Dienstag, 29. April 2014

Was heißt hier »nur«?–Gedanken zu einem Suizid

Wir müssen nicht klagen, dass alles vergänglich sei. Das Vergänglichste, wenn es uns wahrhaft berührt, weckt in uns ein Unvergängliches. -Christian Friedrich Hebbel

Wenn ein Mensch, den man über viele Jahre kannte, den man regelmäßig in der Kirche getroffen und mit dem man die üblichen freundlichen Worte hier und dort gewechselt hat, sich das Leben nimmt, sind Erschrecken und Ratlosigkeit die ersten Reaktionen. Vor allem dann, wenn kein ersichtlicher »Grund« für die Selbsttötung gegeben war. So ist es mir in der vergangenen Woche ergangen.

Bild von rgbstock - http://www.rgbstock.com/photo/2dQ1ISR/AloneErschrecken war die erste Reaktion: Wie kann das sein? In einem (zumindest von außen betrachtet) »heilem« Umfeld, in anscheinend geordneten Verhältnissen? Waren wir, die Mitmenschen, nicht aufmerksam genug? Hätten wir Warnsignale bemerken können und müssen? Sollte man das nicht irgendwie merken, wenn jemandem der Lebenswille dermaßen abhanden kommt, dass schließlich ein konkreter Plan zur Selbsttötung geschmiedet und ausgeführt wird?

Auch Ratlosigkeit stellte sich ein. Die alte, bei Schicksalsschlägen ewig offene Frage tauchte auf: Warum? Sie wird auch in diesem Fall unbeantwortet bleiben. Natürlich gab es Gründe, zumindest für die Person, die das Leben nicht mehr ertragen konnte. Zu beurteilen, ob diese Gründe stichhaltig sind, steht mir nicht zu, dazu wäre ich auch gar nicht in der Lage, denn ich stecke ja in einer anderen Haut als sie. Ich sehe die Gründe nicht, kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. Vielleicht fiele es mir leichter, den Auslöser für den Suizid mehr oder weniger zu begreifen, wenn es offensichtliche, sozusagen handfeste Gründe gegeben hätte: Eine unheilbare, schmerzhafte Erkrankung zum Beispiel oder gewaltige finanzielle Schulden oder irgend etwas Greifbares. Nichts dergleichen hatte es gegeben, nur die Niedergeschlagenheit, die wachsende Depression.

Aber was heißt hier »nur«? Genau das ist der springende Punkt. Wenn es aus dem tragischen Geschehen etwas für mich zu lernen gibt, dann zumindest dies: Eine psychische Erkrankung kann genauso tödlich sein wie eine physische. Und wie verzweifelt ein Mensch im Inneren sein mag, kann man anhand alltäglicher Plaudereien hin und wieder bei einer Tasse Kaffee nicht erahnen.

Für mich bleibt aus dem traurigen Ereignis die Einsicht, dass es gut und wichtig ist, nicht nur jeden neuen Tag bewusst und dankbar anzunehmen, sondern auch den Menschen um mich herum wirklich mit Aufmerksamkeit zu begegnen. So schnell kann jemand, der über Jahre wie selbstverständlich zum Kreis der Bekannten gehörte, nicht mehr da sein. So zerbrechlich ist das Leben. So unvorhersehbar ist die unmittelbare Zukunft.

Sich auf jeden neuen Tag, auf jede Begegnung bewusst einzulassen, sich berühren lassen ... daraus entsteht in uns etwas Unvergängliches, was auch der Tod nicht rauben kann.
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