Donnerstag, 11. September 2008

Das pfingstlich-charismatische Dilemma

In unserem Hausbilbelkreis gab es gestern und vorige Woche lebhafte Diskussionen darüber, ob es sinnvoll oder zulässig sei, »Ungläubige« mitzubringen. Zwei unvereinbar scheinende Vorstellungen darüber, was ein Hauskreis ist, wurden dabei deutlich.
  • Die einen betrachten den Hauskreis als Refugium, als einen Ort, an dem ausschließlich Christen sich versammeln, um ungestört Anbetung und Bibelarbeit, Austausch und Gebet zu pflegen. »Wenn da ein Fremder dabei wäre, könnte ich mich in der Anbetung nicht so für den Geist Gottes öffnen«, meinte eine Teilnehmerin. Jemand fügte hinzu: »Meine Probleme könnte ich nicht ansprechen, wenn wir nicht unter uns wären.«
  • Die anderen betrachten den Hauskreis als einen Ort, an dem Nachbarn, Kollegen, Freunde miterleben können, dass Christen ganz normale Menschen sind, die einander beistehen, ihren Gott loben, die sich freuen und traurig sein können. »Mir wäre richtiggehend unwohl, wenn ich wüsste, dass wir uns hier einigeln und nur mit uns selbst beschäftigen«, sagte eine Frau. »Wie sollen die Menschen denn Jesus kennen lernen, wenn nicht im Kreis von Gläubigen?«
Nun ist die Wahrscheinlichkeit, dass unser Kreis von Menschen überflutet wird, die Jesus noch nicht kennen, eine sehr geringe. Wir werden wohl in den nächsten Wochen weiter darüber reden, was und wie wir es sein wollen - und kaum einmal einen Ungläubigen zu Gesicht bekommen.

Das grundsätzliche Problem scheint mir jedoch weit über den Bereich Hauskreis hinaus zu gehen. Wir haben es mit einem Dilemma zu tun, das sich vor allem in den traditionellen pfingstlichen und charismatischen Gemeinden festgesetzt hat.

»Die Probleme der Welt sind nicht mehr die unseren, wir warten auf das neue Jerusalem und beim alten machen wir noch auf Missstände aufmerksam. Es ist nicht mehr unsere Welt, unser Land oder unsere Stadt für die wir beten und uns einsetzen«, schlussfolgert Storch in einem lesenswerten Beitrag zum Thema Solidarität.

Das trifft, meine ich, über den Solidaritätsgedanken hinaus genau den wunden Punkt. Wir sind dermaßen weit von unseren Mitmenschen entfernt, dass sie von manchen Christen schon als Bedrohung unserer Andacht empfunden werden. Wir können, meinen manche, nicht »richtig« anbeten, es sei denn, wir sind unter uns.

Die Abschottung ist so umfassend, so zum Normalfall geworden, dass kaum jemand sie noch wahrnimmt. Wir haben »christliche« Bücherstuben und »christliche« Musik, »christliche« Freizeiten, »christliche« Theatergruppen, »christliche« Zeitschriften, »christliches« Fernsehen, »christliche« Internetseiten, »christliche« Kindergärten, Schulen und wer weiß was noch alles…

Nehmen wir mal als ein Beispiel von vielen den Bereich der Musik unter die Lupe. Was ist denn eigentlich »christliche« Musik? Ist es Musik, die von Christen gemacht wird oder ist es Musik, die geistliche Belange thematisiert?
Die meisten Gläubigen in unseren Gemeinden werden die zweite Definition wählen und bezweifeln, dass ein Christ überhaupt etwas anderes als geistliche Themen musikalisch ausdrücken kann.
Nun frage ich mich: Kann ein christlicher Musiker sich nicht verlieben und »You are so beautiful to me« singen, wobei er die wunderschöne junge Dame und nicht den Herrn der Gemeinde meint? Kann ein Christ nicht von der Arbeit gestresst sein und einen »Working Man Blues« anstimmen? Kann ein Christ nicht in den Urlaub fahren und dabei vergnügt »On the Road Again« schmettern?
Nein. Kann er nicht, wenn man in die CD-Regale in unseren Gemeinden schaut. Solche Musik ist nicht zu finden. Dafür die hundertste Zusammenstellung der besten »Worship-Songs« und allerlei fromme Schlager, die kein Mensch außerhalb unserer Gemeinden auch nur zur Kenntnis nehmen würde. An Musikrichtungen ist bis hin zu Heavy-Metal alles vertreten, Hauptsache, es kommt oft genug frommes Vokabular in den Texten vor.
Künstler wie U2, Bob Dylan oder Söhne Mannheims wird man vergeblich in den Regalen suchen. Die sind ja nicht »richtig« christlich, weil sie auch oder sogar vornehmlich »weltliche« Lieder singen.

Viele Gläubige wundern sich darüber, dass die Menschen nicht in unsere Gottesdienste stürmen, um sich bekehren zu dürfen. In unserem Hausbibelkreis hatte jemand die Idee, doch mit der Gitarre in den Park zu gehen und dort Lobpreislieder zu singen, als evangelistische Aktion des Hauskreises. Ich fragte: »Und dann? Wenn jemand im Park tatsächlich neugierig werden sollte, darf er dann am Mittwoch in den Hauskreis kommen, bevor er sich bekehrt hat?« Die Antwort war ein betretenes Schweigen…

Unser pfingstlich-charismatisches Dilemma ist uns so vertraut, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen. Wir haben das biblische »nicht von der Welt« als »nicht in der Welt« verstanden und uns entsprechend abgekapselt. Wir sind wunderliche Figuren, Sonderlinge und Exoten, die sich oft genug nicht einmal mehr wundern, warum »die Welt« nicht unsere Gemeinden stürmt, um sich erretten zu lassen. Den Hauskreis dürften die Heiden ja sowieso nicht so ohne weiteres stürmen...

Sie bleiben unvergessen...

...über 3000 Opfer der Anschläge am 11. September 2001.