Samstag, 8. Mai 2010

Der Vogelfreund

Ich habe nichts daran auszusetzen, dass die Vögel fressen, was beim Säen auf den Weg fällt, denn auf dem Weg kann sowieso niemand etwas ernten. Der sandige Pfad wird täglich von vielen Menschen begangen, die zwischen unserem Dorf und dem Nachbarort unterwegs sind. Die Samenkörner werden entweder von solchen Passanten zertreten, oder die Vögel haben etwas davon, nämlich Nahrung für sich und womöglich Futter für ihre Jungen im Nest. Die Vögel beeilen sich immer, vor irgendwelchen Wanderern zur Stelle zu sein.
Mein Bruder, ein Geizhals wie er noch nicht einmal im Buche steht, hält mich für verschwenderisch, verdächtigt mich sogar mitunter, absichtlich etwas von dem kostbaren Saatgut für die Vögel hinzuwerfen. Er hat damit inzwischen sogar Recht. Vor ein paar Jahren war es noch reine Unachtsamkeit von mir, aber jetzt lasse ich ganz bewusst ein paar Körner hier und ein paar Körner dort für die hungrigen gefiederten Geschöpfe fallen. Schon um meinem Bruder mit seinem Geiz nicht nachzueifern.
wheatfield von sxc.hu Ich säe noch so, wie unsere Vorfahren seit undenklichen Zeiten gesät haben. Die Hand greift in den Leinenbeutel, den ich mir umgebunden habe, dann wird der Same mit tausendfach geübtem Schwung im Halbbogen großzügig auf die Erde verteilt. Nun liegt mein Feld am Fuß des einzigen Berges weit und breit, so dass beim Säen am Rand auch die eine oder andere Handvoll Samen auf dem felsigen Boden landet, der dann zum Abhang wird. Die Saat dort geht immer früher auf als die auf dem tiefen Boden, allerdings sorgt die Sonne dann bald dafür, dass die Halme verdorren, noch bevor irgendwelche Frucht zu erwarten wäre.
Natürlich hat mein Bruder auch das bemerkt und mich deswegen gescholten. Nur weil er drei Jahre älter ist, hat er mir aber dennoch nichts zu sagen, denn erwachsen sind wir schließlich beide. Es wäre jedoch vergebliche Liebesmüh, ihm diese Verschwendung am Rande des Berges zu erklären. Dabei ist die Sache recht einfach, wenn man sie nur verstehen will. Die trockenen Halme sind für die Vögel ganz hervorragend geeignetes Nistmaterial. An so einer Vogelwohnung ist ja immer etwas auszubessern, nachzupolstern, aufzuhübschen. Sollen die Vögel das etwa mit Material aus den Dornenhecken versuchen, die mein Feld von dem meines Bruders abgrenzen? Das Ergebnis wäre recht unbehaglich für meine gefiederten Freunde, nehme ich an.
In diesen Dornenhecken lebt eine erstaunliche Vielfalt von Tieren. Mäuse, Igel, massenhaft Insekten … - und einige Vögel, denn die bauen gerne ihre Nester in die Dornenhecke, damit die hungrigen Katzen, die übrigens meinem Bruder gehören, nicht an den Nachwuchs kommen, wenn die Eltern auf Nahrungssuche sind. Also ist es ja nur logisch, dass ich beim Säen an der Hecke nicht sonderlich vorsichtig bin, damit da nichts zwischen die Dornen fällt. Die Dornen ersticken die Saat, klare Sache, aber einiges davon holen sich die Mäuse, und über die erstickten Halme, die ein paar Zentimeter gewachsen sind, freuen sich wiederum die kleinen Nestbaumeister.
Wenn man meinem Bruder zuhört, dann verschwende ich mein ganzes Saatgut. Er neigt eben immer zum Übertreiben. Ich wäre ja inzwischen so verarmt wie er, wenn er recht hätte. Er sät immer sehr sparsam, man könnte fast meinen, dass er einzelne Körner aus seinem Beutel holt und fallen lässt, in genau berechnetem Abstand. Er bestreitet das, aber auf seinem Feld sieht es im Herbst immer ziemlich traurig aus. Na ja.
Meine unvorsichtig ausgestreute Saat fällt zum großen Teil auf gutes Land. Und wenn alles reif ist, ernte ich an einigen Stellen hundertfach, an anderen sechzigfach, und an den trockenen Stellen zum Berg hin immerhin noch dreißigfach. Obwohl die Vögel so viel abbekommen haben.
Das alles habe ich neulich einem durchreisenden Mann erzählt, der sehr aufmerksam zugehört hat. Ein freundlicher Mann, er war in Begleitung einer ganzen Schar von Schülern oder Nachfolgern durch unser Dorf gekommen. Er muss wohl eine Berühmtheit sein, aber so genau kenne ich mich da nicht aus. Ich bin ja nur ein Bauer.
Später hat er dann meine Geschichte einer Volksmenge unten am See erzählt. Etwas kürzer, soweit ich weiß. Ich war nicht dabei, man hat mir nur davon berichtet. Am Schluss soll er hinzugefügt haben: »Wer Ohren hat, der höre!«
Ich fand ihn nett, den Mann.