Freitag, 27. Mai 2011

Jessika–Die Konfrontation /// Teil 2

Was bisher geschah: [Teil 1]

Was nun geschieht:

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»Wenn dir keine schwierigere Frage einfällt«, lächelte Jessika, »kann ich dir das gerne erzählen. Und zeigen.«

Jetzt war ich mir sicher, dass sie keine Ahnung hatte, denn das Foto war damals samt Negativ verbrannt worden. Als ich 13 war, gab es noch keine digitale Fotografie, das Bild war auch nie nachträglich gescannt und digitalisiert worden. Also konnte sie mir nichts zeigen, die damalige Vernichtung war endgültig. Ich war gespannt, was für eine Geschichte sie mir auftischen würde.

Unsere Gläser waren leer, ich überlegte gerade, ob ich ein drittes Bier wollte oder nicht, auf nüchternen Magen, als der Kellner an unseren Tisch kam und fragte, ob ich etwas nach meinem Geschmack in der Speisekarte gefunden hatte. Weil Jessika aufgetaucht war, als ich gerade etwas aussuchen wollte, hatte ich gar nicht mehr nachgeschaut.

»Svičková«, sagte ich kurzentschlossen.

Jessika bestellte Pstruh po mlynářsku.

Als der Kellner verschwunden war, lächelte sie versonnen und begann: »Du mochtest den Schwimmunterricht nicht, allerdings lag das keineswegs daran, dass du schlecht oder nicht gerne geschwommen wärest, sondern an der Badebekleidung und dem Duschen.«

Das kann nicht sein. Woher weiß sie das?

Vermutlich konnte sie meinem Gesicht die Verblüffung ansehen, aber sie fuhr ungerührt fort: »Schwimmen hattet ihr immer Donnerstags. Eines Freitags kamst du in die Schulklasse und ringsum wurde getuschelt und gekichert, während so gut wie alle Blicke auf dir ruhten. Das ging so weiter, bis dein Freund Robin das in die Hände bekam, was unter den Tischen durch die Klasse weitergereicht wurde.«

Jessika griff nach ihrer Handtasche und holte einen Umschlag hervor. Ich konnte mir denken, was darin war, denn offensichtlich funktionierte in diesem Traum alles, was im Wachzustand unmöglich war. Also konnte auch ein vor Jahrzehnten verbranntes Foto auftauchen. Ich war sogar ein wenig gespannt auf das Bild, das ich damals, mit 13 Jahren, nur kurz gesehen hatte. Robin hatte sich als echter Freund erwiesen und die Aufnahme nicht weiter gereicht, sondern in seinem Mathematikbuch verschwinden lassen. Als wir nach dem Unterricht zusammen die Schule verließen, klärte er mich über den Grund für das Getuschel und Gekicher auf und zeigte mir das Bild. Am Nachmittag besuchten wir zusammen unsere Klassenkameradin Franziska, denn sie war die einzige, die als Urheberin in Frage kam. Ihre Eltern führten ein Fotofachgeschäft und hatten ein Fotolabor im Haus. Da das Bild vom Vortag stammte und jeder normale Kunde ein paar Tage auf seine entwickelten Bilder warten musste, konnte nur sie von heute auf morgen einen Abzug mit in die Schule bringen. Robin verlangte das Negativ, Franziska wollte erst nicht wissen, worum es ging, gab dann aber nach, als wir uns mit der Bemerkung, dann eben ihre Eltern zu fragen, zum Gehen wandten.

»Wenn in dem Umschlag das Foto ist, das damals verbrannt wurde, dann würde mich interessieren, wo es herkommt. Und vor allem wie es in deine Hände gelangt ist«, sagte ich.

»Willst du nicht nachschauen?«

Ich nahm das Couvert und griff hinein. Die Rückseite lag oben. Da stand, genau wie ich es erwartet hatte, in Mädchenschönschrift: Johannes sein Johannes.

Johannes sein JohannesIch drehte das Bild um. Es war das Foto, das mir als 13jährigem so peinlich gewesen war. Dass wohl die ganze Klasse sich darüber amüsiert hatte, war noch peinlicher gewesen als der Moment, in dem es entstanden war. Als erwachsener Mensch denkt man anders darüber, weiß, dass es vollkommen normal ist und jedem pubertierenden Jungen häufig geschieht. Aber wenn man der pubertierende Junge ist und eine Badehose trägt, die so deutlich erkennen lässt, dass man eine Erektion hat, dann möchte man im Boden versinken. Oder im Wasser bleiben, bis der Penis sich wieder beruhigt hat. Allerdings schwindet die Schwellung nicht, wenn man ständig über sie nachdenkt und wenn der Sportunterricht zu Ende ist, muss man aus dem Wasser, ob man will oder nicht.

»Das«, erklärte Jessika triumphierend, war der peinliche Moment aus deinem 13ten Lebensjahr, den du bis heute nicht vergessen hast.«

Ich schob das Foto zurück in den Umschlag und nickte. »Woher weißt du das? Wie kommt das Foto in deinen Besitz?«

»Du kannst es behalten«, bot sie mir an. »Ich habe damals zwei Abzüge gemacht, das Negativ und den anderen Abzug hast du mit Robin zusammen verbrannt. Dieses Exemplar habe ich seit damals gut verwahrt und immer wieder angeschaut.«

Ich lachte laut auf, vielleicht zu laut, denn einige Gäste auf der Terrasse warfen uns neugierige Blicke zu.

Schade, dass ich mir Träume nie merken kann, sonst würde ich mir diesen Unsinn aufschreiben, wenn ich nachher wach bin. Jessika will Franziska gewesen sein! Ach du liebe Güte!

Ich trank meinen letzten Schluck Bier und kicherte: »Jessifranziska. Franzisjessika. Franjessiska.«

In ihren Augen blitzte es vergnügt. Sie meinte: »Ich habe damals noch mehr Fotos von dir gemacht. Ich war nämlich verliebt. Ich hatte dieses« - sie tippte auf den Umschlag - »Bild auch nicht böse gemeint. Ich fand es toll, wollte es nur meiner besten Freundin zeigen, weil wir uns oft über Jungs unterhielten, fantasierten …«

Mir fiel nichts passenderes ein, als Goethe zu zitieren: »Es fehlt dir nie an närrischen Legenden; fängst wieder an, dergleichen auszuspenden.«

Der Kellner brachte unser Essen, brachte auch gleich ein frisches Bier für mich mit. Das hatte ich nicht bestellt, nahm es aber gerne. Jessikas Glas war noch halb voll.

»Dobré chutání«, sagte der Mann und nahm den Aschenbecher an sich.

Jessika strahlte ihn an: »Děkuji srdečně!«

»Rádo se stalo.«

Für meine Ohren klang Jessikas Tschechisch perfekt, allerdings konnte ich mir kein Urteil erlauben, da ich so gut wie nichts verstand, geschweige denn all die sonderbaren Laute über meine Lippen zu bringen vermochte. Mir schien es, als flirtete Jessika mit dem Kellner – und so unverständlich mir das später war, in der Rückschau, ich spürte einen Anflug von Eifersucht. Völlig absurd. Wie der ganze Nachmittag und frühe Abend bisher.

Wir aßen ein paar Minuten schweigend. Ich überlegte, wie ich Jessika klarmachen konnte, dass ihre Geschichte Unfug war. Ob es überhaupt sinnvoll war, ihr das zu erklären. Die ganze Situation war ja völlig unmöglich, wozu also etwas erklären, was sowieso nicht stattfindet oder stattgefunden hat?

Schließlich sagte ich: »Als du 13 warst, hast du in Berlin gelebt und mit einer Hausmeisterin namens Evi Müller Teile einer frischen Männerleiche verspeist.«

Sie nickte und schnitt ein Stück vom Fleisch auf ihrem Teller ab. »Ja.«

»Als Franziska 13 war, lebte sie in Memmingen im beschaulichen Allgäu und hat mit ihrer Minox heimlich Fotos gemacht.«

Jessika spießte ein Stück Knödel auf die Gabel. »Ja.«

»Also was denn nun?«, fragte ich. »Wer denn nun?«

Jessika kaute genüsslich, schluckte, runzelte die Stirn und entgegnete: »Das fragst du jetzt aber nicht wirklich, oder?«

Natürlich nicht, da wir ja gar nicht hier in der Abendsonne sitzen, tschechische Nationalgerichte verspeisen, Budweiser Bier trinken und in dem Umschlag da ein vor dreißig Jahren verbranntes Foto von meinem durch die Badehose kaum verborgenen steifen Penis liegt. Nichts hier ist wirklich.

Ich überlegte, was ich sagen sollte. Jessika kam mir zuvor: »Wenn ich, wie du meinst, ein Geschöpf deiner Fantasie bin, wenn ich, wie du in Italien erkannt hast, als Nephilim mein Alter ändern und anpassen kann, wenn ich, wie du schon vorher wusstest, viel älter bin als ein Menschenleben je dauern könnte, warum sollte ich dann nur einmal ein 13jähriges Mädchen gewesen sein?«

 

Nach dem Essen rauchten wir noch eine Zigarette, der Kellner hatte beim Geschirrabräumen einen sauberen Aschenbecher gebracht.

Das Hotel Klika ist nicht groß, vielleicht trägt gerade das zur behaglichen, fast freundschaftlichen Atmosphäre bei. Die Ausstattung der Zimmer ist schlicht, der Fernseher jeweils winzig, das W-LAN unzuverlässig … aber die Lage direkt am Wasser, die Nähe zur Altstadt und vor allem die freundlichen Menschen, die das Hotel führen und dort arbeiten, haben es mir seit Jahren angetan. So gut wie jedes Jahr verbringe ich eine Woche dort, um auszuspannen, Ideen zu sammeln, Notizen zu machen.

Hatte ich hier auch an Episoden mit Jessika geschrieben? Möglich war es, vielleicht vor etlichen Jahren. Nun saß sie neben mir, die ausgedachte, die erfundene, die unbegreifliche und undurchschaubare Fantasiegestalt. Inzwischen war mir ziemlich klar, dass mein Gedanke, alles nur zu träumen, einem Wunschtraum gleichkam. Was aus dieser Situation werden sollte, war mir völlig schleierhaft. Hatte ich Jessika herbeigedacht oder konnte sie tun und lassen, was ihr in den Sinn kam? Kommen und gehen, wann und wie es ihr gefiel? Was wollte sie überhaupt von mir? Oder was wollte ich von ihr?

»Was machen wir nun mit dem Abend?«, fragte sie.

»Wieso wir? Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

»Wir könnten schwimmen gehen …«

»Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

» … oder ins Masné krámy gehen, da ist heute Livemusik zu hören.«

»Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

»Du wiederholst dich.«

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Die Leserfrage liegt nahe:

Johannes
... geht in sein Zimmer und liest ein Buch.
... geht mit Jessika schwimmen.
... besucht mit Jessika den Jazz-Abend im Masné krámy
O tempora, o mores!
Auswertung

Na denn. Frohes Abstimmen! Fortsetzung? Folgt.

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