Nach den ersten etwa 20 Seiten war ich ziemlich sicher, dass Michael Crichton dieses Buch so noch nicht veröffentlicht hätte. Es las sich (für mich als Autor zumindest) wie eine Rohfassung, die noch einmal zu überarbeiten man sich vorgenommen hat. Aber genau das machte den Roman für mich dann ganz besonders reizvoll. Manche Nebenhandlung ist angerissen, und hätte er an dem Buch noch arbeiten können, wären Michael Crichton sicher seine typischen Spannungsfäden nach allen Seiten hin gelungen. Auch einige Charaktere hätte er sicher noch ausgefeilt, mit Schattierungen versehen und eingefärbt, falls er die Geschichte nicht sowieso nur für sich, nur zum Spaß geschrieben hat. Wir werden es nicht erfahren, ob das Manuskript für die Veröffentlichung vorgesehen war.
Dieses nach seinem Tod in den persönlichen Unterlagen aufgefundene Werk ist alles andere als ein typischer Crichton. Wer so etwas wie »Jurassic Park« oder »Timeline« erwartet, wird nicht zufrieden sein.
»Pirate Latitudes« ist eine typische klassische Piratengeschichte mit allen Elementen, die normalerweise dazugehören, einschließlich Riesenkrake, Hurrikan auf hoher See, Verrat und List, Kannibalen und Schiffsbruch. Zunächst einfach unterhaltsam, dann nimmt etwa ab der Hälfte die Spannung zu, weil vieles sich völlig anders entwickelt, als der Leser zunächst erwartet. Die Spannung steigt immer mehr, und im letzten Drittel möchte man den Roman nicht mehr aus der Hand legen. Man meint immer wieder, aufatmen zu können, und schon bricht das nächste Verhängnis über unseren Gentleman-Piraten Charles Hunter herein. Meisterhaft fabuliert, wie man es von Michael Crichton erwartet.
Für mich machte gerade die etwas »unfertige« Note dieses Buch zu einem nicht nur spannenden, sondern auch interessanten Lesevergnügen. Ich konnte mir selbst ausmalen, was Crichton aus diesem oder jenem Handlungsstrang oder Hintergrund hätte komponieren wollen - sozusagen ein Blick hinter die Kulissen eines leider viel zu früh verstorbenen großartigen Schriftstellers.
In manchen Kritiken auf Amazon zur deutschen Version las ich, dass der Übersetzer wohl einige Formulierungsfehler eingebaut hat, die im Original nicht vorhanden sind. So soll zu lesen sein, dass ein Schiff »kielgeholt« wird oder dass Segel »angeluvt« werden, und auch dass auf einer nur mit Kakteen bewachsenen Insel Holz für die Mastreparatur gesammelt wird, soll in der deutschen Ausgabe stehen. Wenn das stimmt, dann beweist sich wieder einmal, dass es - ausreichende Sprachkenntnisse vorausgesetzt - so gut wie immer besser ist, das Original zu lesen. Von solchen Fehlern ist nämlich dort nichts zu finden.
Mein Fazit: Spannend, unterhaltsam, gut geschrieben. An der Verfilmung (Spielberg, wer sonst!) wird bereits gearbeitet – aber man sollte unbedingt das Buch lesen, denn diese wunderbar verzwirbelte Geschichte passt nie und nimmer ohne Verluste in 90 oder 120 Minuten Film.
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