Von Elaine Heath, deutsch von Günter J. Matthia:
Als Lehrerin im Fach Evangelisation an der Perkins School of Theology habe ich häufig die Gelegenheit, in Gemeinden über Evangelisation zu sprechen. Dallas, zentral im »Bible Belt« gelegen, hat mehr große Kirchen und Gemeinden als andere Gegenden unserer Nation. Daher finde ich mich oft in einer gehobenen Vorstadtgemeinde wieder, wo ich über Ekklesiologie spreche.
Wann immer ich darüber rede, wie eine Gemeinde missional wird, ihre Selbstbezogenheit hinter sich lässt, wenn ich über die Hilfsbedürftigen spreche, dann kommt unausweichlich die Antwort: Was Christen wie die »Missionare der Nächstenliebe« tun ist prima für sie, aber für die meisten Menschen nicht umsetzbar. So etwas ist Missionsarbeit in einer Nische, aber nichts für »die Gemeinde«. Man erklärt mir, dass eine normale Kirche in den Vorstädten ein Gebäude ist, in dem eine Menge Programme angeboten werden, die den Bedürfnissen der Mitglieder entgegenkommen. Evangelisation beschränkt sich auf Strategien, mit denen man neue Besucher davon abhält, sich einer anderen Gemeinde anzuschließen. Die meisten dieser Gemeinden haben kurze Missionseinsätze im Sommer, bei denen Jugend und junge Erwachsene kulturübergreifend den Armen das Evangelium bringen. Viele spenden auch Geld an Obdachlosenheime und Essensausgaben für Bedürftige. Diese Form der Einsätze wird als Beitrag der Kirche zur Mission verstanden.
Die Idee, dass Gemeindemitglieder in ihrer eigenen Nachbarschaft als »Missionare der Nächstenliebe« leben, scheint unvorstellbar. Aber muss das so sein? Heißt Gemeinde sein wirklich Gebäude, Programme, Budgets und Spenden? Sollte die »normale Kirche« nicht eine Gemeinschaft von Christen sein, die um der Welt willen lebt? Wie sieht die Basis unserer Kirchenlehre aus?
(Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. - siehe Matthäus 25, 31-46) Die Hermeneutik der Liebe ist in dem Glauben verwurzelt, dass Jesus wirklich in den Menschen um uns herum lebt, dass er in unseren tatsächlichen Nachbarn dürstet. Jesus ist durch ewige Liebe mit jedem Menschen verbunden, dem ich begegne. Das ist der Anfangspunkt. Wenn ich die Menschen auf diese Weise betrachte, dann ändert sich alles. Es verändert meine Art, zu evangelisieren. Es verändert meine Ekklesiologie. Ich sehe jetzt Menschen, die bereits vom Heiligen Geist gerufen werden, bereits von Jesus gekannt werden, bevor ich ihnen überhaupt begegne. Jetzt verstehe ich, dass Freundschaft und Gebet die Grundlagen meiner Beziehung zu anderen sind, im Namen Jesu. Mit einer Hermeneutik der Liebe gebe ich mich den Menschen um mich herum hin in Gebet und Freundschaft, damit ich von ihnen etwas empfangen kann; nicht etwa, dass sie sich meiner Gemeinde anschließen, sondern dass ich Jesus in ihnen dienen kann, dem Jesus, der dürstet.
Um das zu tun, muss ich darüber nachdenken, was es für mich und andere Menschen bedeutet, Sünder zu sein. Ich muss Sünde überdenken, das, was Luther eine in sich gekrümmte Seele nannte. Und ich muss die Beziehung zwischen Wunden und Sünde überdenken. Eine Hermeneutik der Liebe bedeutet, dass Gott die Sünde des Menschen »voller Mitleid, nicht mit Verdammnis« betrachtet, weil Gott die Vielschichtigkeit von Verletzungen und Sünden sieht. Eine Hermeneutik der Liebe schließt die Lehre der Versöhnung ein, die nicht bestrafen will. Warum? Weil Jesus sich entschlossen hat, mit uns Sündern solidarisch zu werden, damit er uns von unserer Sünde befreien kann. Wenn Jesus uns befreit, sind wir wirklich frei. Mit der Hermeneutik der Liebe sehe ich die Sünde anderer Menschen so, wie Jesus sie sieht, und zwar keineswegs als unüberwindliches Hindernis oder permanente Schmutzflecken, sondern als Konsequenzen aus einem Leben in einer kaputten Welt. Ich sehe die vollständige Kraft der Auferstehung in den Menschen, schon bevor sie stattfindet. Darum glaube ich an ihr Potential, geheilt zu werden genauso wie an die Chance der Vergebung. Niemand ist jenseits der Möglichkeit, in Christus erneuert zu werden. Eine Hermeneutik der Liebe ist sich der Verheerung durch Sünde und Böses vollständig bewusst, aber sie weigert sich, der Sünde und dem Bösen das letzte Wort zu lassen.
Der englische Text steht hier im Emergent Village Weblog