Montag, 14. September 2009

Freundschaftliche Langeweile

Die Plauderstunde mit Frau Merkel und Herrn Steinmeier gestern zur besten Sendezeit war ja nun tatsächlich das, was allerlei Auguren vorher prophezeit hatten: Ausgesprochen langweilig.

Was sollte man auch anderes erwarten von zwei gebildeten und zivilisierten Menschen, die in weiten Bereichen das Gleiche wollen und vier Jahre hervorragender Zusammenarbeit hinter sich gebracht haben.

Allerdings hätten womöglich Moderatoren, die interessantere Fragen stellen und die etwas besser vorbereitet sind, mehr aus den 90 Sendeminuten machen können. Doch diesen vier Gestalten fiel nichts anderes ein, als den Standard abzuhaken: Steuern rauf oder runter? Atomkraft? Böse Banker und Manager? Opel? Krankenkassenhabsucht? Afghanistan?

Alles Bereiche, bei denen jeder auch nur flüchtige Zeitungsleser oder Nachrichtenhörer längst verstanden hat, dass SPD und CDU das gleiche wollen, lediglich mit unterschiedlichen Nuancen. Die Steuern wollen beide Parteien (in unterschiedlichen Prozentzahlen) senken, um Arbeitsplätze zu schaffen. Aus der Atomkraft aussteigen wollen beide Parteien, die SPD mit festem Datum, egal ob Alternativen da sind, die CDU erst dann, wenn es ausreichende andere Energiequellen gibt. Habgierige Banker und Manager finden Steinmeier wie Merkel zum Kotzen, und beide wissen, dass in einem Rechtsstaat mit Marktwirtschaft nicht so einfach die Regierung bestimmen kann, wer wann welche Zahlungen einkassiert. Für Opel haben beide Parteien gemeinsam gekämpft, obwohl Steinmeier sich bei diesem Thema die einzige Frechheit des Abends erlaubt: »Stellen Sie sich vor, Schwarz-Gelb hätte regiert - dann wäre Opel heute mausetot.« Darauf antwortet Merkel nicht direkt, wozu auch. Jeder Zuschauer weiß sowieso, dass das Unfug ist, denn die FDP wird ja auf absehbare Zeit nicht allein regieren können oder den Kanzler stellen ...

Na ja. Fernsehen eben, öffentlich rechtliches, gekoppelt mit zwei schon von Haus aus niveauloseren Kommerzkanälen. Moderatoren, die sonst mit seichter Unterhaltung zu tun haben müssen, sonst wären sie nicht dermaßen ahnungslos und weichgespült in die Sendung gegangen. Und zwei Kandidaten, die mit Recht auf ihre bisherige Zusammenarbeit stolz sein dürfen. Was will man da schon erwarten außer Langeweile? Eben.

Foto: stern.de

Samstag, 12. September 2009

† Frieda Ryklik

24.10.1940 - 11.09.2009

friedaryklik1 Der Tod einer Mutter ist der erste Kummer, den man ohne sie beweint.
-Jean Antoine Petit-Senn

Meine Schwiegermutter Frieda Ryklik war Lehrerin. Nicht nur im Berufsleben vor ihrer Pensionierung, sondern auch mit Herz und Seele in der Familie. Zu Gesprächen, Erlebnissen und Ereignissen gab sie ihr Wissen und ihre Meinung kund, jedoch immer auf liebvolle und respektvolle Weise, selbst wenn sie Korrektur der anderen für nötig hielt.

Ihre festen Überzeugungen, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit und Glaubenskraft – das waren für mich ihre hauptsächlichen Eigenschaften. Sie ließ sich in ihrem Vertrauen auf Gott auch nicht beirren, als ihr Ehemann im Februar 2007 durch die gleiche tückische Krankheit von ihrer Seite gerissen wurde, die nun auch zu ihrem Tod geführt hat. Ihre Glaubensfestigkeit hielt in ihren letzten zweieinhalb Jahren ohne ihren Mann. Ihr Glaube war sogar stark genug für die letzten zehn Monate, in denen der Krebs trotz aller medizinischen Maßnahmen, Gebete und Hoffnungen, Glaubensschritte und -bekundungen rapide ihren Körper vernichtete. Die letzten Wochen ihres Lebens waren qualvoll und schrecklich; dennoch hielt Frieda an Gott fest, bis zuletzt.

Viele Menschen hofften, glaubten und beteten mit ihr und für sie, vergeblich. Sie gab auch in ihren letzten Tagen nicht auf. Sie wollte gesund werden, wollte sich nicht von der Krankheit besiegen lassen, hatte noch viele Pläne für die Zukunft, wollte unter anderem nach der Genesung erzählen und berichten, wie sie Heilung am eigenen Leib erlebt hatte.

Ihre und unsere Hoffnung auf einen Sieg über den Krebs wurde am 11. September 2009 in den Morgenstunden vernichtet.

Wir sind sehr traurig. Frieda hinterlässt eine Lücke in der Familie und in unseren Herzen, die nicht zu schließen ist, aber ich bin dankbar für die Jahre, die ich sie kennen durfte, dankbar für die Aufnahme in den Kreis ihrer Lieben, die Freundschaft, die vielfältige Hilfe und Unterstützung, die sie wieder und wieder bewiesen hat.

Uns bleibt nur der Trost, dass Sie nun von den Qualen und Schmerzen erlöst meinem Schwiegervater in eine bessere Ewigkeit ohne Tränen und Leid folgen durfte.

Freitag, 11. September 2009

9/11 - acht Jahre sind vergangen

Der 11. September 2001 ist bis heute vielen Menschen weltweit in schrecklicher Erinnerung, auch ich habe die Stunden nicht vergessen, in denen ich fassungslos die Bilder und Berichte aus Amerika verfolgt habe.

Niemand kann die Uhr zurückdrehen auf die Zeit vor den Anschlägen von Islamisten auf die Demokratie, auf die freie westliche Welt. Man kann aber versuchen, Misstrauen und Hass zwischen Religionen, Kulturen und Völkern zu beseitigen, wo sie uns im Alltag, in unserer Nachbarschaft begegnen. Man kann versuchen, den radikalen Kräften ihren Rückhalt in der jeweiligen (auch eigenen) Bevölkerung zu entziehen, indem Verständnis und Sympathie geweckt und gefördert werden, wo immer es geht. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für viele andere Gruppierungen, die Hass schüren und auf Terror aus sind.

Es kann tatsächlich jeder von uns Frieden schaffen helfen, nicht nur Politiker und Aktivisten. Wer seinem Nachbarn, der »anders« ist, mit Freundlichkeit, Achtung und Hilfsbereitschaft begegnet, der tut mitunter mehr zur Vermeidung von künftigen Terrorangriffen als derjenige, der öffentlich große Reden hält.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Donnerstag, 10. September 2009

Sorgfalt bei der Pressearbeit? Nö.

Die Deutsche Presse-Agentur dpa meldete heute morgen um 9:38 Uhr:

Los Angeles (dpa) – In der kalifornischen Kleinstadt Bluewater soll es nach einem Bericht des örtlichen Senders vpk-tv zu einem Selbstmordanschlag gekommen sein. Es habe in einem Restaurant zwei Explosionen gegeben, berichtete der Sender. Die Polizei sei im Einsatz und habe das Restaurant evakuiert. Ob Menschen zu Schaden kamen, sei unklar. Das Restaurant wirkte auf ersten Bildern nicht zerstört. Die Täter wurden von dem Sender als arabisch-stämmig beschrieben.

Um 9:59 Uhr ergänzte die Nachrichtenagentur ihre Meldung mit:

Ein Sprecher der Feuerwehr in der Kleinstadt Bluewater an der Grenze zum Bundesstaat Arizona bestätigte der Deutschen Presse- Agentur dpa, dass es in einem Restaurant zwei Explosionen gegeben habe. Sie hätten sich gegen 2300 Uhr Ortszeit (0800 MESZ Donnerstag) ereignet.

Um dann um 10:06 Uhr alles zu dementieren:

Los Angeles (dpa) – TV-Berichte über einen Anschlag in der kalifornischen Kleinstadt Bluewater scheinen falsch zu sein. Ein Polizeisprecher in Bluewater dementierte, dass es einen Anschlag gab. Vermutlich habe es sich um einen gefälschten Bericht gehandelt.

Passiert ist: gar nichts. Berichte über den Anschlag gibt es nach der Meldung durch die dpa: einige.

Gehen wir auf die Suche nach dem TV-Sender "vpk-tv", der von der dpa als Quelle genannt wird. Wer auf Google oder Bing nach "vpk-tv" sucht, findet den Sender nicht. Vielleicht aber stösst er auf den Wikipedia-Eintrag KPVK-TV, der gestern, am 9. September 2009, angelegt wurde. Dort wiederum findet sich ein Link zur Website vpk-tv.com, wo gleich ein Video in Endlosschlaufe startet, das, was für ein Zufall, ein Selbstmordattentat in Bluewater, Kalifornien zum Thema hat.

In diesem Video tritt eine Nachrichtensprecherin auf, die einen aufgeregten Bericht ansagt, in dem Reporter, Polizisten, Opfer und sogar Täter vorkommen. Es wird erklärt, dass sich eine deutsche Gruppe von Rappern namens "Berlin Boys" in einem Video im Internet zur Tat bekannt hätten. Das Video gibt es tatsächlich, bereits seit gestern ist es auf MySpace und auch auf YouTube zu sehen.

Es fragt sich, warum denn ein "Sprecher der Feuerwehr in der Kleinstadt Bluewater an der Grenze zum Bundesstaat Arizona" der dpa bestätigte, dass es um 23 Uhr Lokalzeit zwei Explosionen gegeben habe. Auf der Website bluewatercity.com steht im Abschnitt "Public Safety" eine Telefonnummer der Feuerwehr (weit wichtiger und grösser darüber die "Mosquito & Vector Control"). Hat der dpa-Journalist diese angerufen?

Leider ist die Domain bluewatercity.com (whois.net) so echt wie vpk-tv.com (whois.net), nämlich gar nicht. Beide Websites wurden am 29. Juni 2009 registriert, lediglich die Adressen und die E-Mails unterscheiden sich, die Fax-Nummer ist sogar die Gleiche.

Doch auch ohne diese Indizien könnte man zum Schluss kommen, dass es diesen TV-Sender gar nicht gibt. Denn aus all diesen Quellen (inklusive den Videos der angeblichen Rapgruppe "Berlin Boys") schreit ein Wort: Fälschung! Es gibt keine Quelle, die tatsächlich für ein einigermassen geübtes journalistisches Auge so aussieht, als wäre sie echt. Auf amerikanischen Nachrichtenseiten ist auch nichts dazu zu finden. In Deutschland hingegen verbreitet sich die Meldung noch immer, der dpa und ihren blinden Kopierern wegen. Als unter Dutzenden herausgepickte Beispiele sind welt.de, morgenpost.de, nordsee-zeitung.de, sz-online.de oder das wiesbadener-tagblatt.de zu nennen.

Auf Twitter produzieren die Nutzer @JFKindling (erste Twitter-Nutzung: 16. Juni 2009), @kimmieblu (erste Twitter-Nutzung: 26. Mai 2009) und @NormanKlein75 (erste Twitter-Nutzung: 23. Juni 2009) die Berichterstattung zum Stichwort #bluewater im Alleingang.

Von dort aus verlinkt wird ein Augenzeugenbericht auf YouTube, angelegt vom Nutzer KindlingerEscapePlan, der bisher noch nie ein Video hochgeladen hatte.

Um 10:48 Uhr, als allen schon klar ist, dass es sich bei der Meldung nur um eine virtuelle Realität handelt, kommt eine weitere dpa-Meldung:

Los Angeles (dpa) – Entwarnung in der kalifornischen Kleinstadt Bluewater: Am späten Mittwochabend (Ortszeit) berichtete der örtliche Sender vpk-tv, es habe einen Selbstmordanschlag in dem Restaurant Artisan Diner gegeben. Die Täter seien arabisch-stämmig.

Nach einer Stunde stand fest, es war ein böser Scherz: Drei deutsche Rapper hätten sich Bombenattrappen umgebunden und seien in das Restaurant gestürmt, um Medienaufmerksamkeit zu erlangen. Die Behörden kündigten ein hartes Vorgehen gegen die Deutschen an, berichtete der Sender.

Ein Sprecher der örtlichen Polizei bestätigte der Deutschen Presse-Agentur dpa, dass die drei Männer festgenommen wurden. Details des Vorfalls seien weiterhin nicht ganz klar. Es habe jedenfalls keine echte Explosion gegeben.

(Achtung Redaktionen: Bei den drei deutschen Rapper soll es sich nach Angaben des Senders um die Berlin Boys handeln. Die weitere Berichterstattung läuft im Ressort Vermischtes)

Warum sich die dpa auch im dritten Bericht noch auf einen "örtlichen Sender" verlässt, den es offenkundig gar nicht gibt, ist ein Rätsel. Ebenso liegt noch im Dunklen, wer der dpa von der angeblichen Festnahme von drei Männern erzählte.

Vor zwei Tagen meldete die dpa, sie wolle sich künftig zunehmend für User Generated Content öffnen. Warum? Das ist doch, wie sich heute gezeigt hat, längst der Fall.

Dieses Lehrstück in Sachen journalistische Sorgfalt gab es heute. Selbst seriöse Medien wie »Die Zeit« fielen auf die Falschmeldungen herein.
Es scheint, dass der Wettlauf um die schnellsten Schlagzeilen im Internet (und damit zur besten Google-Platzierung) zu immer mehr Fahrlässigkeit bei den Journalisten führt.

Posted via web from gjm's posterous

... Nur an Jesus sollte man schon glauben.


Zur Zeit habe ich ein 14tägiges kostenloses Probeabonnement der Berliner Tageszeitung »Der Tagesspiegel« - also eine »richtige« Zeitung, auf Papier gedruckt und so weiter.
Eben fand ich auf Seite 18 der heutigen Ausgabe einen fast ganzseitigen und rundum positiven Bericht über die Berliner »Jesus Freaks«.
Sehr gut recherchiert, sehr fair geshrieben. Lesenswert: Der Tagesspiegel über die Jesus Freaks Berlin

Posted via web from gjm's posterous

Der Berliner und die Kanzler-Direktwahl

Natürlich kann keiner, auch nicht der Berliner, den Kanzler direkt wählen. Aber da es bei der Frage »wen würden Sie wählen« um die Beliebtheit der beiden Spitzenkandidaten geht, offenbart die neueste Umfrage in Berlin erstaunliche Präferenzen.
Dass bei Schwarz & Gelb die Kanzlerin vorne liegt, verwundert ja nicht weiter. Jedoch: Mehr als ein Drittel der Anhänger der SED-Nachfolgepartei und fast ein Drittel der SPD-Freunde würden Frau Merkel vorziehen, und die Grüngefärbten sind halbe-halbe gestimmt.

Kommunisten Linke, Grüne und Sozialdemokraten, die Merkel vorziehen? Nanu? Aber hallo! Irgendwas muss der Herr Steinmeier wohl falsch machen? Oder seine Partei? Oder wie jetzt?

Posted via web from gjm's posterous

Mittwoch, 9. September 2009

Auch kein Patentrezept: Gesund ohne Glauben

Über Sinn und Unsinn von Patentrezepten mit Wirkungsgarantie kann man geteilter Meinung sein.
Die einen lieben solche Rezepte, weil sie reichlich Geld damit verdienen: »Ihr Leben wird sich lohnen, wenn Ihr Penis ein Stück wächst«, »Mit uns wachen Sie gesund auf, auch wenn sie krank ins Bett gehen«, »So bekommen Sie jetzt ein Beförderung«… - einige Beispiele aus dem Spam-Ordner von heute.
Die anderen sind genervt, weil sie wissen, dass derartiger Unsinn nicht zur versprochenen und teuer bezahlten Wirkung führt.
Und dann gibt es offenbar auch noch diejenigen, die auf solche Rezepte hereinfallen – sonst wären die diesbezüglichen Anbieter längst pleite.

Jedoch nicht jeder, der Patentrezepte verteilt, ist ein Gauner. Es gibt zwar einerseits die knallhart kalkulierenden Geschäftemacher, aber es gibt auch diejenigen, bei denen etwas funktioniert hat, und die nun ihr Erlebnis oft genug in gutem Glauben als Rezept anpreisen, das für alle Menschen funktioniert. Auch in manchen christlichen Kreisen findet man solche und solche Rezeptverkünder. Zum Beispiel: »Jede Krankheit wird geheilt, wenn XXX und YYY gegeben sind«. Entweder XXX oder YYY wird in der Regel so umschrieben, dass »genug Glaube« vorhanden sein muss.

Im Johannesevangelium findet sich ein Text, der solche Thesen ad absurdum führt. Es gibt weiterte ähnliches aussagende Bibelpassagen, dieser ist jedenfalls schön eindeutig. Kapitel 5, 1-9:
(1) Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. (2) Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; (3) in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. (5) Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. (6) Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? (7) Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. (8) Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! (9) Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat.
Jesus stellt eine ganz einfache Frage, auf die eine ganz einfache Antwort möglich wäre. »Willst du gesund werden?«
Darauf reicht ein simples »Ja« oder »Nein«.
Statt dessen gibt jedoch der Kranke eine längere Erklärung ab: »Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.«
Eine etwas irritierende Antwort auf die einfache Frage, ob der Mann gesund werden möchte oder nicht.

Ach ja, noch etwas ist hier irritierend: Wo ist eigentlich Vers 4 geblieben? Normalerweise kommt in der Bibel nach einem Vers 3 und vor einem Vers 5 ein mit der 4 nummerierter Textteil. An dieser Stelle in den meisten Übersetzungen nicht. Man findet ihn allerdings bei Luther und in der Elberfelder als Fußnote, da steht dann nämlich:
… lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte und warteten auf eine bestimmte Bewegung des Wassers, (4) denn von Zeit zu Zeit kam ein Engel des Herrn und bewegte das Wasser. Und wer danach als Erster ins Wasser stieg, wurde geheilt.
Mit dieser (umstrittenen und deshalb in vielen Bibelausgaben nicht enthaltenen) Ergänzung scheint dann die Antwort des Kranken schon etwas verständlicher zu sein. Er sagt sinngemäß: »Ich würde ja wollen, sonst läge ich nicht hier an diesem Tümpel herum, und wenn du die Umstände kennen würdest, hättest du nicht solch eine komische Frage gestellt. Man muss darauf warten, dass da ein paar Wellen schwappen und dann der erste im Wasser sein. Ich habe einfach keine Chance, und je länger ich hier krank herumliege, desto schwächer werde ich.«

Das Ganze ist schon eine absonderliche Episode im Johannesevangelium. So eine Art Wettlauf: Der erste wird geheilt, egal welches Gebrechen ihn plagt, der Pokal für den besten Sprinter ist Gesundheit. Silber- und Bronzemedaillen gibt es leider nicht. (Manch ein Theologiegebäude müsste bei solchen Texten in sich zusammenstürzen.)

Doch zurück zum Gespräch am Teich. Wie mag der Kranke sich gefühlt haben? 38 Jahre wartet er krank in Betesda, mit der Hoffnung, dass ihn irgendwann jemand freundlicherweise als ersten ins Wasser trägt. Pustekuchen, wer von den Kranken laufen kann, wird selbst lossprinten, sobald sich da etwas im Teich bewegt – schließlich liegt hier niemand aus Barmherzigkeit auf der Lauer, sondern weil er selbst ein Leiden hat.
Und nun kommt dieser Unbekannte und fragt den Mann, ob er geheilt werden möchte oder nicht.
Eigentlich eine angesichts der Situation ziemlich unangebrachte Frage, auf die man nicht unbedingt überhaupt antworten muss. Vermutlich hat er aber aus der Stimme des Fragenden Mitleid, Anteilnahme herausgehört, womöglich hat er das auch als Motivationsversuch eines Unwissenden verstanden: »Reiss dich mal zusammen, warum liegst du hier nach 38 Jahren immer noch krank herum?«
Daher seine defensive Erklärung, die man ihm ja nicht vorwerfen kann: »Hey, Moment mal, mich trägt ja keiner runter zum Wasser und bis ich selbst hingekrochen bin, ist es zu spät. Ich habe es tausendmal versucht, aber es hat nie geklappt.«
Er bittet mit seiner Antwort um Verständnis, um Nachsicht mit seiner Situation, die er vermutlich nicht (durch ungesunden Lebenswandel oder ähnliches) verschuldet hat – und die er auch nicht ändern kann. Die Regeln sind ja nicht auf seinem Mist gewachsen: The winner takes it all. Es fehlt dem Mann, und auch das ist ihm nicht vorzuwerfen, an Vorstellungsvermögen bezüglich dessen, was Jesus ihm hier anbietet.
Aus dem weiteren Bericht im Evangelium geht hervor, dass der Kranke keine Ahnung hat, wer ihm diese unpassende Frage stellt. Er wird später gefragt, wer ihn denn geheilt hätte. »Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war«, heißt es in Vers 13.

Der Kranke ist völlig außer Stande, zu verstehen, dass derjenige, der vor ihm steht, das lebendige Wasser ist, dass gar keine Notwendigkeit besteht, auf jenen ominösen Wasserengel zu warten und dann blitzschnell in den Teich getragen zu werden.
Daher sagt er weder ja noch nein auf die einfache Frage, ob er geheilt werden möchte.
Der Mann besitzt mit Sicherheit keinen Glauben an seine Heilung oder an die Vollmacht des Fragenden. Vielleicht hofft er, dass dieser kräftige und dem Augenschein nach gesunde Mann ihn ins Wasser trägt, aus Mitleid, aber da sich dort gerade nichts bewegt, ist das aussichtslos. Man muss ja den richtigen Wellengang abwarten.
Andere Anwesende haben ebenfalls keinen Glauben. Womöglich hören andere Wartende der Unterhaltung zu, heißt es doch im Text dass »viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte« am Teich liegen, als Jesus dort vorbeikommt. Dass irgend einer von ihnen Jesus ge- oder erkannt hätte, davon ist nicht die Rede. Also ist hier, soweit es um Glauben geht, absolute Ebbe. Oder Flaute, um beim bewegten Wasser zu bleiben.

Das überraschende an dieser Situation ist, dass Jesus ihn trotzdem heilt – obwohl oder weil er weiß, dass dieser Mann gar nicht über die Möglichkeit verfügt, eine einfache Antwort »ja, ich will gesund werden«, zu geben.
Jesus heilt ihn darüber hinaus ungefragt. Weder der Kranke noch sonst jemand hat darum gebeten. Niemand hat den Mann zu Jesus gebracht mit dem Wunsch, dass er ihn gesund machen würde.

Es geht im Johannesevangelium an dieser Stelle gar nicht so sehr um diese Heilung, sondern um den zweifachen Tabubruch: Der Mann trägt seine Matratze am Sabbat nach Hause und wird prompt damit erwischt. Aufgefordert zu diesem Gesetzesverstoß hat ihn derjenige, dessen Namen er nicht einmal erfragt hat und der jetzt verschwunden ist. Jesus hat wieder einmal die eisernen Gebote seiner Religion verletzt (indem er am Sabbat heilt) und noch dazu jemanden angestiftet, ein Gesetzesbrecher zu werden (indem er ihm aufträgt, die Matratze mitzunehmen, wenn er geht).

Auf etliche Fragen gibt dieser Text keine Antworten her:
  • Wieso wird nur dieser eine Mann geheilt, wenn dort »viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte« am Teil liegen?
  • Wie haben sich diejenigen gefühlt, die Jesus krank am Teich hat liegen lassen?
  • Kann dieser ominöse Engel, der gelegentlich eine Heilungslotterie in Form eines Wetterennens zum Teich veranstaltet, eigentlich ein Engel Gottes sein?
  • Wenn ja, ist das gerecht?
Aber eine Frage beantwortet der Text immerhin:
  • Muss man selbst, muss irgendjemand unbedingt Glauben haben, damit eine Heilung geschieht?
Wenn dir jemand wieder mal das Patentrezept zur Heilung anbietet, in dem Glaube als Verordnung vorkommt, dann ist die Antwort ein klares, lautes und unmissverständliches »Nein!«

Das heißt natürlich nicht, dass Glaube schädlich oder einer Genesung hinderlich wäre. Es heißt nur, dass es nicht an deinem mangelnden Glauben liegt, wenn das Patentrezept versagt, wenn du krank bist und auch bleibst.

Bildquelle: Hungertuch Betesda von Sieger Köder

Dienstag, 8. September 2009

Innehalten

Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen. -Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen

Montag, 7. September 2009

Montagmorgen

...................(..........(.......(
......................)..........).......)
....................(..........(.......(
......................)..........).......)
.............. GUTENMORGENG
.............. UTENMORGENGU###
.............. TENMORGENGUT___##
............... ENMORGENGUT ____##
................ ENMORGENGU__###
................. TENMORGEN
.................. GUTEN MOR
................... GENGUTEN
....... kaffeekaffeekaffeekaffeekaffee
_._...-+*°*+-._.-+*°*+-._.-+*°*+-.._._

Samstag, 5. September 2009

Eindrücke aus der Lesung mit Nadia Bolz-Weber

Um Ironie zu erkennen – ob sarkastisch (also beißend spöttisch) oder nicht –, müssen verschiedene Teile des Gehirns zusammenarbeiten. Wenn jemand die soziale Situation nicht versteht (beispielsweise wegen einer Beschädigung der vorderen Gehirnlappen oder wegen fehlender Übung bzw. Intelligenz), kann er Ironie – und damit auch ironischen Sarkasmus – nicht als solche(n) identifizieren. (Wikipedia)
Ironie und Sarkasmus sind nicht jedermanns Sache, aber gelegentlich mag es keinen anderen Ausweg geben, wenn man nicht verzweifeln möchte. Nadia Bolz-Weber, deren Lesung mit anschließender Diskussion ich kürzlich besucht habe, erklärte, wie sie reagiert hat, als ein Verlag das Ansinnen vorbrachte, sie möge sich 24 Stunden dem Programm eines evangelikalen (im amerikanischen Sinne) Bibelfensehsenders aussetzen und dann darüber ein Buch schreiben:
I suggested that perhaps the Geneva Convention might address making a person do this sort of thing, right after the paragraph on waterboarding, but then I agreed to it because, well, it was about the weirdest thing someone had asked me to do in a while, so how could I say no?
Die Autorin ist lutheranische Pfarrerin in Amerika, aber alles andere als eine »normale« Geistliche. In ihrer Kirche in Denver versammeln sich, so erzählte sie, Menschen, die zu 85% keine Kirche besuchten, bevor sie zu eben dieser Gemeinde fanden. Menschen, die anderswo nur Ablehnung, Verachtung und Verletzung von Christen erlebt haben. Nadia Bolz-Weber erzählte, dass sie gelegentlich überrascht (und sehr dankbar und erfreut darüber) ist, dass auch »ganz normale« Familien kommen und bleiben, die der typischen amerikanischen Mittelschicht angehören.

In ihrem Buch Salvation on the small screen? schildert sie die 24 Stunden, in denen sie (mit Freunden und Bekannten, die jeweils für eine oder zwei Stunden kamen) das Programm verfolgt hat, das der Sender TBN ausstrahlt. Dabei wählt sie Ironie und Sarkasmus als Stilmittel, weil ihr nichts anders übrig bleibt angesichts dessen, was sie sieht. Paula White zum Beispiel, eine Art Barbie-Puppe, die stilvoll ihre aufgeklebten Fingernägel zur Geltung bringt, während sie den Zuschauern ihre Philosophie (oder Theologie?) erklärt: »What do you do when life throws you a curve ball? You hit a home run!«

Nadia Bolz-Weber liest vor:
Much to my delight, Paula White is next. The last time I watched her show, her talk was entitled, "Why God Wants You Wealthy." White is a mega-church "pastor" along with her (soon to be second ex-) husband, "Bishop" Randy White.
After years of seminary I find myself getting a tad indignant about people taking the title "pastor", much less "bishop" with all the consideration and credentialing one might use choosing a chat room screen name.
Immer wieder in den 24 Stunden sind 30 Sendeminuten mit einer Schein-Talk-Show nur dazu da, dass die Zuschauer die regelmäßig eingeblendete Telefonnummer anrufen, um das jeweilige Geschäft anzukurbeln. Ob nun Hill$ong-CDs, Bücher oder kitschige Gemälde verkauft werden sollen, das Muster ist immer gleich. Es gibt auch eine Telefonnummer für Aufkleber mit einem durchgestrichenen Teufel, die man sich unter die Schuhsohlen kleben soll, um auf diese Weise die »Mächte der Finsternis« zu zertrampeln. Die Aufkleber sind kostenlos, aber sie kommen nur mit einem Buch zusammen zum Versand...

Nadia Bolz-Weber schildert anschaulich anhand mehrerer Beispiele, wie hinterhältig den Zuschauern das Geld aus der Tasche gezogen wird, wie fahrlässig Reichtum und Gesundheit versprochen werden von Fernsehstars, die wohl niemals denen Rede und Antwort stehen werden, die arm bleiben (oder durch großzügige Spenden werden), deren liebste Angehörige an einer Krankheit sterben, obwohl alle alles richtig, entsprechend »God's way«, gemacht und geglaubt haben.
What's so disturbing is that TV preachers can dispend these magic formulas for health and wealth, tell people that this is "God's way," and yet never be interrupted by the raised hand of someone who says, "I do all of the things you were saying but I'm still depressed" - or poor, or not speaking to my sister, or feeling as though God has abandoned me. This medium allows Paula White and her fellows, to some extend, to ignore the real, lived, complicated experience of people.
The irony of Paula White telling this story about counseling folks in problematic relationships while in the midst of a divorce from "Bishop" Randy White, her second divorce, is not at all lost on us.
Nun wäre das Buch einseitig zu nennen, wenn es sich ausschließlich um beißende Kritik am Fernsehprogramm von TBN handeln würde, aber Nadia Bolz-Weber geht einen (wie ich meine notwendigen) Schritt weiter: Sie stellt nicht in Frage, dass auch in solchen gespenstischen Shows wie Benny Hinns Sendung Gott Menschen berühren kann. Sie schildert, dass sie selbst zwar von dem meisten, was sie in den 24 Stunden sieht, abgestoßen ist, aber sie weist deutlich darauf hin, dass sie nicht das Maß aller Dinge ist.
If God can work through someone as broken and imperfect as me, then he can surely do the same with people like Paula White, although I think she is totally crazy. When it comes to God's grace, then I stop all irony and sarcasm. Because I believe that God offers his grace freely and without restrictions, I also believe that he can do such through these TV preachers, else he couldn't use me for his kingdom either.
Für mich wurde die Autorin gerade durch diese Einsichten in die eigene Unvollkommenheit um so glaubhafter, aufrichtiger. Sie erzählte von ihrer langjährigen Freundschaft mit einigen evangelikalen Christen, deren Meinung und Theologie (soweit vorhanden) sie zwar nicht teilt, die aber genau wie Nadia Bolz-Weber von ganzem Herzen an Jesus glauben und die Menschen lieben.

In der an die Lesung anschließenden Gesprächsrunde berichtete sie, wie es zur Gründung ihrer emergenten Kirche in Denver kam und was sich dort seither entwickelt und ereignet hat. Sie beantwortete die Fragen aus dem Publikum offensichtlich gerne und ausführlich, auch dabei blieb sie sich selbst gegenüber kritisch.

Mein Fazit: In manchen Punkten bin ich anderer Meinung als die Autorin, aber das ist normal und auch gut so. Ihr Vortrag war lebendig und unterhaltsam, und etliche Gedanken werden mich weiter begleiten. Ein gelungener, bereichernder Abend, der sich gelohnt hat. Nadia Bolz-Weber ist eine intelligente und humorvolle Autorin und Pastorin, ich werde ihren Blog im Auge behalten und das Buch ist bei Amazon bestellt.
Die gastgebenden Baptisten hatten reichlich Bier (lecker!) und Bionade (igitt!) bereitgestellt, der Raum war kreativ dekoriert und wir wurden liebevoll empfangen und verabschiedet.
Am Rande lernte ich noch zwei Menschen kennen, die zu meinen regelmäßigen Blogbesuchern zählen - jetzt kenne ich wieder zwei Gesichter mehr zu den Namen, die in den Kommentaren auftauchen.

P.S.: Ich habe zum Teil aus dem Kopf zitiert - das mag nicht immer akkurat gelungen sein.
P.P.S.: Die Zitate habe ich nicht übersetzt, weil ich zu faul war.
P.P.P.S.: Auf dem Weg zur Lesung hörten wir im Auto den unvergleichlichen Tom Waits, unter anderem mit Jesus gonna be here soon. Das passte im Nachhinein ganz hervorragend zum Abend.