Sonntag, 1. August 2010

Mir henn a neies Lamm

Mein Schulkamerad Robin wohnte auf einem Dorf vor den Toren der Stadt Memmingen. Wenige Wochen erst war ich, ein Berliner Junge, in der Kleinstadt im Allgäu zu Hause. Ich lernte die ungewohnte Sprache zu verstehen, in der sich Kinder und Erwachsene unterhielten.

»Mogst a Gschöpftes?«, hatte mich die Bäckerin gefragt, als ich ein Brot kaufen wollte. Ich nickte tapfer, ohne zu wissen, was sie mich gefragt hatte.

»So a Simple, so a damischer! Saubua!«, rief mir eine Dame hinterher, als ich wie aus Berlin gewohnt mit dem Fahrrad zügig auf dem Gehweg unterwegs war. Ich lächelte sie an – vom Ton etwas irritiert, aber sie mochte ja durchaus etwas Nettes gesagt haben.

dös is aa a neies Lamm»Mir henn a neies Lamm, mogst des ohschaun?«, hatte mich Robin nach der Schule eingeladen. Ich verstand wieder nur Bahnhof, aber ich schloss mich ihm an, denn er wurde gerade mein Freund. Als er fortfuhr, es gebe zum Mittagessen »Kässpatzen«, wurde mir mulmig. Ich stellte mir Sperlinge vor, irgendwie mit Käse zubereitet. Die Spatzen erwiesen sich zu meiner großen Erleichterung als Teigwaren, und das Lamm eroberte mein Herz in Sekunden.

Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein,

sagte Albert Einstein. Was aber braucht man, um ein tadelloser Hirte zu sein? Man könnte ja mal denjenigen betrachten, der von sich selbst sagte:

Ich bin der gute Hirte…

Und schon bei der Fortsetzung des Satzes wird manchem bewusst, dass der Anspruch an einen guten Hirten recht hoch ausfallen kann:

…der sein Leben lässt für die Schafe.

Was war diesem Satz (Johannes 10, 11) vorausgegangen? Jesus hatte einen Menschen geheilt, der von Geburt an blind gewesen war. Das erregte erhebliches Aufsehen in der Gegend. Die Berufshirten der örtlichen Gemeinde befragten den Geheilten und seine Eltern, wollten unbedingt einen Grund finden, diese Heilung, die nicht zu leugnen war, einem »Geist von unten« zuzuordnen. Sie erläuterten dem Geheilten, dass Jesus nachweislich ein Sünder sei. Der Mann antwortete:

Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht; eins weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.

Schließlich warfen die Hirten den Mann aus der Herde – der einfachste Ausweg. Das Problem war nicht gelöst, aber aus dem Blickfeld. Nach diesen Ereignissen spricht Jesus mit seinen Zuhörern, unter denen auch einige der Berufshirten sind, darüber, was einen guten Hirten von jemandem unterscheidet, der lediglich einen Beruf ausübt, ein Amt, eine Funktion.

Wer Mietling (ein gegen Lohn angestellter Hirte) und nicht Hirte ist, wer die Schafe nicht zu eigen hat, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf raubt und zerstreut sie – weil er ein Mietling ist und sich um die Schafe nicht kümmert. (Johannes 10, 12-13)

Pfarrer, Pastor, Priester – wie immer die Bezeichnung für dieses Amt auch in der jeweiligen Konfession lauten mag, die Aufgabe ist die gleiche: Der Hirte sorgt dafür, dass die Schafe Wasser und Nahrung haben, ist in der Lage, ein verletztes Schaf zu versorgen, und wenn Gefahr droht, ist es der Hirte, der sie abwendet, nicht etwa die Herde. Der Hirte weiß, dass Lämmer Milch brauchen und erwachsene Schafe feste Nahrung. Der Hirte kennt die Schafe so gut, dass er es bemerkt, wenn ein Schaf leidet, wenn ein Schaf fehlt. Er bemerkt es nicht nur, sondern er reagiert und ruht nicht, bevor er Abhilfe geschaffen hat. Die Schafe wiederum kennen den Hirten und folgen ihm, weil Vertrauen gewachsen ist.

Weil jemand ein überzeugender Redner ist, ist er nicht automatisch ein guter Hirte. Auch die Tatsache, dass jemand ein ausgezeichneter Bibellehrer ist, macht ihn nicht zum Hirten. Bibelwissen und Eloquenz, gepaart mit langjähriger Erfahrung und einem tiefen eigenen Glauben und persönlich erlebtem Wirken Gottes reichen immer noch nicht aus. Ein Evangelist mag Tausende Menschen in das Reich Gottes bringen – er muss nicht automatisch pastorale Fähigkeiten und Eigenschaften haben. Das macht gar nichts, denn es werden ja nicht nur die Hirten benötigt, sondern auch die anderen Aufgaben müssen erfüllt werden. Aber ist man ein »Pastor«, nur weil man sich mit dem Titel schmückt?

Andererseits gibt es Männer und Frauen, die echte Hirten sind, ohne dass sie den Titel Pastor, Pfarrer oder Priester tragen. Sie hüten und behüten, sorgen und versorgen, leiden und leiten. Sie schauen den einen guten Hirten an und tun, was er getan hat. Ob nun für eine Handvoll Schafe, oder für ein einzelnes, oder für eine große Herde.

Robins »neies Lamm« folgte mir nach einigen Wochen überall hin, vertraute mir, kannte meine Stimme und hörte auf sie. Ich war kein guter Hirte, sondern ein Freund des Sohnes der Familie, ich hätte weder mein Leben für dieses noch sonst ein Schaf gelassen. Dennoch hat mir das Erlebnis in jungen Jahren geholfen, manche biblischen Passagen, in denen von Schafen und Hirten die Rede ist, besser zu verstehen. Und genauer hinzuschauen, ob jemand Hirte nur als Beruf oder auch aus Berufung ist.

Als ich einige Jahre später als »verlorenes Schaf« in Kriminalität und Drogen verstrickt durch Europa reiste, gab es einen Pastor, einen Hirten, der maßgeblich daran beteiligt war, dass ich heute noch lebe: Mein Großvater, Pastor von Beruf – und von Berufung, zweifellos.

 

P.S.: Wer sich dafür interessiert, wie ich damals am Abgrund gelandet bin und wie mein Großvater zum Lebensretter wurde, kann hier nachlesen: Es gibt kein Unmöglich!: Roman