrank und blickte auf eine Scheibe Maasdamer und einen Rest Butter.
»Entschuldigung, ich wollte gerade zum Supermarkt gehen, als wir uns im Treppenhaus gesehen haben. Nach dem Einkauf gibt es auch wieder Bier in meinem Kühlschrank. Im Augenblick leider nicht.«
Detlef Fischer nahm es nicht krumm, er versprach, am späten Nachmittag – womöglich schon mit Ergebnissen bezüglich der Fotos – auf die Einladung zurückzukommen.
Kann man innerhalb weniger Minuten vergessen, dass der Kühlschrank leer ist? Stephan Haberling schüttelte den Kopf. Werde ich mit meinen 48 Jahren schon senil? Wenn ja, was ist dann mit diesen Fotos? Habe ich mich vor einer Kamera entblößt und das einfach vergessen? Gibt es so etwas?
Verlorene Minuten, Stunden Tage – so etwas mochte es in Romanen und Filmen geben. Es mochte vorkommen, dass Menschen sich so betranken oder mit Drogen anfüllten, dass sich ihnen später Erinnerungslücken auftaten. Stephan Haberling konnte sich nicht erinnern, sich in den letzten zwanzig Jahren dermaßen betrunken zu haben, und von Drogen hielt er sich sowieso fern.
Er nahm seinen Mantel vom Haken im Flur und schloss die Tür hinter sich. Vielleicht klärte die frische Luft auf dem Weg zum Einkaufen ein wenig sein wie vernebeltes Gehirn. Im Treppenhaus meinte er, das Klingeln seines Telefons aus der Wohnung zu hören, aber er machte nicht kehrt sondern ging hinaus auf die Straße.

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Und nun, verehrtes virtuelles Publikum, liegt es in Eurer Hand, zu entscheiden, ob die Fotos der fortschreitenden Entblößung »echt« sind oder durch technische Tricks zustande gekommen sind. Davon wird letztendlich der Schluss dieser Erzählung abhängen, falls es jemals einen geben wird. Ich habe für beide Fälle eine ganz vage Idee, aber – Hand aufs Herz! – noch keine Ahnung, was wirklich als nächstes passiert.
Paul Auster schrieb in seinem Buch Leviathan: »Nobody knows where a book comes from, least of all the person who writes it.« Im Fall dieser Geschichte weiß ich zumindest, woher ein Teil der Wendungen kommt: Von den geschätzten Lesern.

Klarer Fall:
Die Fotos sind echt!
Die Fotos sind manipuliert!
Auswertung

Nachtrag 19. Oktober: Wer mag, kann noch klicken, aber ich nehme das Ergebnis von heute zur Kenntnis und als Grundlage für die Fortsetzung. Eine Zweidrittelmehrheit wünscht sich, dass die Fotos echt sind. Au weia!