Im April Jahres 2009 flogen wir für eine Woche nach London, um ein wenig auszuspannen. Nicht, dass wir Urlaub nötig hatten, aber auch das gehörte dazu, um den Schein eines normalen Lebens zu wahren. Jede Familie, zumindest wenn sie es sich leisten kann, fährt in Urlaub und erzählt dann den Nachbarn und Bekannten, wie es gewesen ist. So also auch wir drei.
Als eingefleischter Beatles-Fan war London für mich wegen eines gewissen Zebrastreifens schon lange verlockend gewesen. Viktor, jetzt 15 Jahre alt, liebäugelte mit dem Gedanken, ein Austauschschuljahr in England zu verbringen, da war ein Hineinschnuppern in die britische Hauptstadt ganz in seinem Sinne. Christine wollte einfach einkaufen. Nun ja. Es gab zwar in Hamburg meines Wissens auch Geschäfte, aber das gehörte zu den weiblichen Geheimnissen, die ein Mann nie im Leben begreifen wird.
In London waren wir am 3. April, einen Tag nach der Ankunft, mit Waffen versorgt worden. Ich hatte mich daran inzwischen so gewöhnt wie an das morgendliche Zähneputzen. Wenn wir Flureisen unternahmen, blieben unsere eigenen Waffen zu Hause im Safe, am Zielort wartete jemand mit Ersatz auf uns. Vor dem Abflug wurde dann die Ausrüstung wieder abgeholt. Unbewaffnet waren wir so gut wie nie, lediglich während der Flugreise.
Wir schlenderten durch die Carnaby Street, aßen trotz der feuchten Kälte Eis am Picadilly Circus, besuchten Ausstellungen, Kathedralen und Paläste, absolvierten das übliche Touristenpensum. Wir genossen die Freizeit, ließen es uns gut gehen.
Ich legte größten Wert darauf, dass wir vor der Heimreise unbedingt die Abbey Road aufsuchten und Fotos auf dem legendären Zebrastreifen machten. Da ausnahmsweise einmal die Sonne über London schien, fuhren wir recht früh am vierten Morgen mit der U-Bahn zur Station St. John’s Wood und bummelten dann gemütlich über die Grove End Road zu unserem Ziel.
Die Abbey Road war relativ unbelebt. Ab und zu kam ein Auto, aber es gab ausreichende Lücken im Verkehr, um unser Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn zumindest einer der beiden überlebenden Beatles mit auf dem Bild gewesen wäre, aber man kann nicht alles haben.
Ich wollte im weißen Anzug, die Hände in den Taschen, über die Straße marschieren und versuchen, wie John Lennon auszusehen, obwohl natürlich meine Haare mit denen des Beatles auf dem Cover nicht konkurrieren konnten. Das bisschen, was auf meinem Kopf noch übrig war, umrahmte eine wachsende Glatze wie schwindender Strand bei Flut das Meer umsäumt. Aber immerhin: Ich trug eine Brille.
Als wir die Aufnahmen vorbereitet hatten und auf die nächste größere Verkehrslücke warteten, hielt ein weißer Volkswagen Käfer hinter dem Zebrastreifen. Ich fragte Christine spaßeshalber, ob wohl die ICP für mich das Auto bestellt hatte.
»Nein«, lachte sie, »ob du es glaubst oder nicht, es gibt auch noch Zufälle und Dinge auf der Welt, die ohne unsere Mitwirkung passieren.«
Das Bild der Straße glich trotz inzwischen längst geänderter Fahrbahnmarkierungen und anderer Details dem auf dem Beatles-Album einigermaßen, wenngleich wir natürlich zu dieser Jahreszeit keine grün belaubten Bäume vorgefunden hatten. Das Auto wurde jedenfalls zu meiner großen Freude an genau der Stelle abgestellt, an der auf dem Cover ein weißer VW parkt.
Perfekter konnte die Szene nicht werden. Ich war bereit, der Volkswagen stand am richtigen Platz und es kam weit und breit kein Fahrzeug.
Christine und Viktor standen mit Camcorder beziehungsweise Fotokamera bereit. Der Junge hielt alles, was nun folgte, auf dem digitalen Video fest. Es ging so schnell, dass ich viele Einzelheiten erst später beim Betrachten der Aufnahmen bemerkte.
Christine blickte durch den Sucher des Fotoapparates, visierte mich an und ich ging los. Sie drückte den Auslöser und warf einen Blick auf den Mann, der jetzt hinter mir aus dem Volkswagen stieg. Ich ging langsam über den Zebrastreifen, hörte das Klicken der Kamera. Christine steckte den Apparat in die Manteltasche, griff in ihr Achselhalfter. Der Mann schaute zu ihr hinüber. Sie zielte, äußerlich völlig gelassen, und feuerte drei Schüsse ab.
»Weg hier!«, rief sie und rannte los.
Ich starrte auf den Körper, der neben dem Fahrzeug auf der Fahrbahn lag. Ein älterer Herr in dunklem Anzug mit tadellos gepflegtem Äußeren, wenn man einmal von den beiden Löchern im Schädel und dem rasch wachsenden Blutfleck auf der ansonsten blütenweißen Hemdbrust absah. Ich starrte und rührte mich nicht.
»Lauf!«, schrie Christine über ihre Schulter – und ich lief. Viktor war mir bereits einige Schritte voraus, wir verschwanden um die nächste Ecke. Wir hörten Schreie und erste Rufe nach der Polizei hinter uns, es hatte zahlreiche Zeugen gegeben, aber niemand schien uns zu verfolgen. Wer läuft auch schon jemandem hinterher, der eben bewiesen hat, dass er bewaffnet und bereit zum Töten ist.
… … …
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