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Das tat Nikodemus, und er bewies sich als Schriftgelehrter im besten Sinne des Wortes: »Ich selbst sprach zu den Ältesten, Priestern, Leviten und dem ganzen Volke in der Synagoge: Was habt ihr mit diesem Menschen vor? Dieser Mensch tut viele Zeichen und Wunder, wie sie keiner getan hat oder tun wird. Lasst von ihm ab und plant nichts Böses gegen ihn! Wenn die Zeichen, die er bewirkt, von Gott sind, so werden sie Bestand haben; sind sie Menschenwerk, dann werden sie zunichte werden.
Denn auch Moses wirkte, von Gott gesandt, in Ägypten viele Zeichen, die Gott ihn vor Pharao, dem König von Ägypten, wirken hieß. Und es waren da Diener Pharaos, Jannes und Jambres, und diese wirkten auch nicht wenige von den Zeichen, die Moses vollbracht hatte, und die Ägypter hielten sie wie Götter, den Jannes und den Jambres; doch da die Zeichen, die sie wirkten, nicht von Gott waren, gingen sie selbst und die, welche ihnen glaubten, zugrunde.
Und jetzt lasset ab von diesem Menschen! Denn er verdient den Tod nicht.«
Sofort widersprachen die Ankläger und unterstellten Nikodemus: »Du bist ein Schüler von ihm geworden und trittst deshalb für ihn ein.«
Nikodemus, den man nicht zu Unrecht für einen weisen Lehrer hielt, entgegnete ihnen: »Ist etwa auch der Statthalter sein Schüler geworden, so dass er deshalb für ihn eintritt? Hat ihn nicht der Kaiser auf diesen hohen Platz gestellt?«
Da waren die Ankläger ergrimmt – und sprachlos, sie knirschten mit den Zähnen gegen Nikodemus. Eine Antwort fiel ihnen nicht ein.
Pilatus ergriff das Wort, als er ihre Wut sah: »Warum knirscht ihr mit den Zähnen gegen ihn, wenn ihr die Wahrheit hört?«
Die Pharisäer ignorierten den Statthalter und provozierten Nikodemus erneut: »Nimm doch nur seine Wahrheit an und nimm Anteil an ihm!«
Nikodemus nickte bedächtig: »Mit Gewissheit erkläre ich: genau die nehme ich an, wie ihr es gesagt habt!«
Die Menge der Zeugen im Gerichtssaal hielt gespannt den Atem an. Wenn einer ihrer weisesten Lehrer sich so äußerte, dann hatte das Gewicht. Darüber konnte man nicht einfach so hinweg gehen. Der Mut dieses Mannes war bewundernswert, und mit seiner Aussage trat er gleichsam eine Lawine los. Unter den Pharisäern war Nikodemus der einzige, der für Jesus die Stimme erhob, aber einer aus dem Volk, das bisher dem Verfahren mit Bangen und Tränen in den Augen gefolgt war, fasste ebenfalls Mut und bat den Statthalter ums Wort. Pilatus, der noch immer und nach den Worten des weisen Nikodemus um so mehr auf eine Möglichkeit hoffte, Jesus freizusprechen, erwiderte großzügig: »Wenn du etwas sagen willst, so sage es.«
Der Mann erzählte von seinem eigenen Schicksal: »Ich war 38 Jahre durch ein schmerzvolles Leiden ans Bett gefesselt. Und als nun Jesus auftrat, wurden viele Besessene und an mancherlei Krankheiten Darniederliegende von ihm geheilt. Einige Jugendliche hatten Mitleid mit mir, hoben mich samt dem Bett auf und trugen mich zu ihm. Als Jesus mich sah, fasste ihn Erbarmen, und er sprach zu mir: Nimm dein Bett und wandle! Und ich nahm mein Bett und wandelte.«
Die Ankläger sahen ihre Chance und sagten zu Pilatus: »Frage ihn, welcher Tag es war, an dem er geheilt wurde.«
Die Antwort kam wahrheitsgemäß: »An einem Sabbat.«
Nun hatten die Schriftgelehrten, was sie wollten. Sie fragten den Statthalter: »Haben wir dich nicht dahin gehend unterrichtet, dass er am Sabbat heilt und die Dämonen austreibt?«
Ein anderer Zeuge eilte herbei und sprach: »Ich wurde blind geboren, hörte wohl, wenn einer redete, sah aber sein Gesicht nicht. Und als Jesus vorbeiging, rief ich mit lauter Stimme: Habe Erbarmen mit mir, Sohn Davids! Und er hatte Erbarmen mit mir, legte seine Hände auf meine Augen, und ich konnte sogleich sehen.«
Ein weiterer Mann berichtete nun, ermutigt durch die Geduld des Statthalters, von seinem Erlebnis: »Ich war bucklig, und er hat mich durch ein Wort gerade gemacht.«
Wieder ein anderer sagte: »Ich war aussätzig, und durch ein Wort heilte er mich.«
Nun geschah etwas Ungeheuerliches – für damalige Verhältnisse. Es meldete sich nämlich eine Frau zu Wort. Sie trat nicht etwa vor, wie die anderen Zeugen, sondern sie, eine gewisse Veronika, schrie von weitem: »Ich litt am Blutfluss und berührte den Saum seines Gewandes, und der Blutfluss, der zwölf Jahre angedauert hatte, hörte auf.«
Augenblicklich protestierten die Schriftgelehrten: »Wir haben ein Gesetz, eine Frau nicht zum Zeugnis zuzulassen!«
Damit war die Ordnung einstweilen vorbei. Eine Menge Männer und Frauen schrien durcheinander. In all dem Tumult hörte Pilatus die Worte: »Dieser Mensch ist ein Prophet, und die Dämonen sind ihm untertan!«
Pilatus zeigte auf die wütenden Verkläger und fragte das Volk: »Weswegen sind nicht auch eure Lehrer ihm untertan?«
Sie antworten: »Das wissen wir nicht.«
Nun bezeugten auch noch mehrere Menschen, Jesus habe den toten Lazarus nach vier Tagen aus dem Grab auferweckt.
Je länger er zuhörte, was die Augenzeugen, die Geheilten berichteten, desto mulmiger wurde es dem Statthalter. Er begann zu zittern und sagte beschwörend, um Vernunft bittend, zu der gesamten Menge: »Weshalb wollt ihr unschuldiges Blut vergießen?«
Langsam wurde es wieder etwas ruhiger. Pilatus rief Nikodemus zu sich und die zwölf Männer, die gesagt hatten, dass Jesus nicht aus Hurerei geboren sei. Er fragte diesen kleinen Kreis: »Was soll ich tun? Das Volk wird aufrührerisch.«
Sie antworten ihm ehrlich: »Wir wissen es nicht. Das Volk möge selbst zusehen, wie es zurecht kommt.«
Das hatte Pilatus ja schon mehrfach versucht: Den Angeklagten seinen eigenen Volksgenossen überlassen. Alle Versuche waren vergeblich gewesen, denn die Anführer Annas und Kaiphas mit ihren Getreuen bestanden darauf, dass er als römischer Statthalter ein Todesurteil verhängte.
Pilatus ließ wieder die gesamte Menge herein. Ihm war doch noch etwas eingefallen, was als Lösung taugen mochte, denn es war nun einmal seine Aufgabe, einen Aufruhr im Volk zu verhindern. Er erklärte: »Ihr wisst, dass ihr die Sitte habt, dass euch zum Fest der ungesäuerten Brote ein Gefangener freigelassen wird. Ich habe nun im Gefängnis einen wegen Mordes verurteilten, der Barabbas heißt, und diesen Jesus, der vor euch steht, an dem ich keine Schuld finde. Welchen soll ich euch freigeben?«
Ein lautes Geschrei ertönte: »Den Barabbas!«
Pilatus war entsetzt. Ein verurteilter Mörder musste nun freigelassen werden, da konnte er nicht hinter sein eigenes Wort zurück. Er fragte, wohl schon ohne Hoffnung, hier noch etwas Vernünftiges bewirken zu können: »Was soll ich nun mit Jesus tun, den man den Messias nennt?«
Die Wortführer wiederholten, was sie von Anfang an verlangt hatten: »Er soll gekreuzigt werden.«
Einige fügten noch hinzu: »Du bist kein Freund des Kaisers, wenn du Jesus freilässt. Denn er hat sich Sohn Gottes und König genannt. Du willst also diesen zum Herrscher und nicht den Kaiser.«
Nun griffen sie also ihn an? Er sei nicht seinem Kaiser treu, unterstellten sie? Er, der Statthalter, der sich so um Gerechtigkeit bemühte, anstatt wie andere Stadthalter mit Grausamkeit und eiserner Hand zu regieren, wurde nun zum Verräter gestempelt? Pilatus wurde zornig und schrie sie an: »Immer neigt euer Volk zum Aufruhr und ihr widersprecht euren Wohltätern.«
Sie fragen: »Welchen Wohltätern?«
Pilatus bezwang seine Wut und versuchte es noch einmal mit Vernunft. Seine Frau hatte ihm so manches erzählt über den Glauben, zu dem sie gefunden hatte, und auch über die Geschichte dieses Volkes. Er erklärte: »Wie ich gehört habe, hat euer Gott euch weggeführt aus harter Knechtschaft, aus Ägypten, und euch wohlbehalten durchs Meer geleitet wie durch trockenes Land, und in der Wüste ernährte er euch, gab euch Manna und Wachteln, tränkte euch mit Wasser aus Felsen und gab euch das Gesetz. Und nach alledem erregtet ihr den Zorn eures Gottes: Ihr wolltet ein gegossenes Kalb haben und erbittertet dadurch euren Gott, und er wollte euch vernichten; und Moses flehte um Gnade für euch, und so starbt ihr nicht. Und jetzt bezichtigt ihr mich, dass ich den Kaiser hasse.«
Er stand auf vom Richterstuhl und wollte weggehen. Hier musste er nicht weiter verhandeln, die absurde Situation brauchte er nicht fortzusetzen. Er war immerhin der Stellvertreter des Kaisers und vor ihm standen aufgeregte religiöse Führer eines besetzten Landes.
Als die Juden sahen, dass Pilatus sie stehen ließ und fortging, fingen sie an zu schreien: »Wir kennen als König nur den Kaiser und nicht den Jesus. Freilich, die Weisen brachten ihm aus dem Morgenland Geschenke, als ob er ein König wäre. Und als Herodes von den Weisen hörte, dass ein König geboren wäre, da suchte er ihn, um ihn zu töten. Als aber sein Vater Joseph das erfuhr, da nahm er ihn und seine Mutter, und sie flohen nach Ägypten. Und als Herodes das hörte, da ließ er die Kinder der Hebräer, die in Bethlehem geboren waren, umbringen.«
Als Pilatus diese Worte hörte, bekam er Angst. Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und gebot dem Pöbel Schweigen, weil sie noch immer herumbrüllten. Als er sich wieder einigermaßen verständlich machen konnte, fragte er: »Also dieser ist es, den Herodes suchte?«
Sie antworten: »Ja, dieser ist es.«
Der Herodes, von dem hier die Rege war, war inzwischen verstorben, aber seine Schandtaten waren nicht in Vergessenheit geraten. Er entstammte einer wohlhabenden Familie, hielt sich an die jüdischen Riten und Regeln, obwohl er ein Edomiter war. Schon dass er, der Nichtjude, König in Jerusalem war, war vielen ein Dorn im Auge gewesen. Dass er seinen 16jährigen Schwager Aristobulos erst zum Hohepriestern machte und ihn dann nach seinem ersten Auftritt beim Laubhüttenfest im Schwimmbad ertränken ließ, war genauso wenig vergessen worden wie seine mehrfachen Scheidungen und neuen Ehen. Er war mit brutaler Härte gegen die Pharisäer vorgegangen, als diese die nahe Geburt eines Messias verkündet hatten, der statt Herodes König werden sollte.
Inzwischen regierte sein Sohn Herodes Antipas, ein Sprössling aus seiner vierten Ehe, als Herrscher über die Provinz Galiläa. Er stand moralisch seinem Vater nicht viel nach, Johannes der Täufer hatte ihn öffentlich gescholten – und war von Herodes Antipas schließlich umgebracht worden.
Nun wurde in diesem Prozess auf einmal Jesus indirekt die Schuld an den Verbrechen des älteren Herodes zugeschoben. Pilatus sah, dass hier wirklich ein Aufruhr, womöglich von Jerusalem ausgehend im ganzen Volk, zu befürchten war. Er nahm Wasser, wusch sich die Hände vor der Sonne und sagt: »Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten. Da mögt ihr zusehen.«
Wiederum schrien die Juden: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«
Pilatus beachtete sie nicht mehr, er hatte nun genug gehört und gesehen und alles versucht, was ihm einfallen wollte. Jesus selbst schien ja, seinen Worten gemäß, mit einer Verurteilung zu rechnen, anders konnte sich Pilatus die Worte »Moses und die Propheten haben meinen Tod vorherverkündet, und meine Auferstehung« nicht erklären. Selbst der angesehene Nikodemus war mit seinem Versuch gescheitert, dem Prozess eine andere Wendung zu geben.
Der letzte Versuch von Pilatus, für Gerechtigkeit zu sorgen, hatte nur dazu geführt, dass nun Barabbas, ein verurteilter Mörder auf freien Fuß gesetzt werden musste. War es nicht wirklich sinnvoller, dass ein Unschuldiger starb, anstatt nun auch noch einen Aufstand und dessen blutige Niederschlagung durch die Armee zu riskieren?
Pilatus ließ den Vorhang vor den Richterstuhl ziehen, auf dem er saß, und sprach zu Jesus: »Dein Volk hat dich der Anmaßung des Königsnamens überführt. Daher habe ich entschieden, dass du entsprechend der Satzung der frommen Kaiser zuerst gegeißelt und danach am Kreuze aufgehängt werdest in dem Garten, wo du gefasst wurdest. Und Dysmas und Gestas, die beiden Missetäter, sollen mit dir gekreuzigt werden.«
Damit war der Prozess beendet, Jesus verließ das Praetorium, mit ihm wurden die beiden Missetäter, heute würde man wohl eher Verbrecher sagen, abgeführt.
Nach der Kreuzigung bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, aber ein geheimer aus Furcht vor den Juden, den Pilatus, dass er den Leib Jesu abnehmen dürfe. Pilatus hatte nichts dagegen. Josef ging dann unverzüglich zur Hinrichtungsstätte und nahm den Leib Jesu ab, zusammen mit Nikodemus, der zuerst bei Nacht zu Jesus gekommen war und dann mehrfach öffentlich für ihn das Wort ergriffen hatte.
War Nikodemus enttäuscht? Warf er sich vor, versagt zu haben? Oder hegte er eine Hoffnung aufgrund dessen, was Jesus ihm in jener nächtlichen Unterredung gesagt hatte? »Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben habe.«
Nikodemus hatte eine Mischung von Myrrhe und Aloe mitgebracht, wohlriechende Harze, die zum Einbalsamieren von Toten verwendet wurden, ungefähr 32 Liter – eine ansehnliche Menge. Josef und Nikodemus nahmen den Leib Jesu und wickelten ihn in Leinentücher mit den wohlriechenden Ölen, wie es bei den Juden zu bestatten Sitte war.
Es gab an dem Ort, wo er gekreuzigt wurde, einen Garten und in dem Garten eine neue Gruft, in die noch nie jemand gelegt worden war. Dorthin legten sie Jesus, wegen des Rüsttags der Juden, weil die Gruft nicht weit vom Ort der Kreuzigung entfernt war.
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Mehr ist uns über Nikodemus nicht überliefert, aber ich fand, dass es sich lohnen würde, diese Geschichte wieder einmal zu erzählen. Natürlich will ich, wie eingangs versprochen, die Quellen nicht verschweigen.
- Beginn und Schluss basieren überwiegend auf den Berichten im Johannesevangelium, hauptsächlich aus den Kapiteln 3, 7 und 19.
- Ergänzt wurde das mit Hilfe des Artikels bei Wikipedia. [Nikodemus]
- Die Schilderung des Prozesses vor Pilatus findet man im ersten Teil der »Acta Pilati«. Die älteste bekannte Niederschrift wird von Wissenschaftlern um das Jahr 400 datiert. Der Autor »Ananias« behauptet darin, der Text sei ursprünglich von Nikodemus persönlich verfasst und von ihm lediglich ins Griechische übersetzt worden. [Wikipedia über die Acta Pilati]
- [Der griechische Text mit deutscher Übersetzung der Acta Piliati]
Ich wiederhole abschließend, was ich in den einleitenden Sätzen bereits gesagt hatte: Wie viel von diesem Bericht der Wahrheit entspricht, wie viel ersonnen ist, das wollen wir nicht untersuchen. Ich fand die Geschichte spannend und hoffe, meinen Lesern ging es ebenso.
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