Donnerstag, 9. September 2010

Neuland – Teil 4

Wer zu den regelmäßigen Lesern (und Kommentaren) gehört, weiß, warum der letzte Absatz von Teil 3 hier in veränderter Form noch einmal auftaucht: Polen ist längst NATO-Mitglied.

Wir sind immer noch im zweiten Kapitel, aber das findet heute zu seinem Abschluss. Ansonsten keine Vorrede, sondern gleich in medias res:

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Um 9 Uhr mitteleuropäischer Zeit erklärte die polnische Regierung den Verteidigungsfall und bat die NATO, das polnische Gebiet zu verteidigen. Obwohl der Vorgang nicht verfassungskonform war, wurde das polnische Militär durch die Regierung des Landes ohne Vorbehalte dem NATO-Kommando unterstellt.

Die Bevölkerung bejubelte den Entschluss. Die Verantwortlichen der NATO waren ratlos, da ein solcher Fall nicht vorgesehen war, erklärten aber zögernd, dass man die Möglichkeiten prüfen werde, die das internationales Recht zuließ.

Der Russische Präsident drohte mit der sofortigen Okkupation von ganz Polen, wenn dort auch nur ein einziger Soldat des westlichen Bündnisses auftauchen sollte.

Obwohl keiner auftauchte, begann bereits um 13 Uhr der Vormarsch der Russen durch Polen auf die deutsche Grenze zu.

Fritz Wegmann und Robert Stock wurden in ihrem Versteck nicht gestört. Zwar wachten sie öfter auf, weil Hubschrauber und Flugzeuge das Gebiet überflogen, aber es schienen keine Bodentruppen in der Nähe zu sein. Am Abend teilten sie sich erneut eine karge Mahlzeit und warteten dann ab, bis der letzte Rest Tageslicht verschwunden war. Sie unterhielten sich leise über ihre Kindheit und Jugend. Robert Stock erzählte vieles aus dem politischen Geschehen der letzten Jahre und Monate, was Fritz Wegmann unbekannt geblieben war. Er hatte in der Abgeschiedenheit seines Lebens in den Wäldern kein Interesse mehr am Treiben der Welt gehabt. Aber nun war er doch neugierig, wie es zu dem Wahnsinn kommen konnte, in dessen Mittelpunkt sie sich zu befinden schienen. Er zweifelte nicht an der Möglichkeit, dass in Kürze tatsächlich die Vernichtung allen Lebens, zumindest auf diesem Teil des Globus, hereinbrechen konnte.

Vorsichtig schlichen sie schließlich im Schutz der Dunkelheit aus der Höhle und setzten ihren Weg fort. Sie achteten aufmerksam darauf, ob es irgendwo einen Hinweis auf jenen Übergang in die andere Dimension gab, von dem sie nichts wussten. Eine Tür, ein Tor im herkömmlichen Sinne erwarteten sie nicht, aber was sie konkret suchten, war ihnen auch nicht klar. Das ganze Erlebnis mit den Säulen? wurde immer irrationaler, je länger sie unterwegs waren. Sie unterhielten sich über die Möglichkeit, in einem Traum gefangen zu sein, konnten aber nicht ernsthaft daran zweifeln, dass sie nicht schliefen. Hatten sie dann womöglich irgendwelche Drogen zu sich genommen, ohne es zu wissen? Gab es Kampfstoffe, die bei Menschen Halluzinationen auslösten?

»Ich weiß nur, dass unsere Begegnung mit diesen merkwürdigen Metallzylindern nicht stattgefunden haben kann«, meinte Robert Stock, »denn solche Dinge existieren nicht.«

»Und was tun wir dann hier mitten in der Nacht?«

»Das wüsste ich auch gerne.«

Aus der Ferne hörten sie Detonationen, die aber auch, wenn man sich Mühe gab, als Gewittergrollen durchgehen konnten.

Fritz Wegmann murmelte: »Ich würde jetzt eigentlich gerne aufwachen. In einer normalen Welt, in meiner Hütte. Ohne den Ring von nicht existierenden Wesen oder Gebilden ringsherum.«

Sie durchwanderten eine Gegend, die Fritz Wegmann nicht kannte. Vermutlich hatten sie die polnische Grenze inzwischen überschritten. Sie kamen über einen Hügel in ein kleines Tal. Im spärlichen Mondschein konnten sie nicht viel mehr erkennen, als dass sie vor einem See standen.

»Meinst Du, ich kann die Taschenlampe benutzen?«, fragte Robert Stock.

»Kurz, ja, vielleicht, denke ich. Aber mach sie aus, sobald wir einen Überblick haben.«

Sie hatten sich am Morgen für das Du entschieden, es machte wenig Sinn, beim förmlichen Sie zu bleiben, wenn sie schon in diesem sonderbaren Abenteuer zusammengefügt waren und die theoretisch-wahnvorstellungsbedingte Möglichkeit bestand, dass in Kürze nur noch sie beide als Vertreter der Menschheit übrig bleiben würden. Wo auch immer, in irgendeiner Dimension oder Welt. Falls alles Unsinn war, würden sie eben zusammen sterben, auch da konnte das persönliche Du für die letzten Stunden des Lebens nicht schaden.

Der Lichtstrahl schwenkte über die Landschaft. Links und rechts von ihnen gab es dichtes Gestrüpp, an ein Durchkommen war kaum zu denken. Vor ihnen lag das Wasser, schwarz und still. Am gegenüberliegenden Ufer stachen zwei hohe, uralte Bäume aus dem Waldrand hervor. Zwischen ihnen war eine Lücke, es hätte eine Art Tor sein können, wenn man nach einer natürlichen Form suchte. Fritz spürte immerhin, dass sie ihrem Ziel, zumindest dem Ziel, das sie in dieser Welt noch hatten, sehr nahe gekommen waren.

Robert knipste die Lampe aus und sie setzten sich ans Ufer. Die Uhr des Soldaten verriet ihnen, dass es nahezu Mitternacht war. Sollten sie schwimmen oder warten? Worauf warten? Auf eine Fähre oder eine Gondel aus Venedig, eine kleine Gestalt mit einem roten Kapuzenmantel? Auf das Tageslicht, das ihnen ein klareres Bild vermitteln würde? Auf Menschen, die, wo auch immer, in der Gegend auftauchen oder bereits lauern mochten? Auf das Ende der Welt?

»Ich schlage vor, wir essen den Rest unserer Vorräte. Dann sehen wir weiter.« Fritz teilte die verbliebene Nahrung auf und sie aßen schweigend.

Wasser gab es genug, sie hatten unterwegs an einem Bach die Schläuche aufgefüllt. Gelegentlich klangen die Stimmen von Tieren durch die Nacht, von Menschen war nichts zu bemerken.

»Seid ihr da, Wächter des Waldes?«, fragte Robert versuchsweise. Er erhielt keine Antwort.

Fritz fragte Robert: »Du kannst doch schwimmen, als Soldat kann man schwimmen, oder?«

»Selbstverständlich. Sicher nicht sehr weit mit diesem Kampfanzug am Leib, aber ich habe das Gefühl, als brauchte ich den sowieso bald nicht mehr.«

»Was meinst du, wann es passiert?«

Es war ihr Begriff für das Unvorstellbare, das Unaussprechliche, an dem sie beide nicht zweifelten. Entweder, auf diese Schlussfolgerung hatten sie sich geeinigt, waren sie beide verrückt, hatten sich die Begegnung mit den Zylindern? Säulen? eingebildet, dann war es auch nur logisch, dass sie alles glaubten, was die Wächter gesagt hatten. Oder sie waren nicht verrückt, sondern folgten dem Rat von wirklichen Wesen?. Dann war es ebenso folgerichtig, an das kommende Unheil zu glauben.

»Heute, es passiert heute, der Tag ist etwa eine Stunde alt, und ich glaube nicht, dass er 24 Stunden dauern wird wie andere Tage. Nicht für die Menschheit.«

»Habt ihr euch, deine Kameraden und du, über den Tod unterhalten? Als Soldat muss man doch eigentlich damit rechnen?«

»Das musste man, wollte aber nicht. Die Welt, zumindest Europa, schien doch wirklich zur Vernunft gekommen zu sein. Unsere Einsätze in Afghanistan waren gefährlich, es starben Kameraden, aber der Mensch meint immer, dass es nur andere treffen kann. Vermutlich ein psychologischer Schutzmechanismus.«

Fritz nickte. »Da hast du recht. Ich habe viel über den Tod nachgedacht. Allein in der Wildnis, ohne Möglichkeit, bei schwerer Krankheit oder Verletzung Hilfe holen zu können - ich habe immer damit gerechnet, irgendwann hier in den Wäldern zu sterben. Eigentlich war das ja auch mein Wunsch, denn zurück in die Zivilisation hätten mich keine zehn Pferde gebracht. Aber es war immer ein sehr theoretischer Gedanke.«

»Hattest du Angst vor dem Sterben?«

»Ja und nein. Wenn ich mir vorstellte, verletzt ohne Hilfe irgendwo vielleicht tagelang zu liegen, Schmerzen zu haben, zu verhungern oder zu verdursten - dann ja. Aber nicht vor dem Tod an sich. Sondern in einem solchen Fall vor dem, was mich davor an Qualen erwarten mochte.«

»Ihr solltet aufbrechen, Freund des Waldes und Freund des Freundes«, sagte eine Stimme. »Die Jagd beginnt.«

Sie waren zu Tode erschrocken, da sie nicht mehr damit gerechnet hatten, dass die Wächter in der Nähe waren und gar wieder in Erscheinung traten. Die Stimme kam von überall, sie hörten sie die Worte im Kopf und auch mit ihren physischen Ohren.

Nach einer Schrecksekunde fragte Robert: »Die Jagd?«

»Sie werden euch jagen. Beeilt euch. Lasst alles zurück, was Ihr habt. Ihr braucht es nicht.«

Das tiefe Dröhnen von Hubschraubern wurde hörbar. Es war noch vollständig finster, aber offenbar flogen sie jetzt auch bei Nacht.

»Wohin?«, rief Fritz.

»Du weißt es, Freund des Waldes.«

Die Hubschrauber kamen näher. Die beiden Männer zögerten nicht mehr, sondern zogen eilig ihre Kleidung aus. Sie ließen alles am Ufer liegen und wateten ins Wasser. Es war sehr kalt, doch der Tod würde eine andere und länger andauernde Kälte bringen.

Die vier russischen Hubschrauber waren mit Infrarot-Nachtsichtgeräten ausgerüstet. Ihr Auftrag war das Aufspüren von feindlichen Truppen auf polnischem Gebiet. Dazu gehörten natürlich auch polnische Soldaten.

Die beiden Menschen, die auf den Bildschirmen erschienen, konnten Zivilisten oder feindliche Späher sein, zu den russischen Truppen gehörten sie eindeutig nicht. Dass sie ins Wasser rannten und dann eilig zu schwimmen begannen, machte sie erst recht verdächtig.

Die Scheinwerfer des ersten Hubschraubers tauchten die Nacht in grelles weißes Licht.

Weder Robert noch Fritz verstanden auch nur ein Wort von dem russischen Befehl, der aus dem Himmel über ihnen dröhnte. Der Satz wurde wiederholt, sie schwammen hastig weiter. Das Ufer schien nicht näherzukommen.

»Return to the beach!«, befahl die Stimme jetzt auf Englisch. Das verstanden sie, aber sie beachteten es nicht. Die Zuflucht lag auf der anderen Seite.

»Return to the beach! We will shoot you!«

Sie schwammen mit aller Kraft vorwärts. Es gab keine Deckung mitten auf dem See, der Weg zurück war mittlerweile genauso weit wie der, den sie eingeschlagen hatten. Wenn jetzt geschossen wurde, dann waren sie am Ende ihres Lebens angekommen. Doch noch gab es ja einen Funken Hoffnung.

Die Meldung über die beiden Fliehenden war in der russischen Einsatzzentrale eingegangen. Der Befehlshabende zögerte nicht lange. Die Verdächtigen waren nicht weit von einem Sammelpunkt der Armee entfernt. Er befahl die Exekution ohne weitere Warnungen.

Der Pilot zögerte und überlegte einen Augenblick, ob er den Befehl missachten sollte. Er konnte vorgeben, den Funkspruch nicht verstanden zu haben, aber hinter ihm standen drei weitere Helikopter in der Luft, und die Besatzungen hatten die Worte mit Sicherheit genauso klar und deutlich empfangen wie er. Er wollte nicht auf zwei nackte, offensichtlich wehrlose Menschen schießen, von denen nicht einmal klar war, ob sie überhaupt Soldaten waren. Aber beim Militär und vor allem in diesem Krieg, wenn es denn schon einer war, zählte für ihn nur der Befehl der Vorgesetzten.

Er nickte seinem Schützen zu, und als der das Maschinengewehr bereit hatte, drückte der Pilot den Steuerknüppel leicht nach links.

Die Schüsse waren trotz der dröhnenden Motoren über ihnen deutlich zu hören. Links von Fritz und Robert spritzte das Wasser hoch, als die Kugeln ihr eigentliches Ziel verfehlten. Nicht weit, nur etwa 2 Meter. Für Warnschüsse eindeutig zu dicht. Noch 20 Meter, dann würden sie das Ufer erreichen. Durch das Licht der Suchscheinwerfer konnten sie genau auf die Lücke zwischen den beiden Bäumen zusteuern.

Erneut spritzte das Wasser auf, diesmal an ihrer rechten Seite. Entweder das war ein unglaublich schlechter Schütze da oben, oder man wollte sie nicht wirklich treffen, warum auch immer.

Ein zweiter Helikopter tauchte am Himmel vor ihnen auf, schwebte über dem Tor?, sein Scheinwerfer blendete die beiden Schwimmenden. Fritz bezweifelte, dass darin ebenfalls ein schlechter Schütze sitzen würde.

Er hatte so unrecht nicht.

Der Pilot des ersten Hubschraubers hörte sein eigenes Todesurteil in seinen Kopfhörern. Die anderen drei Maschinen hatten den Befehl erhalten, ihn abzuschießen, seine die Schüsse ablenkenden Steuerbewegungen waren registriert, richtig gedeutet und an die Zentrale gemeldet worden. Wenn er schon sterben sollte, dann konnte er den beiden Menschen vielleicht doch noch etwas Gutes tun. Er wusste nicht, dass sein Leben sowieso nur noch eine unwesentliche Dauer gehabt hätte. Jemand hatte auf den berühmten roten Knopf gedrückt, es gab kein Zurück mehr für die Menschen in Europa. Die präzise Maschinerie der Vernichtung lief gerade reibungslos an. Computer lösten den Start der speziellen Flugkörper aus, andere Computer registrierten ihn und lösten den Gegenschlag aus. Wer auf wen reagierte war unerheblich, da es niemanden mehr geben würde, der sich mit dieser Frage beschäftigen konnte.

Der Pilot hoffte, dass die Männer im Wasser bleiben würden, wenn sie begriffen, was vor sich ging und beschleunigte. Er steuerte seinen Hubschrauber auf den vor ihm über dem Ufer aufgetauchten Kameraden, der sein Henker hatte werden sollen, zu. Der begriff einen Augenblick zu spät, was geschah, und wenige Sekunden nach dem Funkspruch prallten die beiden Maschinen aufeinander. In einer Feuerwolke explodierten sie, die Trümmer stürzten in den Wald.

Die Suchscheinwerfer waren schon hell gewesen, aber das Feuerwerk der explodierenden Maschinen machte die Nacht zum Tage.

Am Rande ihrer Kräfte angelangt hatten die Schwimmenden zugesehen, wie es geschah. Sie waren noch im Wasser, Gott sei Dank, denn die Hitzewelle war erbarmungslos. Beide tauchten unter und kamen erst an die Oberfläche zurück, als sie wirklich Luft brauchten.

Der Wald hinter ihrer Zuflucht? stand in Flammen. Aber die beiden uralten Baumriesen standen noch. Wenn das nicht das gesuchte Tor? war, würden sie ins Feuer laufen. Das spielte eigentlich auch keine Rolle mehr, denn hinter ihnen waren weitere Helikopter zu hören. Tod im Wasser oder in den Flammen, das Ergebnis war vergleichbar.

Into the fire...Sie spürten Boden unter den Füßen und eilten aus dem See auf den brennenden Wald zu. Sie hörten durch das Prasseln der Flammen und die gelegentlichen Explosionen von Munition oder Treibstoff, dass aus anderen Richtungen noch mehr Maschinen auf dem Weg zu ihnen waren. Wer würde da darauf warten, dass die in einer guten Schussposition sein würden?

Es war unglaublich heiß, obwohl die erste Hitzewelle der Explosion vorüber war, aber sie rannten dessen ungeachtet vorwärts. Fünf Meter Uferstreifen waren zu überwinden, bevor sie die Bäume erreichen konnten.

Ein Maschinengewehr bellte vom Himmel. Sand spritzte hinter ihren Füßen empor.

Die zweite Salve war besser gezielt, aber zwischen den beiden Bäumen waren keine fliehenden nackten Männer mehr. Dort war nichts als der Waldboden und ein paar harmlose Pflanzen, die bereits von der Hitze versengt waren. Die Kugeln pflügten die Erde, Staub flog empor, und dann wurde der Horizont hell. Viel zu hell. Viel zu plötzlich. Das Morgengrauen war noch Stunden entfernt.

Die Menschheit hatte ihr letztes großes Feuer angezündet.

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Fortsetzung folgt.

5 Kommentare:

die Vorgärtnerin hat gesagt…

die sind ja verrückt.
alle.

BreakingFree hat gesagt…

gibts das auch als film?

Günter J. Matthia hat gesagt…

@juppi: warte nur, was noch alles kommt. verrückt ist - bis zum schluss jedenfalls, eine recht gute formulierung.

@kerstin: wenn du einen regisseur auftreibst, gerne. ich spiele dann eine silberne säule. :-)

die Vorgärtnerin hat gesagt…

au ja, ich auch

BreakingFree hat gesagt…

Eine silberne Säule mit Blumen am Hut? Na ich weiß nicht.