Samstag, 22. Oktober 2016

Du musst hier raus … – Teil 2

Wir erinnern uns, liebe Blogbesucher, dass wir hier eine Geschichte lesen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und wirklichen Orten – Sie ahnen das ja längst – wären rein zufälliger Natur und sind nicht beabsichtigt. Der erste Teil steht hier: [Du musst hier raus … Teil 1]. So. Und nun geht es weiter:

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Herr Immermüller versprach gerne, wenn es um eine Gehaltsanpassung ging, dass er anlässlich der nächsten Tariferhöhung »sehen werde, was er tun könne«. Er tat allerdings entweder nichts, oder er wollte oder konnte sich bei der Geschäftsführung nicht durchsetzen. Seit Jahren. Eine ehrliche Antwort wäre Johannes Matthäus lieber gewesen: »Ich kann/will keine Gehaltserhöhung für Sie durchsetzen.« Da weiß man dann, woran man ist. Aber dieses »ich werde mal sehen« – über Jahre wiederholt – sorgte natürlich dafür, dass die Glaubwürdigkeit des Herrn Immermüller schrumpfte und schrumpfte.

Johannes Matthäus hatte ihn bereits am 15. Februar 2013 im Rahmen des jährlichen »Mitarbeitergespräches« gefragt, warum er sein Wort bezüglich der Büroaufteilung nicht gehalten hatte. Eine Erklärung fiel dem Vorgesetzten nicht ein. Es sei nun eben mal so gekommen.

86fd213a886411e18cf91231380fd29b_7Ein gesunder Mensch kommt natürlich mit solchen und noch viel schlimmeren Arbeitsbedingungen zurecht. Johannes Matthäus hatte sich vorgenommen, den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu versuchen – falls der Versuch nicht von Erfolg gekrönt sein sollte, würde die Welt nicht untergehen. Und nun war er hin- und hergerissen zwischen Durchhalten und Resignation. Da er aber von seiner ganzen Natur her eher zum Durchhalten und wo notwendig Durchbeißen neigte, blieb er. Er schätzte auch die sehr guten, zum Teil freundschaftlichen Beziehungen zu den Mitarbeitern, die er betreute. Wie wohl in jeder Firma gab es auch im Hause QVL Menschen, mit denen er nicht so gut zurechtkam. Aber bei rund 95 Prozent der Beschäftigten freute sich Johannes Matthäus über ein rundum gutes berufliches Miteinander. Und das wog seinem Empfinden nach doch zumindest einen Teil der Beeinträchtigungen auf, denen er durch die Starrsinnigkeit von Frau Mosdrich und Frau Hirte ausgesetzt war.

Womöglich wäre es ihm angesichts seiner Schwerbehinderung von 60 Prozent gelungen, juristisch einen leidensgerechten Arbeitsplatz durchzusetzen. Den Versuch unternahm er jedoch nicht, da es ihm zutiefst fremd gewesen wäre, gegen einen Arbeitgeber zu klagen.

Im Rahmen der vierteljährlichen Krebsnachsorgeuntersuchungen erfuhr er dann an seinem Geburtstag, dem 23. September 2013, dass zwei Lebermetastasen diagnostiziert worden waren. Johannes Matthäus fand sich von heute auf morgen im Krankenhaus wieder. Es folgte eine fast sechsstündige Operation, die Gott sei Dank erfolgreich verlief. Der Leberkrebs konnte »im Gesunden«, das heißt, ohne dass etwas vom Tumorgewebe zurückblieb, entfernt werden.

Schon sieben Wochen nach der Operation kehrte Johannes Matthäus an seinen Arbeitsplatz zurück. Man mag daran ablesen, dass er seine Tätigkeit mochte, dass er gewillt war, den Kampf gegen den Krebs nicht aufzugeben, sondern ein so normales Leben wie irgend möglich zu führen.

Die Situation hatte sich natürlich nicht geändert, die Sitzordnung war die gleiche geblieben, von einem leidensgerechten Arbeitsplatz war keine Rede. Johannes Matthäus versuchte, durch regelmäßige Unterbrechungen seiner Arbeit durchhalten zu können. Er ging dann aus dem Büro an einen möglichst ungestörten Ort – häufig eine der Toiletten – und genoss am offenen Fenster ein paar Minuten Licht und Luft.

Am 21. Februar 2014 sprach Johannes Matthäus im Rahmen des Mitarbeitergespräches erneut seinen Vorgesetzten darauf an, dass eine andere Aufteilung des Büroraumes möglich und angesichts der Fatigue notwendig sei. Ohne Erfolg, wenn man das folgenlose »ich will mal sehen, was ich machen kann« nicht als Erfolg rechnen möchte.

Johannes Matthäus hielt durch. Im Frühjahr 2014 reagierte sein Körper auf die Belastungen mit einem Hörsturz, der zu einem chronischen Tinnitus und einem Verlust von 60 Prozent der Hörfähigkeit im linken Ohr führte.

An diesem Punkt angekommen dachte er erstmals ernsthaft darüber nach, seine geliebte Berufstätigkeit aufzugeben, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen oder ganz aufzuhören. Für einen 59jährigen war es natürlich nicht allzu aussichtsreich, auf dem Arbeitsmarkt eine passende Stelle zu finden.

Johannes Matthäus nahm fortan etwas mehr Rücksicht auf seinen Zustand. Er lehnte konsequent alle Arbeitsaufträge ab, die über die Stunden, für die er bezahlt wurde, hinausgegangen wären oder die seine jeweilige Leistungsfähigkeit überforderten. Herr Immermüller hörte nun immer häufiger ein Nein, wenn er kam und sagte: »Könnten Sie noch schnell …?« Es dauerte eine Weile, aber schließlich war dem Vorgesetzten klar, dass Johannes Matthäus jetzt feste Grenzen setzte.

Es soll sich nun an diesem Punkt der Erzählung kein falsches Bild in den Köpfen der geschätzten Leser festsetzen. Herr Immermüller und Johannes Matthäus kamen gut miteinander aus. Sie kultivierten ein freundlich distanziertes berufliches Miteinander, Johannes Matthäus blieb hilfsbereit und kooperativ, aber er ließ sich nicht mehr ausnutzen. Das akzeptierte der Vorgesetzte, die Positionen waren abgesteckt. Beim Abschied rund zweieinhalb Jahre später gingen Herr Immermüller und Johannes Matthäus im besten Einvernehmen und Frieden auseinander – aber so weit sind wir ja noch nicht mit dieser Geschichte.

Es gab Ende 2014 einen vermeintlichen Lichtblick – denn es stand ein erneuter Umzug innerhalb der Firmenzentrale an und Herr Immermüller hatte zugestimmt, dass Johannes Matthäus den Arbeitsplatz am linken Ende des Raumes (mit einer zusätzlichen Fensternische) bekommen würde. Das hätte eine so große Erleichterung bedeutet, dass Johannes Matthäus sogar Hoffnung schöpfte, die Auswirkungen der Fatigue könnten sich nach und nach mildern. Immerhin hatte der Vorgesetzte ja zugestimmt.

Doch auch dieses Versprechen …

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