Nun gut, das Warten hat lange genug gedauert, zumindest für die ungeduldigen unter den geschätzten regelmäßigen Blogbesuchern. Hier ist sie nun, die Fortsetzung.
Allerdings nicht so, wie eigentlich geplant. Das liegt daran, dass diese Geschichte mitunter eigenwillig ist, sich meinen Plänen widersetzt und unvorhergesehene Wendungen nimmt.
Im Verlauf der Woche sah ich bei meinem mittäglichen Spaziergang, wie aus einem Tanklastzug mit Flüssiggas die außerhalb des Gebäudes der Hofpfisterei in Berlin Neukölln liegenden Tanks befüllt wurden. Wozu dieser Anblick geführt hat, ist hier zum Teil nachzulesen, zum Teil der Entscheidund der Leser überlassen – das wird sich anhand der Abstimmung entscheiden.
Zuvor für diejenigen, die ihre Erinnerung angesichts der langen Erzählpause auffrischen möchten, noch diese Hinweise: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9] [Teil 10]
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Am Abend verließen wir Budweis und machten uns auf den Weg nach Berlin. Ich wollte nach Hause, mein Aufenthalt in Tschechien hatte unfreiwillig bereits vier Tage länger gedauert als ursprünglich geplant. Bei meinem Broterwerb spielte das keine Rolle, da ich Aufträge für Artikel in Zeitschriften je nach verfügbarer Zeit und oft genug nach Lust und Laune annahm, gab es keinen Arbeitsplatz, an dem ich hätte erscheinen müssen. Meinen E-Mail Posteingang hatte ich durchgesehen, es gab drei Anfragen, die nicht sonderlich eilig waren. Reizvoll schien mir nur eines der drei Projekte: ein deutsches Nachrichtenmagazin plante eine Serie über Religionsgemeinschaften in Deutschland und hatte mich gefragt, ob ich in Berlin in den nächsten drei Monaten ein paar ausgewählte Gruppen kennenlernen und dann darüber schreiben wollte. Ich hatte mein Interesse bekundet und sollte nun in den nächsten Tagen Details erfahren.
Jessika saß auf dem Beifahrersitz und blickte sich vergnügt um, als wir die Stadt verließen. »Irgendwie ist Budweis doch eine sehr liebenswerte kleine Stadt«, erklärte sie, »und es gibt kaum einen Ort, an den ich so gerne so oft zurückkehre.«
»Wo hast du denn noch überall Wohnungen?«
»In Berlin, das ist mein Hauptwohnsitz, in Amsterdam, und natürlich auch in der Heimat unserer Art, in einem kleinen Dorf dort besitze ich ein unscheinbares Haus, dem niemand ansieht, welche ausgedehnten unterirdischen Räume sich darunter erstrecken. Die gehören mehreren meiner Nachbarn und mir zusammen, wir sind da eine kleine Kolonie. Ach ja, und in Amerika habe ich auch noch eine Wohnung, die ist aber vermietet. Wenn ich in den USA bin, suche ich mir lieber schöne Hotels aus.«
»Und wie viele Reisepässe oder Ausweise besitzt du?«
»Zur Zeit …« - sie schaute in ihre Handtasche - »… vier Stück. Ich bin im Augenblick wahlweise Tschechin, Deutsche, Italienerin oder noch mal Deutsche. Ich heiße Bedja, Barbara, Angela oder Elke.«
»Alles, bloß nicht Jessika.«
Sie kicherte und fragte: »Wer würde denn unter seinem echten Namen reisen wollen, wenn es unendlich viele Alternativen gibt?«
»Ich zum Beispiel. Ich bin am liebsten ich selbst. Allerdings habe ich auch nur einen einzigen Ausweis beziehungsweise Pass.«
»Das kann man ja ändern.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine falsche Identität.«
»Noch nicht«, gab sie zurück.
Worauf ich mich da eingelassen hatte, wusste ich selbst nicht genau. Es war klar, dass die Nephilim, Jessika eingeschlossen, mir weit überlegen waren. Sie lebten augenscheinlich als normale Menschen unter uns, verfügten neben ungeheuren Körperkräften über Geld ohne Ende, Zugang zu beliebigen Identitäten und, soweit ich das bisher abschätzen konnte, hatten sie Einfluss bis in höchste Regierungskreise. Befand ich mich in Gefahr? Konnte ich sicher sein, dass dieses mörderische Wesen in meinem Auto mir freundlich gesinnt war und blieb? Wir sind nicht einschätzbar, nicht von euch Menschen und auch nicht von unseresgleichen – das hatte Jessika kürzlich gesagt, als sie von dem Anschlag der Greisin auf mein Leben berichtete. Ich musste also mit allem rechnen.
Eigentlich hatte ich mich, wenn ich die Angelegenheit nüchtern betrachtete, bereits in Jessika verliebt, als sie noch mein virtuelles Geschöpf war, nur eine ersonnene Figur in meinen Erzählungen. Da man sich als Autor mit einigermaßen klarem Kopf aber nicht in eine Protagonistin verliebte, hatte ich sie am Ende der Italien-Erzählung beseitigen wollen, aus der literarischen Welt schaffen, eliminieren. Und dann war sie mir im Verlauf der letzten Absätze entwischt, um unvermittelt in meinem Urlaub als leibhaftiges Wesen aus Fleisch und Blut wieder aufzutauchen. Ich hatte die Kontrolle verloren, jetzt war ich derjenige, mit dem etwas geschah, anstatt selbst die Handlung zu bestimmen.
Der Duschkabine hatte ich am Morgen bereits mitgeteilt, wie sich das anfühlte, jetzt formulierte ich es etwas weniger drastisch: »Es gefällt mir nicht, wenn ich Ereignissen hilflos ausgeliefert bin. Das gefällt vermutlich keinem Menschen, zugegeben, aber seit du in meinem Leben aufgetaucht bist, als – wie soll ich sagen – als echtes Wesen, seitdem habe ich den Eindruck, dass ich nur noch eine Marionette bin.«
»Nein nein«, widersprach Jessika leise, »das stimmt nicht. Du kannst mich jederzeit wegschicken, loswerden, wenn du das willst.«
»Das will ich nicht.«
»Dann bin ich froh. Aber wo liegt dann das Problem?«
Ich überlegte, wie ich mich verständlich ausdrücken konnte. Ein Empfinden in Worte zu fassen ist ja nicht immer die leichteste aller Übungen.
Schließlich fragte ich: »Wenn ich dich behalten will, dann kommt unweigerlich irgend ein Ritual oder so etwas auf mich zu, was mich mit dir, oder mit den Nephilim an und für sich, verbinden soll. Ich soll oder muss, so hast du gesagt, den Bund annehmen. Ist das richtig?«
»Es bedarf einer Willenserklärung, ja. So ähnlich wie eine Eheschließung bei euch Menschen, mit Zeugen und so weiter. Aber es passiert dabei nichts, was dir schaden könnte.«
»Und einfach so mit dir leben, ohne diesen Akt, das geht nicht?«
»Das würde ich nicht überleben dürfen.«
»Warum nicht?«
Jessika zündete uns zwei Zigaretten an und blieb ein paar Minuten stumm. Dann holte sie tief Luft, als müsse sie Mut schöpfen.
»Van Morrison hat in seinem Song Summertime in England, den kennst du sicher, sehr eindrücklich und ausdauernd erklärt: It ain’t why why why why why … it just is. In dem Lied geht es um etwas ähnliches.«
Ich kannte den Song, auswendig sogar. Am besten gefiel mir nach all den Jahren immer noch eine Version, die Van Morrison seinerzeit live in der Grugahalle in Essen vorgetragen hatte.
Jessikas Stimme klang bedrückt, als sie sagte: »Es gibt Gesetze, denen alle Geschöpfe unterworfen sind. Wir müssen zum Beispiel genauso sterben wie ihr Menschen, obwohl unsere Lebensspanne erheblich länger ist. In jenen Tagen waren die Riesen auf der Erde, und auch danach, als die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren – so drückt es die Bibel aus, wir sind Nachkommen jener Verbindungen, haben es in Jahrtausenden nach unserer beinahe vollständigen Vernichtung gelernt, unauffällig unter euch Menschen zu leben, wobei uns die Tatsache hilft, dass unsere Körpergröße längst der menschlichen entspricht, aber wir sind bedroht, ständig bedroht. Die Gesetze, von denen ich spreche, schützen uns. Was meinst du, was mit uns geschehen würde, wenn die Wissenschaftler irgendwann herausfänden, wer wir wirklich sind? Wir sind mächtig, wir haben Geld und andere Ressourcen, aber bei einer Treibjagd auf die Nephilim würden wir unterliegen.«
»Aber«, warf ich ein, »es dürfte doch klar sein, dass ich nun wirklich keine Gefahr darstelle, auch wenn ich diesen Bund mit dir oder euch nicht eingehe.«
»Gesetze. Ewige und unverbrüchliche Gesetze.«
»Und ich würde mich den Gesetzen der Nephilim, die ich noch nicht einmal kenne, mit diesem Bund unterwerfen. Gibt es eigentlich ein Buch oder so etwas, in dem die Regeln stehen?«
»Ja. Nein.«
Ich entsorgte die Kippe aus dem Seitenfenster und brummte: »So.«
Jessika legte ihre Hand auf meinen Arm und streichelte liebevoll meine Haut. »Es gibt viele Bücher, in denen Teile der Wahrheit stehen, gut vermischt mit jeder Menge Blödsinn.«
»So.«
»Und wenn du rechts die nächste Tankstelle siehst, könntest du mal anhalten. Es gibt dort etwas zu erledigen. Außerdem ist es die letzte vor der Grenze, falls du noch preiswerte Zigaretten kaufen möchtest.«
»So.«
»Wenn du jetzt noch einmal so sagst, dann … äh … dann …«
»Siehst du«, erklärte ich, »vor ein paar Tagen warst du es, die dauernd so gesagt hat. Was du darfst, darf ich schon lange.«
Jessika grinste. »Warum?«
»Weil … weil das eben so ist.«
»Das werden wir an der Tankstelle gleich sehen.«
Ein paar Kilometer weiter sah ich rechts die Leuchtreklame und bog in die Zufahrt ein. Der Tank war noch so gut wie voll, daher hielt ich neben dem Gebäude beim Zugang zum WC. Ich ging davon aus, dass Jessikas Erledigung dort stattfinden sollte. Wir stiegen aus, aber sie ging zum Kofferraum statt zur Toilette. Aus ihrer Reisetasche holte sie eine Pistole und reichte sie mir. Ich griff nicht zu.
»Nun nimm sie schon«, drängelte sie, »wenn du schon lange darfst, was ich darf.«
»Was soll ich mit der Waffe?«
»Ich habe hier einen Auftrag zu erledigen. Den übertrage ich jetzt eben dir.«
»Wieso … was für ein Auftrag? Nein, das geht nicht.«
Jessika sah sich um, aber es war nach wie vor kein Mensch in Sicht. Ob hier irgendwo im Dunkeln Kameras montiert waren, wusste ich nicht, aber ich ging davon aus, dass zumindest die Zapfsäulen überwacht wurden. Wir standen rund 10 Meter von ihnen entfernt.
»Also bleibt es beim Nein?«
Ich fragte: »Worum geht es denn überhaupt? Warum – wer – was soll das?«
»Das muss man nicht wissen, wenn es um die Erledigung dessen geht, was laut Nitzrek zu tun ist.«
»Ich will es aber wissen. Oder weißt du es auch nicht?«
Jessika schaute sich wieder um und erklärte dann: »Hinter diesem Gebäude parkt ein Tanklastzug, gefüllt mit Flüssiggas. Der Fahrer wird im Tunnel an der Grenze einen Unfall verursachen, der Tank wird aufplatzen und es werden zahlreiche Menschen in dem Flammeninferno ums Leben kommen, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Daher endet das Leben des Chauffeurs der tödlichen Ladung hier und jetzt.«
»Nein«, widersprach ich, »wenn dieser Blick in die Zukunft stimmen sollte, dann genügt es, das Fahrzeug an der Weiterfahrt zu hindern. Die Reifen zerschießen von mir aus, aber nicht den Fahrer.«
Jessika schüttelte den Kopf. »Nein. Seine Zeit ist gekommen. Er würde« - sie blickte auf die Uhr - »in zwanzig Minuten am Steuer einen Herzinfarkt erleiden, aber noch miterleben, welches Grauen sein Tanklastzug anrichtet. Und dann eingeklemmt verbrennen, bei noch lebendigem Leib. Das ersparen wir ihm.«
Mir fielen allerlei Gegenargumente ein, man konnte den Mann schließlich ansprechen und von der Weiterfahrt abbringen, sein Fahrzeug lahmlegen, notfalls vor der Tunneleinfahrt mit dem quergestellten Auto die Straße blockieren … doch Jessika ließ mir keine Zeit mehr. Sie hielt mir noch einmal die Waffe hin und sagte: »Jetzt. Du oder ich?«
In diesem Moment glaubte ich, die beste Idee der letzten Tage zu haben. Ich nahm die Pistole entgegen. Es blieb ja mir überlassen, ob und wohin ich damit schießen würde, wenn ich sie erst einmal in der Hand hatte.
»Okay«, sagte ich. »Wo ist der Mann?«
»Er kommt gleich durch diese Tür.«
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So, nun liegt es in der Hand der Blogbesucher, wie es weiter geht:
Es kommt zum ... |
... flammenden Inferno im Tunnel. |
... Tod des Fernfahrers. |
... ach du liebe Güte! Noch viel schlimmeren Unglück! |
Auswertung |
Fortsetzung folgt, wie auch immer …
3 Kommentare:
ei.
hat der Fernfahrer Angehörige?
Man sollte sie schon mal verständigen.
(aktueller Stand: 5:8:5)
... hat er Angehörige oder nicht? Vermutlich weiß Jessika auch das, aber ob sie es verraten würde? Nee aber auch ...
Großartig. Da kam das Internetz ja gerade rechtzeitig wieder bei uns an.
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