»Das ist aber sehr früh nach einer solchen Operation«, wunderte sich gestern abend eine Freundin, als ich in der Pause des Improvisationstheaters erwähnte, am kommenden Montag wieder meine Arbeit aufnehmen zu wollen. »Das ist wirklich sehr sehr früh …« meinte sie.
Damit hat sie ja auch völlig Recht. Am 4. Oktober wurde operiert, nur fünf Wochen ist das her. Aber es ging ja so gut wie alles seit der Operation schnell und ohne große Komplikationen. Von der Blitzerholung mit der vollkommen überraschenden Entlassung schon am fünften postoperativen Tag hatte ich ja hier bereits berichtet. Das »Ausschleichen« des Morphin konnte ich dann auch zügiger gestalten als vorgesehen und meine Leistungsfähigkeit kehrte zügig wieder in einen halbwegs normalen Bereich zurück.
Es gab schwierige Tage, mit gehäuften Schmerzen und Malaisen längst überwunden geglaubter Art, die plötzlich aus heiterem Himmel auftraten. Zum Beispiel die Nervenschäden aus der Chemotherapie an den Extremitäten – am vergangenen Montag, nach einer mit viel Schmerzen im Bauch unruhig verbrachten Nacht morgen waren sie da, als habe ich gerade eine Oxaliplatin-Infusion hinter mir.
Aber. Und darauf kommt es mir an: Aber! Trotzdem aufstehen. Trotzdem Mantel und Schuhe und – ist doch mir egal, was Passanten davon halten! – Handschuhe anziehen und gut behütet mit dem Maisel-Winterhut raus in die stürmisch-nassen Herbsttage. Trotzdem ein Brot essen, ausschließlich aus Vernunft, nicht etwa mit Appetit. Trotzdem das Geschirr aus der Spülmaschine räumen und den Staubsauger in die Hand nehmen. Trotzdem …
Natürlich weiß ich dabei die Grenzen des Machbaren zu beachten. Es war am vergangenen Montag mehrfach notwendig, dass ich mich flach hingelegt habe. Gegen Mittag war auch die Einnahme einer Schmerztablette unumgänglich. Anders hätte ich den Tag nicht überstehen können. Aber Gott sei Dank habe ich ein Gefühl oder Gespür dafür entwickeln können, was der Körper unbedingt braucht und was die Seele gerne aus Bequemlichkeit hinzufügen würde. Nach einer Stunde auf dem Sofa war der Körper so weit ausgeruht, dass ich ohne weiteres wieder aufstehen konnte. Aber andererseits war es ungeheuer kuschelig unter der Wolldecke, bequem in der Rückenlage, und es gab sowieso nichts zu tun, was unaufschiebbar gewesen wäre … in solchen Situationen sage ich mir dann: »Wenn es nicht klappt, wenn ich merke, die Schmerzen nehmen wieder zu, wenn der Kreislauf zusammenzubrechen droht – na dann lege ich mich eben wieder hin. Aber jetzt stehe ich erst mal auf.«
Und genau so gehe ich gedanklich an die Wiederaufnahme meiner Arbeit heran. Wenn ich feststelle, dass ich die Bürostunden nicht durchhalte, wenn sich herausstellt, dass zehn Stunden ohne die Möglichkeit, sich hinzulegen, zu viel ist, na dann habe ich es wenigstens versucht und weiß, dass es zu früh war.
Manche Zeitgenossen wundern sich ja, dass ich nicht so lange wie möglich Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen einreiche, sondern wieder ins Büro will. Aber es ist nun mal so, dass ich meine Arbeit gerne verrichte, dass ich die vielfältigen Kontakte mit genauso vielfältigen Menschen zu schätzen weiß und dass darüber hinaus der Schritt zurück ins Berufsleben gleichzeitig ein Schritt weg vom Krebs ist. Gedanklich. Gefühlt. In meinem inneren Empfinden. Und das innere Empfinden macht eine ganze Menge aus, was das seelische Gleichgewicht in meinem Leben mit einer tödlichen Krankheit betrifft.
Die beste aller Ehefrauen an meiner Seite ist der eigentliche Halt, der wirkliche Grund, trotz aller Umstände die Hoffnung auf ein Morgen nicht aufzugeben. Ohne sie würde ich vermutlich die Kraft nicht sammeln können, nicht sammeln wollen, die Wolldecke beiseite zu legen und die Schuhe anzuziehen, um Herrn Beethoven im Tiergarten einen Besuch abzustatten oder im Botanischen Garten einen Sonnenstrahl einzufangen oder auch im Regen den Mauerweg entlang zu spazieren. Ohne sie gäbe es keinen solch starken Antrieb, dem faulen inneren Schweinehund, der sich so gerne selbst bemitleidet, einen Vogel zu zeigen und mich aufzuraffen.
Also bin ich doch nun wirklich reich beschenkt.
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