Mittwoch, 3. Dezember 2014

Paulus: Wir sind wandelnde Tote

Zu den Schriften des Paulus beziehungsweise den Texten, die ihm zugeschrieben werden, habe ich auf diesem Blog schon gelegentlich kritische Anmerkungen gemacht. Heute soll einer seiner Sätze aber mal als nachdrückliches Ausrufezeichen dienen. Das kam so: Ich las einen Artikel meines irischen Freundes und Autorenkollegen Dylan Morrison, dessen Texte ich schon öfter übersetzt habe. Dieser aktuelle Beitrag malt ein deutliches Bild dessen, was der Satz in Römer 6, 11 eigentlich für unser Leben bedeutet, wenn wir ihn mal durchdenken. Wir sind wandelnde Tote. Und das ist auch gut so. Warum? Das schildert der folgende Beitrag, der in großen Teilen eine Übersetzung (mit freundlicher Genehmigung natürlich) seines Artikels Dead Folk Walking ist; einige ergänzende Einschübe stammen von mir.

Der Apostel Paulus, auch als Saulus von Tarsus bekannt, war für seine jüdischen Freunde so etwas wie ein Psychologe. Da er gleichzeitig Mystiker und ein sehr selbstbewusster Lehrer in religiösen Dingen war, geben so manche seiner Schriften oder ihm zugeschriebene Briefe Stoff für »christliche« Lehren her, die beim zweiten Blick auf falschen Schlüssen aus dem Inhalt basieren.

Wenn jemand dir rät, dass du »verantwortliche Beziehungen« innerhalb der christlichen Kreise pflegen und dir von anderen Menschen »in dein Leben hineinsprechen lassen« solltest, dann mag das gut gemeint sein, vielleicht weil du mit deiner Spiritualität nicht so ganz in die gängigen frommen Vorstellungen passt. Und du willst ja alles richtig machen - also bist du gehorsam und fügst dich, obwohl du ein ungutes Bauchgefühl dabei hast. Innerlich sträubst du dich, aber der Druck der Gruppe oder Gemeinschaft ist stärker …

Es fällt jedoch gar nicht schwer, auf die Anwendung solcher Vorschläge zu verzichten - nicht aufgrund von eingebildeter Perfektion, sondern anhand des Herangehens von Paulus an das Thema psycho-spirituelle Gesundheit.

»Geht von der Tatsache aus, dass ihr für die Sünde tot seid, aber in Jesus Christus für Gott lebt«

Das ist einer der befreiendsten Sätze, die unser mystischer Therapeut jemals geäußert hat. Alles hängt von dem kleinen Begriff »von der Tatsache ausgehen« beziehungsweise in anderen Übersetzungen »etwas annehmen und damit kalkulieren« ab.

Eine Tatsache braucht man nicht zu diskutieren, damit kann man fest rechnen. Das heißt für dieses Zitat, dass wir uns nicht in einem gestörten Zustand Gott gegenüber befinden, sondern ohne jegliche Furcht eins mit der göttlichen Liebe sind. Der gute alte Paulus scheint also den Schluss zu ziehen, dass wir wandelnde Tote sind: Das frühere fragmentierte und ängstliche Ego können wir getrost für gestorben und beerdigt halten. Der mystische Paulus erkannte die vergängliche Natur unserer eigenen psychisch-spirituellen Sinnestäuschung, nämlich irgendwie von der göttlichen Quelle getrennt zu sein.

Der menschliche Geist hat sich nie auf die maßlose Reise des »verlorenen Sohnes« bei seiner Jagd nach dem Glück gemacht. Unser Geist war und blieb vielmehr immer ein Funke des göttlichen Feuers, obschon er unter dem Gezeter und den rudernden Armen des Egos außer Sicht geriet. Unser Seelenleben hat sich die Lüge einer göttlichen Missbilligung einreden lassen und folglich eine Sammlung von allerlei Waffen für den Kampf dagegen zugelegt.

Doch Paulus behauptet hier, dass die alte Natur des Ego bereits tot und begraben sei. Wir müssen uns nicht mehr um die Fehlfunktionen des Ego, oder um ein tief religiöses Wort zu benutzen, die Sünde, kümmern. Nein, statt dessen gibt es und gab es schon immer eine alternative Lebensweise, nämlich Gott gegenüber lebendig zu sein.

Das klingt alles noch sehr theoretisch. Wie sieht das in der Praxis aus?

Zunächst ist das Kreisen um die Schuldgefühle unseres Egos nicht mehr notwendig. Das ist eine schlechte Nachricht für bestimmte Ausprägungen der evangelikalen Kirchen: Das alte Gedankenmuster, nie gut genug zu sein, kann nämlich endgültig entsorgt werden. Es war ja auch noch nie zutreffend.

Wir brauchen keine Fleißpunkte vor Gott mehr sammeln - oder, was vielleicht noch schlimmer ist, vor unseren Zeitgenossen. Wir sind nämlich endlich wach geworden und erkennen die von Paulus beschriebene Tatsache: Wir leben bereits für Gott und sind bereits für die Sünde gestorben. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir nicht von ihm getrennt existieren können. Wir leben und bewegen uns und sind in unserer ganzen Existenz mitten in der göttlichen Liebe. Kann ein Fisch seine Heimat im Ozean aus Versehen verlieren? Wohl kaum.

resurrection

Wir haben nichts weiter zu tun als so bewusst wie möglich von der Tatsache auszugehen, dass wir der göttlichen Liebe ganz nah sind, denn das ist die wirkliche Wirklichkeit. Paulus schlägt also eine radikal andere Sicht auf uns selbst vor, auf andere Menschen gleichermaßen. Die göttliche Quelle ist der Schlüssel zu Freude und authentischer Freiheit - Freiheit von der verwirrten und angsteinflößenden Welt des Ego.

Nun kommen wir zurück zum einleitenden Gedanken, »verantwortliche Beziehungen« innerhalb der christlichen Kreise pflegen zu müssen und sich von anderen in die Lebensgestaltung hineinreden zu lassen: Natürlich ist nichts daran verkehrt, mit anderen gläubigen Menschen Zeit zu verbringen, Freunde zu haben, die eine spirituelle Sicht auf das Leben besitzen. Überhaupt nicht. Aber sind solche Ein- und Verbindungen lebensnotwendig? Das kann man auch nicht einfach so bejahen. Schauen wir die beiden Punkte einmal genauer an.

1. Verantwortliche Beziehungen

Ich habe diese sogenannten verantwortlichen Beziehungsgeflechte in religiösen Kreisen über die Jahre in verschiedenen Ausprägungen zur Genüge kennen gelernt. Ich betrachte solche Zwangsverantwortlichkeiten heute als unvereinbar mit dem eingangs zitierten Gedanken beziehungsweise Postulat des Paulus. Denn wenn wir bezüglich der Fehlfunktionen des Egos tot sind, wozu sollen wir dann andere Menschen brauchen, die wie Zuchtmeister oder Aufseher über unser Seelenheil wachen? Wenn das neue Leben, das Leben für Gott, das Paulus so selbstsicher als Realität bezeichnet, tatsächlich wahr ist, warum sind viele Christen dann dermaßen damit beschäftigt, Angst vor einer Überrumpelung durch die für tot erklärte alte Lebensweise zu haben?

Sie sind oft so voller Unsicherheit und Angst, dass sie religiöse Gemeinschaften brauchen, in denen es »Wächter« über ihren Lebenswandel gibt. Und wenn solchermaßen geschundene Menschen dann irgendwann unter all dem Druck zusammenbrechen und aus den Zwängen ausbrechen, werfen Sie meist leider gleich den gesamten Glauben über Bord.

Entweder, dieses »neue Leben in Christus für Gott« ist real, oder es handelt sich um ein Märchen, das sich im Lauf der Jahrhunderte als solches entpuppt haben sollte. Ich tendiere zu ersterem.

2. Menschen, die dir ins Leben reden

Eine Menge Menschen reden uns Tag für Tag ins Leben hinein, so gut wie jeder, der uns im Alltag begegnet. Manches übergehen wir, und das ist auch gut so. Manches beherzigen wir, und auch das ist gut so. Aber um solches, meist eher belangloses Reden geht es ja hier nicht.

In einigen christlichen Zirkeln hält man es für notwendig, dass ein »geistlich reifer« Bruder oder eine ebensolche Schwester dir Korrektur und Anweisungen für dein Leben erteilt. Diese Person kennt natürlich Gottes Gedanken und Wege viel besser als du selbst, vor allem bezüglich deines eigenen Lebens. Auch so etwas habe ich zur Genüge kennen gelernt. Oft zeigte sich später, dass solch ein »weiser seelsorgerlicher Ratgeber« mindestens so viel Mist bauen konnte wie ich selbst. Mancher vielgepriesener Mann Gottes, der anderen bezüglich ihrer Lebens- und Eheführung »göttliche Worte« mitzuteilen wusste, hat schon seine Ehefrau gegen die Sekretärin eingetauscht. Woher sollst du wissen, wie es in demjenigen aussieht, der dir da ins Leben reden soll und darf?

Falls der Mystiker Paulus also mit seinem Satz recht gehabt hat, dann sind wir durchaus in der Lage, die göttliche Stimme der Weisheit in uns selbst wahrzunehmen. Frei von Voreingenommenheit und verzerrten Sichtweisen sind die Gedanken des Geistes in uns jederzeit verfügbar. Mal ist es ein »Bauchgefühl«, manchmal ein präziser Gedanke oder eine klare Einsicht ... die göttliche Liebe weiß schon, wie sie jeden einzelnen Menschen im Fluss seines Lebens auf einzigartige und unübertreffliche Weise erreichen und ansprechen kann. Besser als je ein Mensch das könnte, und sei er uns noch so nahe.

Natürlich werden »geistlichen Ratgeber« das flugs zurückweisen, werden uns geistliche Arroganz und trügerische Selbstherrlichkeit vorwerfen. Zu unrecht. Denn wir tun nichts anderes, als den Apostel Paulus in seinem Schreiben an die römischen Gläubigen beim Wort zu nehmen. Und das paulinische Wort ist (ironischerweise) gerade in den hier angesprochenen evangelikalen Zirkeln unantastbar.

Wir dürfen also den pseudo-geistlichen Worten anderer Menschen jederzeit zuhören, sollten sie aber immer mit Vorsicht genießen. Das gilt natürlich auch für diese Zeilen, die du gerade gelesen hast. Wenn weise Worte eines anderen Menschen einen Misston in deinem geistlichen Bauchgefühl erzeugen, dann schenke ihnen ein freundliches Lächeln und geh weiter.

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Original von Dylan Morrison (siehe einleitender Absatz oben): [Dead Folk Walking - Writer Dylan Morrison]

Bild: gleiche Quelle.

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