Freitag, 12. Juni 2009

Schuldgefühle

Am Dienstag rief mich zu abendlicher Stunde jemand an, um sich ganz fürchterlich und sehr ausdauernd zu beschweren. Ich kam so gut wie nicht zu Wort, da sich sein Redeschwall aus dem Telefonhörer ungebremst wie ein überlaufender Abwasserkanal ergoss, so dass er kaum zu unterbrechen war, und wenn, dann nur für Sekunden.
Der Anlass der Verärgerung des Anrufers? Er wollte mir Schuldgefühle einreden. Er hatte »beinahe einen Autounfall«, weil er sich so über meinen Blog aufgeregt hatte. Er hätte »kaum geschlafen letzte Nacht« angesichts dessen, was er hier vorgefunden habe.
Das Gespräch in Monologform dauerte rund 20 Minuten. Ich wollte eigentlich gerne The Shack weiterlesen, aber auch nicht unhöflich sein, außerdem dachte ich noch, dass ich vielleicht ja auch mal zu Wort käme. Na ja. Das gelang dann nicht. Der Anrufer wollte gar kein Gespräch, sondern nur seine Meinung loswerden. Die neben mir sitzende beste aller Ehefrauen meinte zwischendurch zu mir: »Will he ever let you say something?« Ich zuckte die Achseln, hätte aber genausogut den Kopf schütteln können.

Nun ist es jedermann freigestellt, zu lesen und zu betrachten und zu hören, was er möchte. Niemand wird gezwungen, diesen oder sonst einen Blog zu besuchen, in diesen oder jenen Film zu gehen, dieses oder jenes Buch zu lesen oder sich diese oder jene CD anzuhören. Es ist auch zulässig und völlig legitim, dass jemand meine Auswahl an Texten, die Bilder dazu oder sonst etwas nicht mag. Jeder darf auch gerne kritisieren, was ihm missfällt. Es mag auch zutreffen, dass ich nicht immer den besten Geschmack beweise.
Aber bin ich hier in Berlin an seinem Beinahe-Autounfall in einer Kleinstadt ziemlich weit weg schuld? Oder dem schlechten Schlaf des aufgebrachten Anrufers? Den Schuh ziehe ich mir eher nicht an...

Zum Thema Schuldgefühle gibt es seit kurzem ein interessantes Interview mit einem interessanten Menschen zu einem interessanten Buch. Hier ein Auszug:
Frage: Was sind Beispiele für falsche Schuldgefühle bei Christen?

Harald Sommerfeld: Nehmen wir ganz praktische Sachen: Christen, die sich schuldig fühlen, wenn sie anderen Wünsche abschlagen und Nein sagen. Oder Schuldgefühle, die durch Manipulation entstehen. Manipulation besteht in ihrem Kern ja oft darin, dass man einen anderen so zu beeinflussen sucht, dass er sich schuldig fühlen soll, wenn er nicht das macht, was ich will. So etwas gibt es auch in christlichem Gewande nicht selten. Ich kenne auch noch einen pädagogischen Missbrauch des Namens Gottes. Dass Jesus also traurig sei, wenn man bestimmte Dinge tut. Es gibt Schuldgefühle, die durch eigenen Perfektionismus entstehen, wo sich einer etwas nicht verzeihen kann, dass er Dinge nicht immer 100%ig hinkriegt usw.
Soweit der Auszug aus dem Gespräch. Mich deucht, mein Anrufer gehört zu einer Spezies, die »nicht selten« ist, wie es in diesem Interview heißt. Ob er wohl Bücher liest? Und wenn ja, welche? Vielleicht würde ihm ja »No more blues« gut tun...