Mittwoch, 8. Juni 2011

Jessika-die Konfrontation /// Teil 4

Die Abstimmung zur vorigen Folge hatte ja nichts mit dem Fortgang zu tun – aber nun weiß ich, dass nur ein Viertel derer, die sich beteiligt haben, beim Schwimmen grundsätzlich den Körper mit Textilien auszustatten pflegt. Das ist doch auch eine feine Erkenntnis. Falls mich mal jemand von euch beim Baden erwischt, kann ich an der Reaktion vielleicht erkennen, ob der oder die Erwischende zu besagtem Viertel gehört.

Bevor es (mit einer wiederum eher langen Fortsetzung) weitergeht, hier wie üblich der Hinweis auf das, was bisher geschah: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3]

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Um 9 Uhr ging ich hinunter zum Frühstücksbuffet. Ich nahm an, dass Jessika nicht wesentlich früher als ich aufgestanden war. Ob sie frühstücken würde, ob ich sie überhaupt sehen würde, wusste ich nicht, da ich nichts darüber geschrieben hatte. Und selbst wenn – das Experiment musste ja erst noch stattfinden. Es blieb abzuwarten, was der Tag, insbesondere der Mittag bringen würde.

Ich ließ mir das Rührei mit Schinken schmecken und schaute dabei meinen Mail-Eingang auf dem schlauen Mobiltelefon durch. Hier unten im Restaurant war das hoteleigene W-LAN stark genug. Es waren keine persönlichen Mails eingegangen, lediglich Reklame von Amazon und ein paar ähnliche Werbesendungen. Ich schaute bei Facebook nach, was meine sogenannten und wirklichen Freunde zu vermelden hatten. Einer von ihnen hatte endlich seinen Roman »Sabrinas Geheimnis« für den Kindle veröffentlicht, ein paar Wochen zuvor hatte ich mich bei der Abstimmung über zwei Titelbildentwürfe beteiligt – zu meiner Belustigung wählte er dann schließlich ein ganz anderes Bild. Ich beschloss, den Roman zu kaufen, da mir sein voriges Kindle-Buch spannende Unterhaltung beschert hatte. Während ich noch die Bestellung durchführte, was mit dem Mobiltelefon etwas umständlicher war als mit einem PC oder direkt mit meinem Kindle, setzte sich Jessika an meinen Tisch. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und strahlte mich an: »Guten Morgen, Johannes.«

»Moin! So gut gelaunt und schon ausgeschlafen?«

»Allerdings. Warum auch nicht.«

Ich fragte: »Soll ich dir einen Kaffee mitbringen? Oder sonst was vom Buffett?«

»Gerne. Essen will ich nichts, aber ein Schuss Koffein kann nichts schaden.«

Ich stand auf und brachte zuerst zwei Tassen Kaffee zu unserem Tisch, dann ging ich für mich noch Rohlíky, Butter, Wurst und Käse holen.

»Früher«, sagte ich, als ich wieder Platz genommen hatte, »habe ich lauter ungesunde Sachen gegessen. Tomaten, Salat, Gurken, Sprossen sogar.«

»Ich glaube nicht, dass in Tschechien norddeutsches Gemüse auf dem Markt ist.«

»Glaube ich ja auch nicht. Vielleicht hole ich mir ja noch eine Tomate. Nachher.«

Während ich meinen Teller leerte, las Jessika in einer tschechischen Zeitung die neuesten Nachrichten. Es sei nichts sonderlich Aufregendes passiert, erklärte sie mir, ein gewisser Herr Strauss-Kahn halte sich für unschuldig, die deutsche Regierung habe der französischen Wirtschaft unter die Arme gegriffen, indem sie den deutschen Atomausstieg verabredet habe, in den üblichen Krisengebieten herrschten die üblichen Krisen. Und, so erklärte sie erfreut, die Sprossen waren auch nicht für EHEC verantwortlich. Man würde, so las sie, mit der Suche nach der Quelle von vorne anfangen müssen. Sie legte die Zeitung beiseite, füllte unsere Kaffeetassen nach und brachte mir einen Teller mit zwei Tomaten.

»Gerade Männer sollten auf Tomaten nicht verzichten«, erklärte sie mir.

»Ich weiß. Wegen des Krebses.«

Aus ihrer Handtasche kramte sie Zigaretten und Feuerzeug hervor und meinte: »Schön, dass du nicht wegen dem sagst. Ich mag sprachschlampige Menschen nicht sonderlich gerne leiden.«

Sie wartete, bis ich die Tomaten verspeist hatte und steckte dann zwei Zigaretten an, eine reichte sie mir.

»Danke«, sagte ich, »das kompensiert dann die Tomaten.«

»Umgekehrt.«

Wir rauchten genüsslich. Kaum hatten wir die Zigaretten ausgedrückt, war die Kellnerin mit einem frischen Aschenbecher zur Stelle.

Jessika trank den letzten Schluck aus ihrer Tasse und fragte: »Hast du Lust auf einen Altstadtbummel?«

»Gerne.«

»Gehen wir so in zehn Minuten los? Ich hole meine Kamera, ich will ein paar Aufnahmen machen.«

»Und vorher noch mal aufs Klo gehen, prophylaktisch.«

»Wogegen ja nichts spricht, oder?«

»Natürlich nicht. Hier besteht ja wohl nicht die Gefahr, dass du statt zu pinkeln zwei Männer erschießt.«

»Was sein muss, muss sein«, grinste sie und stand auf. »Also in zehn Minuten vor dem Hotel.«

Ob sie das Erschießen von Männern oder das Pinkeln gemeint hatte, blieb mir verborgen.

 

Bis 11:20 Uhr war ich mir nicht sicher, ob mein Experiment funktionieren würde. Wir schlenderten durch die Gassen der bezaubernd schönen Altstadt, Jessika fotografierte, machte auch eine Aufnahme von mit zwischen den Figuren eines Kunstwerkes, wir betrachteten die Auslagen einiger Geschäfte, alles ohne Ziel oder Eile. Um zehn vor halb Zwölf strebte sie dann zügig dem Marktplatz zu.

»Wohin denn nun?«, fragte ich.

Der schwarze Turm in Budweis»Ich hätte Lust, auf den schwarzen Turm zu steigen. Bestimmt hat man da einen tollen Blick über Budweis.«

Ich kannte den Blick, war mehrfach auf dem Turm gewesen. Damit war mein Experiment ja nun gelungen. Wir stiegen nach oben. Es waren kaum Menschen auf den 360 Stufen unterwegs, eine Gruppe von kamerabehängten Japanern begegnete uns, ein junges Pärchen kam uns entgegen. Hinauf wollte gerade niemand, jedenfalls sah ich keine weiteren Personen vor oder hinter uns beim Aufstieg. Oben angekommen gingen wir einmal rings um den Turm und stellten fest, dass wir allein waren, abgesehen von einem blassen, schmächtigen Mädchen, es mochte zwölf Jahre oder jünger sein. Es saß auf einer Stufe und weinte. Der kleine Körper bebte, wenn das Schluchzen stärker wurde. Jessika setzte sich neben das Mädchen und legte den rechten Arm um seine Schultern. Sie flüsterte etwas. Das Kind nickte. Jessika legte ihre linke Hand auf die bleiche Stirn und drehte den Kopf des Kindes so, dass es ihr direkt in die Augen schauen konnte. Sie flüstere wieder ein paar Worte und küsste die Tränen von den Wangen. Ich stand rund drei Meter entfernt und war vor lauter Verwirrung unfähig, irgend etwas zu tun.

Warum sitzt hier ein Mädchen im roten Kleid? Das habe ich nicht gewollt …

Der Blick des Kindes war vertrauensvoll auf Jessika gerichtet, sogar ein leichtes Lächeln erschien endlich auf den Lippen. Wie eine fürsorgliche Mutter ihr Kind tröstet, so behutsam ging Jessika mit der Kleinen um. Das Schluchzen hatte aufgehört, die Tränen waren versiegt. Das Kind erzählte mit leiser Stimme, Jessika hörte zu, nickte, lächelte und strich ihm mit ihrer Hand über die Stirn, den rechten Arm noch immer schützend um den schmächtigen Körper gelegt.

Mit einem plötzlichen Ruck, der Jessikas verborgene Kraft ahnen ließ, brach sie dem Mädchen das Genick. Sie hielt die Leiche im Arm. Ich sah, dass Tränen auf das rote Kleid des Kindes tropften. Jessika drückte dem Mädchen noch einen Kuss auf die Stirn und legte den Körper dann behutsam neben die Balustrade.

»Komm, wir gehen«, sagte sie mit einer müden Stimme, die nicht ihr zu gehören schien. »Ich möchte wieder unten sein, bevor jemand auf den Turm kommt.«

 

Wir saßen am Ufer und schauten den Enten zu, die gemächlich ohne erkennbares Ziel hin- und herschwammen. Ich hatte noch Mühe, mit dem Erlebnis fertig zu werden. Immerhin hatte ich tatenlos zugesehen, wie ein Mensch ermordet wurde. Hätte ich damit rechnen müssen? Die Szene war so friedlich gewesen …

Jessika war bleich, in sich zusammengesunken. Sie starrte auf das Wasser. Ihre Hände waren zu Fäusten verkrampft.

»Die Kinder, die machen mir meine Aufgabe zur Last«, sagte sie schließlich. Es waren ihre ersten Worte, seit wir den černá věž hinter uns gelassen hatten.

»Und wenn du das Mädchen am Leben gelassen hättest?«, fragte ich.

»Dann hätte Jana, so hieß die Kleine, ihre Schmerzen noch ein halbes Jahr lang aushalten müssen, vielleicht noch länger, immer schlimmer, immer unerträglicher, bis sie dann irgendwann qualvoll an ihrem Gehirntumor gestorben wäre.«

»Hat sie dir das erzählt?«

»Nein. Das wusste ich schon, als ich sie in den Arm nahm. Wie fast immer, wenn ich einen Auftrag habe, sehe ich beim Kontakt den Anlass. Sie hat mir nur gesagt, dass sie auf den Turm gestiegen ist, um sich in die Tiefe zu stürzen, aber der Mut hat sie verlassen, weil man ihr beigebracht hat, dass Selbstmörder in der Hölle landen. Das Leiden hier abzukürzen, um dann eine Ewigkeit in einem feurigen Pfuhl zu schmoren, das konnte sie nicht.«

Ich war entsetzt. »Wer sagt denn so etwas zu einem Kind?«

Jessika sah mir in die Augen. »Ihr Menschen, ihr sagt solche Sachen.«

»Ich nicht. Niemals.«

»Ihr Menschen, ihr steuert Flugzeuge in Hochhäuser, baut Konzentrationslager, erfindet Waffen, die ihr gar nicht kontrollieren könnt. Ihr haltet Sklaven, auch heute noch, damit ihr billige Textilien in euren Geschäften habt. Ihr lasst in Afrika Menschen verhungern und kippt hier tonnenweise Lebensmittel auf den Müll. Und zur Beruhigung macht ihr euch ein Bild von Gott, ob er nun Allah heißt oder Jehova, Zeus oder Teutates, das es euch erlaubt oder sogar gebietet so zu handeln. Damit seid ihr die Verantwortung los. Ganz billig. Zu billig.«

Ich sah keinen Anlass, zu widersprechen. Das abgedroschene Argument, dass man nicht alle in einen Topf werfen kann, dass es immer Menschen gegeben hatte, die nicht mitmachten, sogar aufbegehren, war viel zu schal. Die Menschheit hatte über Jahrtausende bewiesen, dass sie zu einem friedlichen und gerechten Leben nicht fähig war. Ich schwieg.

Jessika streckte die Hand ins Wasser, ein Entenküken paddelte eilig herbei. Sie nahm das kleine Wesen behutsam heraus. Endlich sah ich wieder ein Lächeln in ihrem Gesicht. Sie strich dem Küken mit den Fingerspitzen über den Kopf, flüsterte ihm etwas zu und ließ es wieder in den Fluss gleiten.

»Ihr habt Gott nie verstanden«, fuhr sie fort, »aber das ist euch nicht einmal vorzuwerfen. Das kleine Entenbaby versteht mich auch nicht, wenn ich ihm etwas ins Ohr sage.«

»Wenn … also nur mal angenommen …« - ich wusste noch nicht recht, wie ich meine Frage formulieren sollte. Ich war mir der Absurdität meiner Situation bewusst. Ich unterhielt mich gerade mit einem für meine Erzählungen erdachten Wesen, als wäre auch ich eine fiktive Figur in meinem Roman. Ich hatte mit ein paar nächtlichen Zeilen auf meinem Computer den Tod eines zwölfjährigen Mädchens herbeigeführt – was in einem Roman oder einer Kurzgeschichte durchaus zulässig war, aber dies hier war nun einmal eindeutig die Realität.

Und ein Traum ist das übrigens auch nicht. Kein Traum kann so lange anhalten.

Ich setzte erneut an. »Wenn du Nitzrek, der doch so etwas wie ein Gott, oder zumindest ein übernatürliches Wesen ist, widersprechen würdest, dich weigern würdest, einen bestimmten Menschen zu töten, was dann?«

»Sollte Jana denn noch sieben, acht Monate immer grausamer leiden, um schließlich unter größten Qualen aus dem Leben zu scheiden? Fändest du das besser?«

»Das ist jetzt nicht meine Frage. Ich meine das generell.«

»Ich hatte bisher nie einen Anlass zum Widerspruch. Manchmal bin ich sehr traurig, wie heute, aber nur ein einziges Mal fiel es mir schwer, meine Aufgabe zu erfüllen. Da ging es um Bernd, du kennst ja die Geschichte, da du sie niedergeschrieben hast. Es war das einzige Mal in den hunderten von Jahren, die ich jetzt schon auf der Erde lebe, dass ich für einen Menschen so viel empfunden habe. Aber auch bei Bernd gab es keinen Zweifel für mich, dass sein Abscheiden aus dieser Welt richtig war.«

»Ich habe damals aber keinen Grund aufgeschrieben, warum Bernd nicht überleben, nicht mit dir leben durfte. Es war einfach so, dass Jessika – dass du ihm in der letzten Szene die Kehle durchschneidest. Ohne weitere Erklärung.«

»Weil du mich für böse hieltest. Für eine Art tödliche Gefahr. Du hast aus mir so etwas wie ein Monster gemacht.«

Ich nickte. Damals hatte ich geschrieben:

Sie bewegte sich etwas stärker, schneller, als sie spürte, dass sein Orgasmus kurz bevor stand. Im Augenblick der höchsten Lust, schnitt sie ihm mit einer gekonnten und raschen Bewegung die Kehle durch, tief und tödlich, er litt nicht, er begriff nicht einmal mehr, was geschah.

»Du hast es verdient, so glücklich zu sterben.« flüsterte sie und strich ihm liebevoll über die Wangen. »Ich werde noch lange an dich denken.«

Und zwei, drei Absätze weiter hieß es in meiner Geschichte:

Jessika schlenderte über den Kurfürstendamm. Sie dachte an Bernd. Er war ihr schwerster Fall gewesen, denn sie hatte zum ersten Mal erlebt, was wahre Liebe sein konnte. Sie lächelte wehmütig.

»Vielleicht bist du nicht tot, Bernd. Vielleicht denkt sich jemand uns beide aus und holt uns irgendwann wieder hervor für ein neues Leben.«

Ihr Gesicht wurde drohend und hart. Sie blickte mich finster an. »Und wage es ja nicht, nur Bernd zurückzuholen! Wage es nicht!«

Ich speicherte am Freitag, dem 23. April, das letzte Kapitel der Geschichte und stellte die Publizierung im Blog auf Montag, 26. April, 01:01 Uhr ein. Ich las noch einmal die ersten Teile, dann den Schluss. Das bestärkte mich in meinem Beschluss, den Namen Jessika aus meinem Wortschatz zu streichen. Sie hatte mir Angst gemacht, echte Angst. Sie hatte mich fasziniert. Elvis fiel mir ein: You look like an angel, talk like an angel … but I got wise: You’re the devil in disguise.

Die Geschichte hatte sich selbst geschrieben, fast ohne mein Zutun, gelenkt auch von den Leserabstimmungen, aber auf jeden Fall ohne Mühe. Jetzt hatte ich jedoch die Nase voll von Jessika und ihrem Treiben.

Es stimmte, damals war sie für mich ein gefährliches Wesen, ein Monster, etwas sehr Böses. Ich legte meinen Arm um Jessikas Schultern und sagte: »Ich kannte dich noch nicht, oder zu wenig. Ich war noch auf der Suche. Immerhin habe ich deinen Namen dann doch nicht aus meinem Wortschatz gestrichen. Und mit den letzten Sätzen ein wenig vorweggenommen, was jetzt und hier passiert, ohne dass ich es verstehe. Sie blickte mich finster an … - da warst du  doch schon für einen Moment real, anwesend, echt.«

»Ich bin so einsam«, flüsterte sie.

Dann richtete sie sich entschlossen auf, strich sich über das Kleid, als wolle sie die melancholische Stimmung abschütteln. »Es ist gut«, sagte sie, »dass du deinen Hut getragen hast. Die Kameras auf dem Turm sind so hoch angebracht, dass man dein Gesicht auf den Aufnahmen nicht erkennen kann. Dennoch sollten wir Budweis verlassen, bevor die Suche los geht.«

Eine Kamera war mir nicht aufgefallen. Wenn Jessika recht hatte, war es tatsächlich höchste Zeit, abzureisen.

Ich stand auf und fragte: »Bist du sicher, dass da eine Überwachung installiert ist?«

»Alle vier Seiten werden überwacht, die Kameras sind an den vier Ecken über dem Weg um den Turm installiert. Vielleicht war die Anlage nicht in Betrieb, denn Nitzrek würde niemals einen Ort oder einen Zeitpunkt wählen, der mich in ernste Gefahr bringt. Aber sicher ist sicher, ich jedenfalls werde jetzt abreisen.«

Ich hatte es mir wohl etwas zu leicht gemacht mit meinem Experiment, keinen Gedanken daran verschwendet, dass ein solch exponierter öffentlicher Platz für meine Idee so ziemlich der ungeeignetste Ort war. Ich hatte allerdings auch nicht damit gerechnet, dass dort ein zwölfjähriges Mädchen sitzen würde; mir war es nur darum gegangen, herauszufinden, ob Jessika zur aufgeschriebenen Zeit auf den Turm wollte.

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Und nun möchte ich gerne von den Lesern die Entscheidung, wo es mit der Geschichte weiter geht.

Na das ist doch klar:
Wir bleiben in Budweis.
Wir fahren nach Berlin.
Man macht sich ja keinen Begriff.
Auswertung

Fortsetzung? Ist noch nicht geschrieben, folgt aber. Erst mal seid ihr alle dran, ein Mausklick auf die gewünschte Antwort genügt.

Dienstag, 7. Juni 2011

Segen, Salbe, Sammeleimer

Zunächst für die Ungeduldigen, Wartenden, Drängelnden, kurz gesagt die Fans von Jessika: Morgen kommt die Fortsetzung. Sie ist so gut wie fertig.

Den folgenden Text kennen regelmäßige Blogbesucher mit gutem Erinnerungsvermögen bereits, er stammt vom 14. Februar 2009, seinerzeit erschienen unter der Überschrift »Herr K. besucht einen Gottesdienst«. Aus gegebenem Anlass, nämlich dem Abdruck einer leicht gekürzten Fassung in der Zeitschrift Oora und der damit entstandenen niegelnagelneuen Audio-Version sehe ich mich zu einer Wiederholung veranlasst.

Hier die Audio-Version: [Segen, Salbe, Sammeleimer zum Anhören]

Hier der (ungekürzte) Text:

imageDaniel K. fand in seinem Briefkasten eine Einladung zu einem Gottesdienst. Nicht in einer Kirche, sondern in einem »Zentrum«. Herr K. war neugierig, seine Frau eher skeptisch. Also machte er sich eines Sonntags alleine auf den Weg.

  • 09:55 Uhr - Herr K. sitzt auf seinem Platz im Gemeindesaal, da der Gottesdienst um 10:00 Uhr beginnt. Zumindest beginnen sollte, der Einladung nach. Ringsum plaudern Menschen, in den Gängen, im Foyer, durch die Fenster sieht Herr K. Autos in Richtung Parkplatz rollen.
  • 10:00 Uhr - Keine Änderung der Situation. Nichts deutet darauf hin, dass irgend etwas in absehbarer Zeit anfangen würde. Herr K. liest zum vierten Mal den Zettel mit den Veranstaltungshinweisen für die nächste Woche.
  • 10:10 Uhr - Fünf Menschen betreten die Bühne, nehmen hinter Keyboard und Schlagzeug Platz, greifen zur Gitarre oder zum Mikrophon. Nach einer halben Minute stimmen sie ein Lied an. Die Leute im Saal stört das nicht sonderlich bei ihren Gesprächen, Begrüßungen und Plaudereien. Einige, die schon saßen, stehen allerdings auf, Herr K. weiß nicht recht, warum. Vorsichtshalber bleibt er sitzen.
  • 10:15 Uhr - Eine Sängerin auf der Bühne bittet darum, die Plätze einzunehmen, da man nun anfangen wolle. Das Lied wird fortgesetzt. Die Besucher verlassen tatsächlich die Gänge und nun stehen fast alle, den Blick zur Leinwand gerichtet, auf die der Text des Liedes projiziert wird. Herr K. singt leise mit, lässt allerdings einige Zeilen aus. Er versteht nicht, was da steht. Wie kann er etwas singen, was er nicht begreift?
  • 10:26 Uhr - Ein Mann löst die Musiker auf der Bühne ab, um die Anwesenden zu begrüßen und dann das vorzutragen, was auf dem Zettel steht, den Herr K. mehrmals gelesen hat. Auf der Leinwand erscheint der Zettel ausschnittweise im Großformat.
  • 10:36 Uhr - Inzwischen erklärt der Mann auf der Bühne, dass Gott einen fröhlichen Geber lieb habe. Herr K. fragt sich, ob man die Liebe Gottes wirklich so einfach bekommt. Je größer die Summe in der Kollekte, desto mehr wird man geliebt? Nun gut, der Ansager hat das nicht behauptet, es wäre lediglich die logische Schlussfolgerung aus der Ankündigung. Sei's drum, vielleicht soll man jetzt nicht denken, sondern spenden. Der Mann auf der Bühne zitiert nun aus seiner Bibel, dass jeder geben solle, was er sich im Herzen vorgenommen hat. Herr K. hat sich eigentlich gar nichts vorgenommen.
  • 10:40 Uhr - Die Musiker kommen wieder auf die Bühne. Es sei Zeit für die Anbetung, erfährt Herr K., und dass jeder eingeladen sei, auch nach vorne vor die Bühne zu kommen, um dort zu singen. Näher an den Musikern. Oder näher an Gott? Die Sängerin erklärt, dass vorne die Salbung stärker sei. Herr K. bleibt in seiner Reihe, an seinem Platz. Er weiß nicht, was Salbung ist und will auch eigentlich nicht mit Salbe behandelt werden. Einige stellen sich vor die Bühne und bewegen sich im Rhythmus. Heben die Arme hoch. Vielleicht wird die Salbe, die wohl unsichtbar sein muss, so ergriffen? Herr K. ist ratlos.
  • 10:45 Uhr - Es werden Eimer durch die Reihen gereicht, in die der fröhliche Geber nun seine fröhliche Gabe legen darf. Herr K. reicht den Eimer an den Nachbarn weiter, ohne etwas zur Sammlung beizutragen. Er hat ein wenig ein schlechtes Gewissen. Im Kino oder Theater muss man ja auch bezahlen...
  • 11:00 Uhr - Die Musik, die bisher eher poppig-beschwingt war, wird besinnlicher. Es ändert sich allerdings nichts an der Herrn K. außerordentlich verblüffenden Tatsache, dass ein Lied mit dürftigen acht oder zehn Textzeilen durch Wiederholungen und Wiederholungen der Wiederholungen leicht sechs bis sieben Minuten dauern kann. Ob vielleicht nur wenige Lieder zur Verfügung stehen? Aber dann könnte man doch die Zeit des Musizierens auch kürzer gestalten? Oder eine klassische Melodie zu Gehör bringen?
  • 11:10 Uhr - Während die letzten Klänge verklingen, hat der Pastor den Weg zum Rednerpult gefunden. Alle, die immer noch stehen, setzen sich wieder. Herr K. sitzt schon eine Weile. Bevor der Pastor predigt, dürfen einige Menschen über das Mikrophon sprechen. Sie sagen merkwürdige Sätze. Einer erzählt, dass er während des Gesanges eine Blumenwiese gesehen habe, und dass das bedeuten würde, dass Gott die Menschen liebt. Herr K. wundert sich. Womöglich hätte er doch die Salbe abholen sollen, um das nun zu begreifen?
  • 11:20 Uhr - Der Pastor predigt. Herr K. hört zu. Es scheint um Erfolg zu gehen.
  • 11:30 Uhr - Der Pastor predigt. Herr K. beobachtet, wie ein junges Paar ein paar Reihen weiter vorne tuschelt. Der Mann streicht der Frau sanft über die Wange. Muss wohl eine liebevolle Tuschelei gewesen sein.
  • 11:40 Uhr - Der Pastor predigt. Herr K. fragt sich, warum er dabei quer durch die Bibel von einem halben Vers hier über zwei Verse dort zu einem Viertelvers irgendwo anders springt. Vermutlich will er seine Gedankengänge mit einem biblischen Fundament versehen. Herr K. hat Mühe, den Gedankengängen zu folgen.
  • 11:50 Uhr - Der Pastor predigt. Herr K. überlegt, wen er zur Geburtstagsfeier in vier Wochen einladen möchte.
  • 12:00 Uhr - Der Pastor predigt. Herr K. versucht, wieder den Anschluss an die Predigt zu finden. Ihm ist allerdings nicht so ganz klar, was die vom Pastor beschriebene paradiesische Situation mit seinem Leben zu tun haben könnte. Es ist viel von Sieg und Überwindung die Rede, von Kraft aus der Höhe, die dabei hilft.
  • 12:10 Uhr - Der Pastor sagt Amen. Die Musiker kommen wieder auf die Bühne. Menschen, die Gebet oder Segen wünschen, dürfen während der nun folgenden Musik nach vorne kommen. Die Gemeinde steht wieder. Mancher dürfte froh darüber sein, nach so langem Sitzen. Herr K. fragt sich, ob es im Foyer Kaffee geben wird.
  • 12:15 Uhr - Es wird immer noch gesungen. Einzelne, die wohl mit außerordentlichem Mut versehen sind, entfernen sich aus dem Saal. Herr K. zögert. Er will ja nicht unangenehm auffallen.
  • 12:20 Uhr - Die letzten Töne sind verklungen, die Menschen strömen aus dem Saal.
  • 12:30 Uhr - Herr K. hat einen Kaffee ergattert, für 70 Cent. Der Preis ist in Ordnung, findet er. Eine ältere Dame spricht Herrn K. an, ob er zum ersten Mal hier sei. Herr K. nickt. Ob er denn Lust habe, am Mittwoch zum Hauskreis zu kommen, fragt die Dame. Herr K. weiß nicht, was ein Hauskreis ist, aber er schreibt sich Adresse und Uhrzeit auf.
  • 13:00 Uhr - Frau K. fragt ihren Mann, ob ihm der Besuch in der Gemeinde gefallen und was denn der Pastor gepredigt habe. Herr K. runzelt die Stirn. »Nun ja«, murmelt er, »vielleicht war das eine Veranstaltung für Eingeweihte...«

Ob Herr K. einen Hauskreis besuchen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin ist er ja von Natur aus neugierig...

Hier die geniale Zeitschrift, in der diese Zeilen nun gedruckt wurden: [Oora – Die Zeitschrift zum Weiterdenken]

Montag, 6. Juni 2011

Frau Merkel, die neue Weltordnung und das Facebook-Volk

imageEinige meiner Kontakte auf Facebook beweisen mal wieder, dass es mit den Informationen in unserer Informationsgesellschaft nicht überall weit her ist.

Irgend jemand hat ein nach wenigen Sekunden abgehacktes Video auf seine »Wall« gestellt und zügig verbreitet sich der Link nun im Facebook Netzwerk. Frau Merkel wolle eine neue Weltordnung, suggeriert das Filmschnipselchen, und schon ist - je nach Temperament - ein Stöhnen, ein Aufschrei oder ein gequältes Schluchzen in den Kommentaren derer zu lesen, die das bei Facebook weiter verbreiten. Vom Antichrist ist die Rede, vom Untergang des Abendlandes, vom apokalyptischen Ende der Welt gar. Flugs kommt die Offenbarung des Johannes ins Spiel, alternativ auch der Teufel, der die Bundeskanzlerin so offensichtlich heimgesucht und als Sprachrohr missbraucht hat.

Es scheint, dass sich niemand die Mühe gemacht hat, einmal nachzusehen, was Angela Merkel wirklich gesagt hat, in welchem Zusammenhang und auf welche Fragestellung. Dazu hätte man ja lesen müssen – und das ist doch wohl zu viel verlangt.

Diejenigen, die des Lesens kundig sind und von dieser Fähigkeit auch Gebrauch machen, freuen sich darüber, dass die Bundeskanzlerin in der fraglichen Rede deutlich auf die nicht zu akzeptierende Christenverfolgung hingewiesen hat. Ich kann auch nicht umhin, ihr zuzustimmen, dass die Ordnung der Vereinten Nationen, die nach dem zweiten Weltkrieg etabliert wurde, nicht mehr zeitgemäß ist, den politischen und wirtschaftlichen Realitäten angepasst werden muss ... also brauchen wir womöglich wirklich eine neue Weltordnung, denn auf die Konstitution der UN bezieht sich dieser Begriff.

Nun gut, zur Demokratie gehört es auch, dass bei Facebook jeder so gut wie jedes Schnipselchen eines Fernsehbeitrages weiterverbreiten darf, einschließlich seiner Meinung. Es existiert ja kein Zwang, erst zu denken, sich erst zu informieren ... und womöglich ist das auch gut so.

Sonntag, 5. Juni 2011

Schlicht und einfach: Entspannen

Liebe Blogbesucher,

ich habe vier Tage lang ganz einfach nichts weiter getan, als auszuspannen, zu entspannen, oder wie auch immer man das nennen mag.

Im Wasser tummeln, Spaziergänge unternehmen, Bücher lesen, Filme anschauen ...

Mein Blog blieb daher brach, denn die jeweiligen Aktivitäten waren ja bereits samt fotografischen Belegen auf Facebook vermeldet - doch demnächst wird es auch hier wieder etwas abwechslungsreicher zugehen.

Voraussichtlich.

Freitag, 3. Juni 2011

Jessika-Die Konfrontation /// Teil 3

Die Abstimmung fiel knapp aus – aber Jessika ist zufrieden mit dem Ergebnis. Wer noch mal nachsehen will, was bisher geschah, klickt hier: [Teil 1] [Teil2]

Diese Fortsetzung ist etwas länger als gewohnt, aber den meisten treuen Lesern wird das vermutlich ganz recht sein. Eigentlich sollte in diesem Teil 3 bereits jemand zu Tode kommen, aber das Ereignis findet dann erst später statt. Genug Vorrede? Bittesehr:

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»Also gehen wir schwimmen«, erklärte Jessika. »Wenn dies eine Geschichte wäre, würde die Mehrheit deiner Leser das so wollen.«

Müde war ich nicht, und, wie ich zugeben möchte, ein wenig neugierig. Die Jessika, die ich mir ausgedacht und in meinen Erzählungen verwendet hatte, war eine hervorragende Schwimmerin, badete grundsätzlich nackt und hatte ein Muttermal an einer Stelle, die normalerweise durch Textilien verhüllt war. Also erklärte ich mich nun doch einverstanden und wir brachen auf.

»Darf ich wieder dein Ungetüm steuern?«, fragte sie auf dem Parkplatz.

Sie hatte nie im wirklichen Leben meinen Dodge Nitro gefahren, ich kannte sie ja erst seit ein paar Stunden. Die Jessika aus meiner Erzählung hatte ihn in Italien lenken dürfen, aber das war ja eine ganz andere Geschichte und die hatte ich längst erzählt.

»Was heißt hier wieder? Und nein, darfst du nicht. Wir nehmen deinen Mercedes.«

»Dann muss ich noch mal zum Hotel rüber, ich habe den Schlüssel nicht mitgenommen.«

»Ich dachte, mein Auto ist dir zu schmutzig? Alle anderen Autos auf dem Parkplatz seien blitzsauber, und es gäbe auch hier Waschanlagen; das war das erste, was du mir vorhin mitgeteilt hast.«

»The truth can be told«, lachte sie und ich öffnete die Türen. Wir stiegen ein, Jessika auf der Beifahrerseite. Als kenne sie mein Fahrzeug in- und auswendig schaltete sie das Navigationssystem an und gab als Ziel Hluboká nad Vltavou ein.

Sie lehnte sich zurück und ließ mich wissen: »Der muniky rybnik hat kurz vor dem Zoo einen schönen Uferstreifen mit ein paar Bootsrampen, da kann man prima ins Wasser.«

»Ich kenne das Schloss und den See, allerdings war ich dort noch nie im Wasser. Neulich dümpelten am Ufer eine ganze Menge tote Fische, das lädt nicht so recht zum Baden ein.«

»Das Wasser ist okay, und man kann ja hinterher duschen. Im Hotel, meine ich.«

Es war fast dunkel, als wir den See erreichten, in einem letzter Hauch von Dämmerung gingen wir vom Auto zu einer der Rampen, die schräg ins Wasser ragten, breit genug, um mit einem Anhänger ein Boot aus dem See oder in den See zu bringen. Eine hölzerne Bank stand am Rand des Ufers, Jessika entledigte sich dort ohne weitere Umstände ihrer Kleidung und verschwand im Wasser, noch bevor ich Hemd und Jeans ausgezogen hatte.

Ich erinnerte mich an meine Erzählung, in der die fiktive Jessika genauso flugs in den Fluten des Lago di Montepulciano verschwunden war, während ihr Begleiter noch Kühltasche und Decken aus dem Kofferraum holte. An der Szene hatte ich lange gefeilt, denn sie sollte mit Jessikas Tod enden. Beim Schreiben allerdings besann ich mich dann eines besseren und ließ sie überleben, wozu allerdings einige ungewöhnliche Ereignisse herhalten mussten.

Das Wasser war für meine Begriffe zu kalt, aber – da hatte ich mich wohl nicht geändert in den vielen Jahren seit meiner Kindheit – das konnte ich mir natürlich nicht anmerken lassen. Wäre ich allein gewesen, hätten höchstens Füße und Beine bis zu den Knien Kontakt mit dem See bekommen, nun biss ich die Zähne zusammen, schritt so entschlossen wie möglich fürbass und fragte mich, warum das Schicksal mir nicht einen gemütlichen Leseabend in meinem Zimmer oder ein Jazzkonzert im Masné krámy bescheren konnte. Statt dessen fror ich hier in einem See mit zweifelhafter Wassergüte …

Nach ein paar Minuten, in denen ich zügig schwamm, war mir weniger kalt. Jessika tauchte neben mir auf und meinte: »War doch eine gute Idee, oder? Erfrischend nach so einem heißen Tag.«

Haby Night Lost Viking Lake via WikiCommons»Sehr erfrischend, allerdings. Übrigens habe ich keine Handtücher im Auto.«

»Macht nichts, wir trocknen auch so. Hast du Lust auf ein Wettschwimmen?«

»Ich glaube, das habe ich schon verloren, bevor es beginnt. Falls du wirklich die bist, die du zu sein behauptest.«

»Also los. Wer zuerst beim Ufer am Zoo ist, hat einen Wunsch frei.«

Sie wartete keine Antwort ab, sondern schwamm zügig los. Ich gab mir Mühe, strengte mich an, aber wie erwartet konnte ich nicht mithalten. In jenen Tagen waren die Riesen auf der Erde, und auch danach, als die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren – so stand es über den Ursprung ihrer Rasse in der Bibel, einer Rasse, die überlebt hatte. Im Verborgenen, klug geworden durch Jahrhunderte und Jahrtausende. Vorsichtig geworden, um nicht entdeckt zu werden. Äußerlich wie ganz normale Menschen, aber mit Kräften ausgestattet, die schier unglaublich waren, mit einer Lebensdauer von mehreren Hundert Jahren, und mit einem Wesen als Oberhaupt, das wohl so alt war wie die Rasse selbst.

Ich hatte nach und nach beim Schreiben meiner Erzählungen über Jessika das Geheimnis erkundet, jedoch war ich noch lange nicht bis zu seinem Kern vorgedrungen. Als ich über Jessika in Italien schrieb, hatte ich vor, noch einiges zu erforschen, woher die unerschöpflichen Geldmittel der Nephilim stammten, woran sie einander erkannten, ob sie alle im Dienst jenes Wesens, das den Namen Nitzrek trug, standen …

Und dann war mir am Ende der Erzählung Jessika abhanden gekommen. Um nun im echten Leben, während ich nichts vorhatte als ein paar Tage Urlaub zu machen, aufzutauchen. Vielleicht hatte ich mit meiner ersten Vermutung, den Verstand zu verlieren, doch recht gehabt.

Als ich beim Zoo ankam, saß Jessika bereits am Ufer. Das Licht des Mondes und der Sterne war nicht sonderlich stark, aber da meine Augen sich längst an das Dunkel gewöhnt hatten, sah ihr ihr vergnügtes Grinsen recht deutlich, als ich aus dem Wasser stieg und auf sie zu ging.

»Ich habe einen Wunsch frei«, triumphierte sie.

»Meinetwegen. Obwohl das Wettschwimmen unfair war.«

»Du glaubst mir also inzwischen, dass ich ich bin?«

»Darüber muss ich noch nachdenken.«

Wir wanderten am Ufer entlang zurück zur Bootsrampe, wo unsere Kleidung lag. Es war kein Mensch außer uns unterwegs, worüber ich recht froh war, denn ich war mir nicht so sicher, wie es die Tschechen mit dem öffentlichen Nacktsein hielten. Als wir wieder bei der Bank waren, zwanzig Minuten später, hatte uns die Luft getrocknet, abgesehen von Jessikas Haaren. Meine waren kurz genug, um schon nach fünf Minuten zu trocknen.

Jessika nahm meine Jeans und fischte Zigarettenschachtel samt Feuerzeug aus der Hosentasche. Sie zündete zwei Zigaretten an, reichte mir eine und sagte: »Das Muttermal ist vorhanden. Du versuchst zwar die ganze Zeit, nicht auffällig hinzuschauen, aber vielleicht solltest du dich überzeugen, damit du nachher beruhigt schlafen kannst, ohne ständig zu grübeln?«

Sie entzündete das Feuerzeug und hielt es nahe an ihre Haut.

»Verbrenn dich nicht ausgerechnet dort«, sagte ich und pustete die Flamme aus.

»Wir heilen schnell, das weißt du ja inzwischen.«

»Ja, aber das muss ja nun nicht sein.«

Sie trug tatsächlich den sternförmigen Leberfleck auf dem Venushügel, von dem ich den Lesern meiner Erzählungen nie etwas erzählt hatte. Dieses Merkmal war nur mir bekannt, aufgespart für eine eventuelle Fortsetzung der Geschichte als unverwechselbares Kennzeichen der Nephilim, alle Mitglieder der Rasse sollten es gleichermaßen tragen. Aber das hatte ich noch nicht geschrieben. Ich hatte erwähnt, dass Jessika, genau wie die italienische Artverwandte Alesia, keine Körperbehaarung hatte, aber das traf heutzutage auf viele, wenn nicht die meisten Frauen zu. Schamhaare und Achselhaare waren seit Jahren aus der Mode gekommen, zunehmend auch bei Männern. Dieses sternförmige Muttermal jedoch war einzigartig.

Wir rauchten unsere Zigaretten schweigend auf, dann zogen wir uns an und fuhren zurück zum Hotel. Es war kurz nach Mitternacht, als wir auf dem Parkplatz ankamen.

Jessikas musste den rechten Hotelaufgang benutzen, um zu ihrem Zimmer zu kommen, ich den, der von der Raucherlounge ausging. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und sagte: »Danke für den schönen Nachmittag und Abend. Schlaf gut, Johannes.«

»Gute Nacht, Jessika.«

»Und vergiss nicht: Ich habe einen Wunsch frei!«

Bevor ich noch fragen konnte, wann sie diesen zu äußern vorhatte, verschwand sie im Treppenhaus ihres Aufgangs.

In meinem Zimmer angekommen zog ich mich aus, um eventuelle Reste des Seewassers mittels einer ausgiebigen Dusche von meiner Haut zu entfernen. Als ich in das Badezimmer kam, sah ich das Foto, das mir Jessika vor dem Abendessen gezeigt hatte. Es war an den Spiegel über dem Waschbecken geklemmt. Mit Lippenstift hatte jemand Ich bin immer noch verliebt auf das Glas geschrieben.

Wann hatte Jessika Gelegenheit gehabt, mein Zimmer zu betreten? Gar nicht. Wie kam dann das Foto hier her? Gar nicht. Aber es war zweifellos vorhanden, ich konnte es betrachten, in die Hand nehmen, drehen und wenden wie es mir beliebte. Das wiederum war völlig ausgeschlossen – so wie die ganze Geschichte dieses Tages.

Ich werde also doch verrückt. Bin verrückt geworden. Für einen Traum dauert das alles viel zu lange, fühlt sich viel zu echt an.

Echt war auch die unerwartete Regung des Körperteils, das auf der Rückseite des Fotos als Johannes sein Johannes bezeichnet wurde. Die ganze Zeit am und im See, die ich nackt mit einer attraktiven Nackten verbracht hatte, war nichts dergleichen geschehen, und jetzt beim Anblick eines uralten Fotos richtete sich Johannes sein Johannes energisch auf …

Ich. Habe. Den. Verstand. Verloren. Punktum und basta!

Ich duschte lange, genoss das warme Wasser auf der Haut, überlegte, ob ich meine Erektion ignorieren oder für Entspannung sorgen sollte. Ich musste über das Eigenleben unter meiner Gürtellinie schmunzeln. Damals war mir das so tödlich peinlich gewesen, als wäre etwas Verbotenes an einem steifen Penis. Natürlich wusste ich mit 13 Jahren längst, dass dieser Zustand Ausgangspunkt für genüssliche Minuten sein konnte, aber eben nur in meinem Bett oder im Badezimmer hinter verschlossener Tür. Im Schwimmbad, wo Mädchen zugegen waren, imponierte ich gerne mit meinen Muskeln und meinem Mut, vom 5-Meter-Brett zu springen, aber die Aufmerksamkeit der Klassenkameraden oder sonstiger Menschen sollte sich nicht auf meine Körpermitte richten. Dass dann auch noch eine Aufnahme in der Klasse kursierte, war unerträglich.

Jessika wollte die damalige Fotografin gewesen sein? Meine Erinnerungen an Franziska waren sehr dürftig, ein eher unscheinbares, dürres Mädchen, zurückhaltend, fast scheu. Ihr Gesicht konnte ich mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen.

Damals schrieb ich schon Geschichten auf, auch Gedichte, aber dass ich jemals über Franziska geschrieben hatte, war sehr unwahrscheinlich. Jessika hatte ich erst viel später erfunden, womöglich hatte mein Unterbewusstsein dabei auf die Schulkameradin zurückgegriffen? Die Psychologie war meine Stärke nicht, also konnte ich auch solche Zusammenhänge nicht ausschließen. Aber wo kam das Foto her?

Irgendwie musste ich mir darüber klar werden, was hier eigentlich vor sich ging. Die Fakten waren so einfach wie unerklärlich: Eine ersonnene Person taucht im wirklichen Leben auf und entpuppt sich als Wesen mit eigenem Willen. Eine vernünftige Erklärung wäre gewesen, dass eine Leserin meiner Erzählungen sich so sehr mit der fiktiven Jessika identifiziert hatte, dass sie in deren Rolle hineingeschlüpft war. Allerdings hätte die von einer solchen Leserin verkörperte Jessika keine Kenntnisse aus meinem Leben haben können, die ich nie und nirgends preisgegeben hatte. Und es war auch kaum vorstellbar, dass jemand dermaßen dem Bild entsprechen konnte, das ich mir über Jahre hinweg von Jessika gemacht hatte. Das Muttermal schließlich schloss diese Möglichkeit endgültig aus.

Eine alternative Erklärung fiel mir nicht ein. Ich konnte nur versuchen, mit Experimenten der Sache auf den Grund zu gehen.

Ich drehte das Wasser aus und trocknete mich ab. Mein Penis hatte sich von selbst wieder beruhigt, offensichtlich war das Grübeln über Dinge und Zusammenhänge, die es nicht geben konnte, seiner Durchblutung nicht förderlich.

Das Foto verstaute ich zwischen den Seiten des Romans, den ich gerade las, ich fand, dass es recht gut zu Paul Austers Sunset Park passte, denn das Kapitel mit den Aktzeichnungen hatte ich bereits gelesen. Ich nahm mein Notebook und begann zu schreiben:

Als Jessika aufwachte, spürte sie Nitzreks Gegenwart. Es war dunkel im Zimmer, als sie schlafen ging, hatte sie die Vorhänge zugezogen, um nicht von der Morgensonne geweckt zu werden.

»Nitzrek? Bist du da?«

»Du handelst nicht klug. Was willst du von Johannes?«, hörte sie die rätselhafte, Jahrhunderte alte und doch junge Stimme, die mehr in ihrem Kopf als im Zimmer zu entstehen schien.

Jessika richtete sich zum Sitzen auf und erwiderte: »Ich will wissen, wer er ist. Warum er mich begleitet, seit so vielen Jahren. Ihn kennen lernen. Hinter seine Geheimnisse kommen.«

»Du bringst dich in Gefahr. Dich und andere Nephilim. Das ist nicht klug.«

Jessika wagte es, zu widersprechen: »Johannes ist keine Gefahr. Er hat mich – uns – weder in Italien, noch sonst irgendwann ans Messer geliefert.«

»Mein Kind, er schreibt über dich! Er taucht tiefer und tiefer in unsere Welt ein und schreibt darüber.«

»Soll ich ihn ins Jenseits bringen? Du weißt, dass ich es tun würde, so wie ich Bernd nicht verschont habe. Dein Wort gilt.«

Nitzrek schwieg. Jessika überlegte, wie sie das auslegen sollte. Bisher hatte sie nie gehandelt, ohne einen klaren Auftrag zu haben. Manchmal gab es Kollateralschäden, das war nicht zu vermeiden, das wusste auch Nitzrek. Aber ohne Anweisung hatte sie nie ein Menschenleben beendet, es sei denn in Notwehr wie vor ein paar Monaten am Lago di Montepulciano, als der Rockerangriff geschah. Johannes hatte getan, was er konnte, um ihr zu helfen. Seine menschlichen Fähigkeiten waren zwar unzulänglich, aber er hatte es versucht. Er konnte kein Feind sein, keine Gefahr darstellen.

»Nitzrek? Bist du noch da?«

Noch nie hatte sie Nitzreks Stimme so sanft gehört: »Mein Kind, du liebst ihn wohl, diesen Menschen?«

»Ich weiß nicht, was Liebe ist. Aber vielleicht nennt man das, was ich empfinde, so? Johannes ist anders als andere Menschen und ich will nur in seiner Nähe sein, so viel begreife ich.«

»Wenn wir uns mit Menschen einlassen, gibt es oft Probleme.«

»Das weiß ich. Aber du kennst diesen einen Menschen besser als andere, hast du dich ihm nicht an jenem See in Italien genähert?«

»Ich wollte dich nicht verlieren, mein Kind.«

»Er konnte mir nicht helfen, aber er hat alles versucht, was er konnte. Ich will ihn endlich richtig kennen lernen.«

»Gut. Einstweilen sei es so. Am Mittag um 11:30 Uhr steigst du auf den černá věž. Dort sitzt ein 12jähriges Mädchen im roten Kleid ...«

Die Übersetzung für »schwarzer Turm« hatte ich gegoogelt, Nitzrek sollte ruhig auch ein wenig Tschechisch können. Ich speicherte den Text und legte mich ins Bett. Meine Armbanduhr zeigte 02:37 Uhr. Ein paar Stunden Schlaf wollte ich Jessika gerne gönnen. Mir natürlich auch.

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Nun stellt sich die Frage mit der Frage an die geschätzten Blogbesucher. Ich könnte so tun, als überließe ich ihnen die Entscheidung, ob Jessika um 11:30 auf den schwarzen Turm steigt oder nicht, aber das Ergebnis wäre sowieso schon klar. Natürlich wollen die Leser Jessika da oben sehen, denn es muss ja in dieser Staffel von Fortsetzungen endlich mal jemand zu Tode kommen. Also frage ich ausnahmsweise etwas, was mit dem Fortgang der Geschichte nichts zu tun hat.

 

Ich schwimme ...
... gerne ohne Textilien.
... niemals ohne Textilien.
... ab und zu ohne Textilien.
Was sind Textilien?
Auswertung

Fortsetzung folgt demnächst, ein Teil ist schon geschrieben.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Der Juni fängt gut an …

… denn heute war so etwas Ähnliches wie ein Freitag, morgen gibt es Bluegrass Musik umsonst und draußen und am Freitag habe ich die Ehre, hier die Fortsetzung der Jessika-Erzählung zu präsentieren.

Was will man mehr …

Dienstag, 31. Mai 2011

Jessika meint, dass sie ...

Abstimmung

... mit diesem Ergebnis sehr zufrieden ist. Also halten wir fest: Es wird geschwommen, zu nächtlicher Stunde. Fortsetzung der Geschichte voraussichtlich am Samstag an dieser Stelle.

Montag, 30. Mai 2011

Die Leseprobe zu Sabrinas Geheimnis

Jessika muss noch warten, weil die Abstimmung bisher wenig aussagekräftig ist. Daher heute zum Zeitvertreib eine Leseprobe, die auf Sabrinas Geheimnis neugierig machen soll.

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Sabrinas Geheimnis

Nichts ist vorbei. Nichts kann jemals die Bilder auslöschen, die ich gesehen habe.

 

Prolog

We are all just prisoners here,
of our own device.
The Eagles (Hotel California)

Vor rund zwei Jahren, im April 2009, hat meine Frau einen respektablen Geschäftsmann erschossen. Gezielt, gewollt, mit voller Absicht. Und das ist auch gut so.

Wenn Sie mir durch die Zeilen dieses Buches folgen möchten, werden Sie am Ende womöglich ebenfalls der Meinung sein, dass Christine wegen der drei Schüsse nicht zu tadeln ist. Es kann auch sein, dass Sie anderer Meinung sein werden, womöglich gar Anzeige gegen uns erstatten möchten. Das, liebe Leser, bleibt Ihnen unbenommen.
Mein Name ist Jörgen Maurer, meine Frau heißt Christine Maurer, geborene Dietrichs. Unser Sohn Viktor war 15 Jahre alt und wie ich Augenzeuge, als der Geschäftsmann neben seinem Auto von den Schüssen getroffen zu Boden sank. Wir leben in Hamburg, in einer komfortablen Villa. Das alles können Sie getrost der Polizei erzählen. Fragen Sie nach Kommissar Meinhardt, der wird Ihre Aussagen protokollieren und dann, kaum sind Sie wieder aus dem Präsidium verschwunden, die Aufzeichnungen in seinem Reißwolf verschwinden lassen.
Sie selbst werden voraussichtlich unbehelligt weiterleben dürfen. Wenn Sie es dabei belassen, ausgesagt zu haben. Falls Sie jedoch weiter nachbohren, wäre ich mir da nicht so sicher.

Doch das bleibt ohnehin abzuwarten. Vielleicht haben Sie ja auch kein Mitleid mit dem toten Geschäftsmann. Erst sollen Sie die Geschichte meines – unseres Lebens kennenlernen. Sie dürfen dabei Sabrinas Geheimnis erfahren. So wie ich es erfahren habe. Stück für Stück.

Alles fing damit an, dass ich auf dem Weg vom Büro nach Hause im für den Berliner Stadtverkehr üblichen Stau stand.

 

Kapitel 1

It ain’t why why why.
It just is!
Van Morrison (Summertime in England)

Der Volkswagen hatte mehr als dreißig Jahre seinen Dienst getan. Er erfuhr ganz offensichtlich regelmäßige Pflege, sein Lack glänzte so tiefschwarz in der Nachmittagssonne, dass man hätte meinen können, das Fahrzeug sei gerade vom Band gerollt. Von Weitem betrachtet war der Käfer, der die Fahrbahn zur Hälfte blockierte, ein Schmuckstück.
Als ich an jenem 17. Juli, der alles änderte, um 16:48 Uhr die Unfallstelle erreichte, ging mir der Gedanke so schlimm kann es gar nicht sein durch den Kopf. In meiner Aufregung hatte ich das kurze Telefonat wohl missverstanden.

Ich war auf dem Heimweg vom Büro gewesen, als mir einfiel, dass wir vergessen hatten, ein paar Flaschen guten Wein für den Abend zu kaufen. Wir erwarteten Gäste und eigentlich war alles für einen gemütlichen Abend besorgt – bis auf das passende Getränk.
Der Verkehr war, etwas anderes konnte man um diese Zeit in Berlin auch kaum erwarten, zähflüssig, stand immer wieder still. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Notarztwagen hatten sich vor einer viertel Stunde auf der engen Straße am Stau, in dem ich mich mit zahlreichen anderen Verkehrsteilnehmern befand, vorbei gequält. Es ging nur sehr mühsam voran und ich hoffte, dass die Behinderungen bald aus dem Weg geräumt sein würden, damit noch etwas Zeit blieb, um Sabrina zu Hause den Tisch decken zu helfen und das Essen vorzubereiten, bevor unser Besuch kam.
Im Autoradio lief Red Red Wine von UB 40. Ich summte mit, und dabei kam mir der Gedanke an den vergessenen Wein, also rief ich Sabrinas Mobiltelefon an. Es mochte ja immerhin sein, dass sie das Versäumte bereits erledigt hatte. Die praktischen Aspekte des Lebens hatte sie besser im Griff als ich.
Anstelle meiner Frau antwortete eine mir unbekannte männliche Stimme: »Ja bitte?«
Verwählt haben konnte ich mich nicht, da ich die Speichertaste benutzt hatte.
»Wer ist da«, fragte ich, »und wie kommen Sie an das Telefon meiner Frau?«
Der Mann behauptete, Polizist zu sein. Er fragte, wo ich mich gerade befände. Ich erklärte etwas irritiert, dass ich auf dem Weg nach Hause gerade die Osdorfer Straße passiert habe und bestand darauf, zu erfahren, was der Polizist, wenn er wirklich einer war, mit dem Telefon meiner Frau zu schaffen hatte.
Ich ahnte in jenem Moment bereits, dass ich eine schlechte Nachricht bekommen würde. Wenn die Polizei den Anruf an einem privaten Mobiltelefon beantwortet, dann sicher nicht, um über das Wetter oder die Verkehrslage zu plaudern. Kennen Sie das Gefühl, wenn einem an einem warmen Sommertag plötzlich eiskalt wird? Wenn man nicht weiß, wohin der schneller werdende Herzschlag und der Schweißfilm auf der Stirn im nächsten Augenblick führen werden? Ob man in zwei Minuten noch Herr seiner Sinne oder seines Lebens sein wird? So fühlte ich mich, während ich zuhörte.
Ein Verkehrsunfall sei geschehen, erklärte der Polizist, er habe das Telefon aus der Handtasche meiner Frau genommen, als es läutete. Der Unfall sei an der Kreuzung Ostpreußendamm und Wismarer Straße geschehen. Mehr könne er mir am Telefon nicht sagen.
Ich war nicht mehr weit von der Stelle entfernt. Ohne den unfallbedingten Stau hätte ich zwei Minuten gebraucht, doch an jenem 17. Juli dauerte es unerträgliche elf Minuten, in denen Hoffnung und Angst um die Oberhand kämpften.
Eine Verwechslung.
Warum hat die Polizei dann Sabrinas Telefon?
Nur eine Schramme, meinetwegen ein gebrochenes Bein. Sie kann nicht schwer verletzt sein.
Warum nimmt sie dann  den Anruf nicht selbst entgegen? Sie stirbt oder ist schon  tot.
Unsinn, warum sollte sie tot sein. Außerdem kann das gleiche Schicksal nicht zwei Mal den gleichen Menschen treffen.
Ach nein? Wo steht das geschrieben?
Der Blitz schlägt nicht zwei Mal in den gleichen Baum. So schlimm ist es nicht. Gleich wird sich alles aufklären …
Ich hielt hinter einem Polizeifahrzeug an. Die Mine des Polizisten, der auf mein Fahrzeug zu kam, ließ meine Hoffnung bedingungslos vor der Befürchtung kapitulieren.
Doch, es ist schlimm. Noch viel schlimmer.
Zögernd öffnete ich die Türe und stieg aus.
»Herr März?« Der Mann hielt die Brieftasche meiner Frau in der Hand und verglich mein Gesicht mit dem Foto, das sie dort aufbewahrte.
»Ja«, sagte ich. Meine Stimme schien einem Fremden zu gehören. »Ich bin Roland März. Was – wo ist meine Frau?«
»Es tut mir Leid«, murmelte er, »es sieht nicht gut aus.«
Aus der Nähe sah ich jetzt, dass der Volkswagen an der rechten Front eingedrückt war. Auf der Motorhaube klebte etwas, was ich in vielen Träumen der nächsten Monate wieder und wieder sehen würde: Blut und ein paar Klumpen einer grauen Masse.
Das kann irgendetwas sein. Vielleicht Lehm von einem Feldweg.
Allerdings hatte ich noch nie Lehm gesehen, der mich so an Gehirnmasse denken ließ. Ansonsten war das Auto sauber wie ein Ausstellungsstück im Verkehrsmuseum.
Der Notarztwagen, der sich vorhin am Stau vorbei in Richtung Unfallstelle gequält hatte, stand auf der Fahrbahn, die hinteren Türen waren offen. Gestalten beugten sich über einen Körper. Ich erkannte Sabrinas neues Kleid, und noch etwas fiel mir auf, aber das drang nicht bis in mein Bewusstsein vor – es sollte noch Monate dauern, bis mir dieses Detail gewärtig wurde. Dort auf der Straße hatte ich nur einen Gedanken: Ich will zu Sabrina!
Man ließ mich nicht in den Krankenwagen. Mit sanfter Gewalt hielt mich ein Verkehrspolizist zurück, redete beruhigend auf mich ein, appellierte an meine Vernunft, versuchte, mich zu der Einsicht zu bewegen, dass ich mir den Anblick besser ersparte. Ich widerstrebte, wollte seine Hand von meinem Arm abschütteln. Schließlich sagte mir, da ich für rücksichtsvoll formulierte Argumente nicht zugänglich war, ein dem Polizisten zur Hilfe kommender Arzt unumwunden, dass der Kopf meiner Frau zwischen das Auto und den Glascontainer am Straßenrand geraten war.
»Wollen Sie sich das wirklich anschauen?«, fragte er. »Sie würden ihre Frau nicht erkennen.«
Das will ich nicht. Das kann ich nicht. Das ist überhaupt nicht wahr, das kann nicht Sabrina sein. Der Blitz schlägt doch nicht …
»Aber die …« fing ich an, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Mein Unterbewusstsein hatte etwas aufgeschnappt, ein dringendes, ein wichtiges, ein entscheidendes Detail, behielt es aber für sich wie ein trotziges Kind den letzten Keks in der Blechdose.
Ich setzte neu an: »Die … aber die – ich meine – es stimmt nicht – ich …«
Der Arzt fragte mich, ob ich ein Beruhigungsmittel wollte, Ich lehnte ab. Ich wollte Sabrina zurückhaben, und wenn das unmöglich war, wollte ich gar nichts mehr.
Die Türen des Notarztwagens wurden geschlossen und das Fahrzeug entfernte sich. Ich blickte hinterher, war versucht, dem Wagen nachzurennen. Als er außer Sicht war, schaute ich mich um und wusste plötzlich nicht, warum ich hier auf der Straße stand. Der Polizist brachte mich zu einem Streifenwagen und nötigte mich, ein paar Minuten Platz zu nehmen.

Irgendwie kam ich zu Hause an, ich kann mich bis heute nicht recht erinnern, was geschah, nachdem die Türen des Notarztwagens geschlossen wurden und ich weinend in dem Polizeifahrzeug Platz genommen hatte. Ich erwartete, Sabrina in der Wohnung zu finden, doch da wartete nur der festlich gedeckte Tisch. Da war niemand, der das Essen vorbereitete oder auftrug. Niemand, der mir ein fröhliches »wie war dein Tag?« entgegen rief. Im Schlafzimmer lag eine Kollektion von Kleidungsstücken auf dem Bett, wie immer, wenn sie sich schönmachen wollte. Sie beklagte sich in solchen Momenten, dass sie nichts anzuziehen hätte, was ich ihr nicht glaubte, denn sie war noch nie nackt in die Philharmonie gegangen oder hatte unbekleidet Gästen die Tür geöffnet. Aber an diesem Abend war da keine Sabrina, die etwas überstreifte und mich fragte: »Sieht das gut aus?«
Meine Antworten waren in solchen Fällen unerheblich gewesen, da ich, wie Sabrina zu sagen pflegte, »sowieso nicht objektiv« sei. Möglicherweise hatte sie recht, denn wie könnte ein Mann je objektiv urteilen, wenn es um das Aussehen der geliebten Frau geht?
Ich setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und starrte die Visitenkarte an, die mir ein Polizist gegeben hatte. Die Adresse und Telefonnummer eines Psychologen waren darauf verzeichnet.
Als bald darauf die ahnungslosen Abendgäste klingelten, reagierte ich nicht. Ich saß im Wohnzimmer und starrte auf die Karte. Es klingelte erneut.
Sabrina wird schon aufmachen. Ich bleibe hier sitzen.

Die Zeitungsnotiz im Lokalteil der Berliner Morgenpost am nächsten Tag war kurz und nüchtern: »Der flüchtige Fahrer eines VW-Käfer befuhr die Wismarer Straße in Richtung Ostpreußendamm. Die Ampel an der Kreuzung zeigte nach Angaben von Zeugen bereits mehrere Sekunden Rot für den Fahrzeugverkehr. Der Pkw erfasste eine 32-jährige Fußgängerin, die bei Grün die Straße überqueren wollte. Die Frau erlitt schwerste Kopfverletzungen und starb noch am Unfallort. Während sich die Augenzeugen um die Verletzte kümmerten, entfernte sich der Fahrer unbemerkt. Die Polizei bittet Zeugen des Unfalls, die den flüchtigen Fahrer beschreiben können, sich zu melden.«
Viel mehr erfuhr ich auch später nicht in meinen Gesprächen mit den ermittelnden Beamten. Der Fahrer des alten Käfers war mit ziemlich hoher Geschwindigkeit durch die Kurve vor der Kreuzung gefahren, den Spuren nach zu urteilen kam das Fahrzeug ins Schleudern und der Mann riss das Steuer nach rechts, zum Straßenrand. Sabrina habe das Fahrzeug kommen sehen, sagten einige Zeugen, und versucht, auszuweichen. Sie hatte es nicht geschafft. Sie prallte auf die Motorhaube, rutschte nach vorne ab. Ihr Kopf wurde zwischen dem Auto und dem massiven Sammelbehälter für Glasflaschen am Straßenrand zerquetscht.
Die Beschreibungen des Fahrers durch die Unfallzeugen waren so unzureichend, dass man nicht einmal ein Phantombild zustande brachte. Er sei »in jugendlichem Alter« gewesen, habe »längere Haare« gehabt – das war so ziemlich das Einzige, was die Befragten übereinstimmend aussagten. Einige meinten, ein Nasenpiercing gesehen zu haben. Andere hielten ihn für einen Türken oder Araber. Aber niemand konnte verwertbare Angaben manchen, die bei der Fahndung geholfen hätten.
Der VW war bereits am Vortag als gestohlen gemeldet worden. Die Untersuchungen des Fahrzeugs ergaben, dass die Reifen nicht mehr die vorgeschriebene Profiltiefe hatten, aber ob das Geschehen nun wegen der Reifen, wegen der überhöhten Geschwindigkeit oder aus sonstigen Gründen passiert war, interessierte mich nicht, denn es änderte nichts an den Folgen. Sabrinas Leben war ausgelöscht worden. Man erklärte mir, dass aufgrund der Verletzungen der Tod sofort eingetreten sei, dass meine Frau zumindest keine Schmerzen hatte erleiden müssen. Ein gewisser Trost lag in diesem Wissen, aber das machte den Verlust auch nicht leichter. Es war so unnötig und sinnlos, dass wegen eines Jugendlichen und seiner Raserei mit einem gestohlenen, nicht verkehrstüchtigen Auto ihr Leben enden musste.
Oder wegen der vergessenen Weinflaschen – denn deswegen war Sabrina noch einmal zum Supermarkt gegangen. Auf dem Küchentisch zu Hause hatte ihre Notiz gelegen, die letzten paar Buchstaben, die sie in ihrem Leben geschrieben hatte: Ich bin schnell Wein kaufen und gleich zurück. Ich liebe Dich! Sabrina.
Je länger ich grübelte, desto sicherer war ich, dass ich Schuld war. Ein paar Tage zuvor hatte ich eigentlich unsere Weinvorräte auffüllen sollen. Die Weinhandlung lag auf dem Weg vom Büro nach Hause, ich musste noch nicht einmal einen Umweg fahren. Doch der kleine Parkplatz war voll, ich war müde und so verschob ich den Einkauf.
Wäre ich nicht so bequem gewesen, hätte ich ein paar Straßen entfernt geparkt und den Einkauf erledigt, würde Sabrina noch leben.
Ich wünschte, es wäre ihr nicht eingefallen, dass der Wein fehlte. Ich wünschte, sie wäre eine Minute früher losgegangen, oder eine später. Ich wünschte, man könnte wie in dem Film Lola rennt noch mal von vorne anfangen, wenn die Ereignisse eine schreckliche Wendung nehmen. Doch dies war die Realität, kein Film, alles Wünschen und Grübeln war vergebens. Mein Verstand kümmerte sich allerdings herzlich wenig um die Vernunft. Immer wieder meinte ich, in der leeren Wohnung ihre Schritte zu hören. Morgens wachte ich auf und wunderte mich darüber, dass Sabrina schon vor mir aufgestanden war, denn ihre Betthälfte war leer. Beim Einkaufen legte ich ihr Lieblingsduschgel in den Korb…
Die Visitenkarte des Psychologen hatte ich weggeworfen. Ich wollte allein mit meinem Schmerz fertig werden. Mein Leben irgendwie weiterführen. Oder auch nicht. Manchmal zweifelte ich daran, dass sich die Mühe lohnen würde.
Ich konnte in den folgenden Wochen nicht an jener Kreuzung vorüber fahren, ohne Sabrinas leblosen Körper zwischen Glascontainer und Volkswagen vor mir zu sehen. Wenn man mich zu ihr gelassen hätte, wenn ich sie hätte betrachten, berühren dürfen, statt nur einen kurzen Blick auf die Gestalt im Notarztwagen zu erhaschen, der man ein grünes Tuch über den Kopf gelegt hatte – wäre meine Fantasie weniger eigenwillig gewesen? Hätte ich mehr Gewissheit gehabt, dass ich mich mitten im wahren Leben und nicht in einem bösen Traum befand? Aber ich hatte keine Gelegenheit bekommen, einen letzten, Abschied nehmenden Blick auf meine Frau zu werfen. Ich hatte nichts weiter als den Blick in den Notarztwagen aus etlichen Metern Entfernnung: Ihre schlanken Beine, das neue, hellblaue Seidenkleid mit dem dezenten Design aus cremefarbenen Blumen, ihre blutverschmierte Hand, die seltsam verdreht herabhing, das grüne Tuch über ihrem Kopf. Soweit noch ein Kopf vorhanden sein mochte.
Gelegentlich suchte mich bei meinen Grübeleien ein Gefühl heim, das ich schon am Unfallort gespürt hatte. Da ist noch etwas. Da ist ein Detail. Das könnte alles ändern.
Das Detail, wenn es denn eines geben sollte, blieb mir jedoch verborgen. Und zu ändern war ja nun nichts mehr.
Ich wehrte mich gegen diese Bilder, lange Zeit vergebens. Manchmal bedauerte ich es, den Psychologen nicht wenigstens einmal aufgesucht zu haben. Hätte er meine Fassungslosigkeit über die Sinnlosigkeit des Unglücks mindern können? Ein Unfalltod ergibt selbstverständlich niemals einen Sinn. Das Schicksal, blind wie es nun einmal ist, schlägt zu, und dann bleibt nichts als die Illusion, das Ganze sei ein Albtraum, aus dem man bald erwachen wird. Allerdings wacht man nie auf.

Der Blitz war doch ein zweites Mal in den gleichen Baum eingeschlagen. Wieder hatte ich meine Ehefrau durch einen – das Schicksal mochte blind sein, liebte aber offensichtlich die grausame Ironie – Verkehrsunfall verloren.

 

Kapitel 2

And I know it aches and your heart it breaks,
you can only take so much.
U2 (Walk On)

Ich weiß, liebe Leser, dass Sie neugierig auf Sabrinas Geheimnis sind, und bisher haben Sie so wenig Ahnung davon, wie ich nach diesem Unfall ahnte, was noch auf mich zukommen würde. Aber erlauben Sie mir, an dieser Stelle von Esther zu erzählen. Auch mit Sabrina hatte ich immer wieder über sie gesprochen, und einiges, was Sie später in diesem Buch lesen werden, ist leichter einzuordnen, wenn Sie jetzt Esther ein wenig kennen lernen.
Ach so, was ich eigentlich schon im Prolog sagen wollte, will ich hier nachholen: Wenn ich Sie mit Leser anrede, dann meine ich die Damen genauso wie die Herren. Ich finde dieses unsägliche »LeserInnen« so albern wie die ständige Doppelung »Leserinnen und Leser«. Ich hoffe, Sie können mir das nachsehen. Doch das sei nur am Rande angemerkt.

Esther, meine erste Frau, war am 23. Dezember vor elf Jahren auf dem Weg von der Bushaltestelle zu unserer Wohnung verunglückt und am ersten Weihnachtsfeiertag »ihren Verletzungen erlegen«, wie es in der Pressenotiz hieß. Eine harmlose Umschreibung für das, was ich im Krankenhaus gesehen hatte.
Ein Lastkraftwagen, mit Streugut für die Straßendienste in Berlin beladen, schleuderte wegen der Glätte, geriet auf den Gehweg und klemmte Esther zwischen Fahrzeug und Hauswand ein, verwandelte in einem Augenblick ihren schmächtigen Körper in eine Figur aus einem minderwertigen Horrorfilm. Die Beine waren unversehrt, der Kopf ebenfalls, dazwischen gab es eine Masse aus Knochensplittern, zerrissenen, gequetschten Organen sowie Rost und Schmutz von Fahrzeug und Hausmauer.
Als ich sie im Krankenhaus sah, erkannte ich ihr Gesicht kaum wieder. Schläuche und Drähte führten zu Geräten, deren Funktion ich nicht verstand. Ich begriff lediglich, dass dieser Körper nur von den Maschinen auf der Intensivstation am Leben gehalten wurde, und als der Stationsarzt mir am frühen Weihnachtsmorgen bestätigte, dass Chancen für eine Besserung nicht bestünden, dass darüber hinaus seit dem Unfall keine Hirntätigkeit mehr messbar gewesen war, gab ich mein Einverständnis, die Geräte abzuschalten. Ich hielt Esthers Hand, während die Monitore still und dunkel wurden.

Verwandte, Freunde und Bekannte hatten uns als Traumpaar bezeichnet, obwohl – oder gerade – weil wir harte Kämpfe hatten durchstehen müssen und lange Geduld mit der Familie meiner Frau vonnöten gewesen war. Esther war Jüdin, ihrer Verwandtschaft eine familiäre Verbindung mit einem Deutschen zunächst unvorstellbar. Angesichts der Geschichte meines Volkes, unserer historischen Schuld, konnte ich in gewisser Weise verstehen, dass den Eltern ein anderer Partner für ihre Tochter lieber gewesen wäre.
Wir hatten uns in Frankreich kennengelernt. Ich besuchte in Paris ein zweiwöchiges Seminar über die unterschiedlichen Erfahrungen mit teamorientierten Führungsstilen in Europa. Esther hatte keine weite Anreise, sie lebte nur drei Straßen vom Tagungshotel entfernt. Sie war als Vertreterin der Firma Renault zu dem Kolloquium gesandt worden.
Wir unterhielten uns in den Pausen und fanden bald Gefallen aneinander. Sie war von zarter Gestalt, ihre schwarzen, lockigen Haare trug sie offen. Sie kleidete sich ausgesucht elegant und bewies hervorragende Umgangsformen. Zwei Grübchen über den Mundwinkeln zeugten von ihrer heiteren Natur.
Mich beeindruckten ihre fundierten und selbstsicheren Beiträge bei den Diskussionen. Sie scheute nicht davor zurück, dem Dozenten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung war, zu abweichenden Schlüssen kam als dieser Theoretiker. Esther konnte das, was sie zu den Podiumsrunden beitrug, durch Praxisbeispiele illustrieren. Ich beobachtete sie, war fasziniert und gab mir Mühe, sie nicht aufdringlich anzustarren.
Am vierten Abend besichtigten wir eine Ausstellung zeitgenössischer Malerei und saßen anschließend einige Stunden in einem Café, genossen ausgezeichneten Rotwein zu einem leichten Salat – und verliebten uns. Sie sprach recht gutes Deutsch, da sie von früher Jugend an eine Vorliebe für deutsche Literatur entwickelt hatte. Gelegentlich musste ich schmunzeln, wenn Ausdrucksweisen, die bei Thomas Mann noch ganz natürlich gewirkt hatten, im heutigen Sprachgebrauch aber weitgehend verschwunden waren, ihre Sätze schmückten.
Das Wochenende nach dem Seminar verbrachten wir gemeinsam. Meinen Rückflug hatte ich von Freitag auf Sonntag umgebucht und das Hotelzimmer stand mir zur Verfügung, da es noch nicht reserviert war. In Berlin wartete niemand auf mich.
Esther zeigte mir Paris, allerdings hatte ich eher Augen für sie als für Gebäude, Plätze und Parks. Ein paar Stunden vor meiner Abreise stellte mich Esther ihrer Familie vor. Bis zu diesem Moment war ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass es ein durch die Abstammung verursachtes Problem geben konnte; Esther allerdings auch nicht, denn sonst wäre der Besuch sicher besser vorbereitet oder auf später verschoben worden. Zwar hatte sie mir beiläufig erzählt, sie sei jüdischer Abstammung, doch war dies für mich nicht bedeutsamer als wenn ihre Vorfahren Schweden oder Tschechen gewesen wären.
Auf dem Weg zu ihren Eltern erzählte sie mir, was sie von ihren Großeltern wusste. Beide waren in Deutschland geboren und aufgewachsen. Trotz warnender Stimmen vor dem Unheil, das die Nazis bringen würden, waren sie geblieben, bis sie aus dem Land, das sie als Heimat verstanden und liebten, nach Warschau deportiert und dort in ein Getto gesperrt wurden. Esthers Großvater, ein begabter Musiker, spielte im Getto unbeirrt weiter Musik auch von deutschen Komponisten. Bis zu dem Tag, an dem er in einen Waggon getrieben wurde, glaubte er daran, dass der Nazispuk schnell vorübergehen, dass das Land, dem Schiller, Goethe und Thomas Mann entstammten, in dem Bach, Brahms und Beethoven unsterbliche Musik geschaffen hatten, zur Zivilisation zurückfinden musste.
Seine Frau sah ihn nie wieder. Als sie einige Tage nach dem Abtransport der Männer aus dem Getto fliehen konnte, wusste sie noch nicht, dass sie schwanger war. Esthers Mutter kam in einem Versteck zur Welt, das eine Bauernfamilie in ihrer Scheune für eine Handvoll Flüchtlinge eingerichtet hatte.
Esthers Großmutter hatte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt. Auch ihren Eltern war eine Reise nach Deutschland unvorstellbar. Alles, was »vor Hitler« gewesen war, Literatur und Musik vor allem, hatte an Wertschätzung nichts eingebüßt, an der deutschen Gegenwart bestand hingegen keinerlei Interesse.
Esthers Vater war Literaturkritiker, schrieb für die großen französischen Zeitungen, hatte auch mehrere Bücher veröffentlicht. Er ignorierte alle Werke, die von deutschen Schriftstellern der Gegenwart stammten. Er hatte eine einzige Ausnahme gemacht, als Marcel Reich-Ranickis »Mein Leben« erschienen war. Er lobte das Buch in einem Artikel, allerdings mit der Anmerkung, dass Reich-Ranicki kein Deutscher, sondern Jude sei, der eigentlich nicht in Deutschland leben sollte.
Seine Frau gab eine kleine aber feine Literaturgazette heraus, in der unbekannte Dichter ihre ersten literarischen Gehversuche der Öffentlichkeit vorstellen konnten. Es wurden Autoren aus vielen Ländern gedruckt, jedoch kein einziger Deutscher.
Esther hatte sich wie ihre Eltern zunächst mit der Literatur beschäftigt. Doch nach einigen Semestern Literaturwissenschaft wandte sie sich dann der Betriebswirtschaft, insbesondere dem Personalwesen, zu. Die Literatur schien ihr, wie sie mir schon bei unserem ersten Kennenlernen während des Seminars erzählt hatte, keine ausreichend sichere finanzielle Grundlage für das Leben zu bieten. Vater und Mutter verdienten allerdings gut damit – so mochte bei Esthers Entscheidung durchaus auch das Abnabeln vom Elternhaus eine Rolle gespielt haben, ein Ausbrechen aus dem Zwang der Familientradition sein. Mir fiel Katja Manns berühmter Satz »Es muss in dieser Familie einen Menschen geben, der nicht schreibt!« dazu ein. Esther wollte ihren eigenen Weg finden und gehen, in der Industrie. Die Liebe zur Literatur gab sie ja damit nicht auf.
Als ich an jenem Sonntag im Wohnzimmer von Esthers Familie in der Rue Raphael saß, spürte ich die Ablehnung fast körperlich in der Atmosphäre. Obgleich ich, 1955 geboren, die sogenannte Gnade der späten Geburt besaß, war ich als Angehöriger der Nation, die dem Volk meiner Gastgeber unaussprechliches Leid angetan hatte, nicht willkommen.
Esthers Großmutter wirkte körperlich gebrechlich, aber geistig hellwach. Die Unterhaltung verlief höflich und reserviert; ich hatte es schließlich mit gebildeten Menschen zu tun, deren Umgangsformen keinen Raum für Taktlosigkeit ließen – nicht einmal einem Deutschen gegenüber. Esther und ich waren noch kein Paar, sondern lediglich seit ein paar Tagen befreundet; doch bereits diese Freundschaft wurde, unausgesprochen aber deutlich spürbar, als ungehörig empfunden. Wie konntest du nur einen Deutschen ins Wohnzimmer unserer Familie bringen schienen die Blicke zu sagen, die Esthers Mutter ihrer Tochter zuwarf.
Dieser erste Besuch war kurz, was ich nicht bedauerte. Wir verließen die Wohnung nach zwei Tassen Kaffee und einem Stück Kuchen. Bis zu meinem Abflug blieben noch einige Stunden. Wir setzten uns wieder in das Café, in dem wir unseren ersten gemeinsamen Abend verbracht hatten.
»Meine Eltern und Großmutter waren nicht besonders liebenswert, nicht wahr?«, fragte sie und sah mich mit besorgtem Blick an.
»Stimmt. Sie haben uns beide behandelt wie ungebetene Fremde – nun ja, ich bin ja immerhin ein Fremder. Dass ich so unerwünscht war, hatte ich allerdings nicht vermutet.«
Sie runzelte die Stirn, suchte offenbar nach einer Möglichkeit, mir das Verhalten ihrer Familie plausibel zu machen.
»Es ist«, fing sie an, »doch ein größeres Problem, als ich gedacht hatte. Es gibt wohl zwei Dinge, die meiner Familie nicht recht sein werden, falls aus uns ein Paar wird. Ich hätte übrigens nichts dagegen.«
Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und reichte sie Esther. Dann nahm ich mir selbst eine. Wir rauchten einen Moment schweigend.
»Ich glaube, ich weiß, welches die beiden Probleme sind«, sagte ich schließlich.
»Dann erzähl. Die Kugel ist bei dir!«
Ich lachte, möglicherweise etwas zu laut für die gediegene Umgebung. Esther blickte mich irritiert an.
»Ich lache nicht über dich«, beeilte ich mich zu erklären, »sondern über diesen köstlichen Ausdruck. Ich weiß schon, was du meinst. Die Kugel ist bei mir. Herrlich.«
»Sagt man das nicht?«
»Nein, das sagt man nicht.«
»Aber man sagt das in Französisch.«
»Mag sein, so gut ist meine Sprachkenntnis nicht. Aber in Deutsch sagt man so was wie du bist dran oder du bist am Ball oder na dann schieß los.«
»Ich will nicht, dass du schießt. Ich bin für den Frieden!«
Wir amüsierten uns eine Weile über eigentümliche Metaphern in unseren Sprachen, bevor wir zum Thema zurückkamen.
Beim zweiten Glas Wein nahm ich den Faden wieder auf: »Also, ich gehe davon aus, dass ein Problem in der Tatsache liegt, dass ich Deutscher bin. Wäre ich Spanier, Amerikaner, von mir aus auch Eskimo, dann wäre die erste Hürde gar nicht vorhanden.«
»Das heißt Inuit, nicht Eskimo«, belehrte sie mich. »Eskimo ist nämlich ein abfälliger Ausdruck, der soviel bedeutet wie »jemand, der rohes Fleisch isst«. Inuit dagegen entstammt der Sprache des Volkes und heißt einfach »wahrer Mensch«. Aber deine Vermutung stimmt. Und was ist das zweite Problem?«

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Sonntag, 29. Mai 2011

Jetzt erhältlich: Sabrinas Geheimnis

Sabrinas GeheimnisDer Blitz schlägt nicht zwei Mal in den gleichen Baum, sagt sich Roland März, als er am Telefon hört, seine Frau habe einen Unfall gehabt. Doch der Blitz tut gelegentlich, was er will: Zum zweiten Mal verliert Roland seine Ehefrau durch einen Verkehrsunfall. Sabrina ist tot. Schicksal. Pech.

Schon bald zeigt sich, dass der Albtraum mit dem Unfall gerade erst begonnen hat. Roland stößt in den Unterlagen seiner Frau auf Spuren, die ihm nach und nach offenbaren, dass Sabrina ein doppeltes Leben geführt hat. Sie hütete ein tödliches Geheimnis, und jemand trachtet nun auch Roland nach dem Leben. Er sucht weiter die Wahrheit über Sabrina - koste es, was es wolle. Je mehr er entdeckt, desto fassungsloser ist er. Was hatte seine Frau mit Kindesmissbrauch und Pädophilie zu tun? Wer hat sie ermordet und wer ist jetzt hinter ihm her?

Die staatlichen Organe sind so gut wie machtlos. Aber eine geheimnisvolle Organisation, die keine Rücksicht auf Recht und Gesetz nimmt, scheint auf Rolands Seite zu stehen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse geraten ins Wanken, während er Sabrinas Geheimnis immer näher kommt.

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Freitag, 27. Mai 2011

Jessika–Die Konfrontation /// Teil 2

Was bisher geschah: [Teil 1]

Was nun geschieht:

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»Wenn dir keine schwierigere Frage einfällt«, lächelte Jessika, »kann ich dir das gerne erzählen. Und zeigen.«

Jetzt war ich mir sicher, dass sie keine Ahnung hatte, denn das Foto war damals samt Negativ verbrannt worden. Als ich 13 war, gab es noch keine digitale Fotografie, das Bild war auch nie nachträglich gescannt und digitalisiert worden. Also konnte sie mir nichts zeigen, die damalige Vernichtung war endgültig. Ich war gespannt, was für eine Geschichte sie mir auftischen würde.

Unsere Gläser waren leer, ich überlegte gerade, ob ich ein drittes Bier wollte oder nicht, auf nüchternen Magen, als der Kellner an unseren Tisch kam und fragte, ob ich etwas nach meinem Geschmack in der Speisekarte gefunden hatte. Weil Jessika aufgetaucht war, als ich gerade etwas aussuchen wollte, hatte ich gar nicht mehr nachgeschaut.

»Svičková«, sagte ich kurzentschlossen.

Jessika bestellte Pstruh po mlynářsku.

Als der Kellner verschwunden war, lächelte sie versonnen und begann: »Du mochtest den Schwimmunterricht nicht, allerdings lag das keineswegs daran, dass du schlecht oder nicht gerne geschwommen wärest, sondern an der Badebekleidung und dem Duschen.«

Das kann nicht sein. Woher weiß sie das?

Vermutlich konnte sie meinem Gesicht die Verblüffung ansehen, aber sie fuhr ungerührt fort: »Schwimmen hattet ihr immer Donnerstags. Eines Freitags kamst du in die Schulklasse und ringsum wurde getuschelt und gekichert, während so gut wie alle Blicke auf dir ruhten. Das ging so weiter, bis dein Freund Robin das in die Hände bekam, was unter den Tischen durch die Klasse weitergereicht wurde.«

Jessika griff nach ihrer Handtasche und holte einen Umschlag hervor. Ich konnte mir denken, was darin war, denn offensichtlich funktionierte in diesem Traum alles, was im Wachzustand unmöglich war. Also konnte auch ein vor Jahrzehnten verbranntes Foto auftauchen. Ich war sogar ein wenig gespannt auf das Bild, das ich damals, mit 13 Jahren, nur kurz gesehen hatte. Robin hatte sich als echter Freund erwiesen und die Aufnahme nicht weiter gereicht, sondern in seinem Mathematikbuch verschwinden lassen. Als wir nach dem Unterricht zusammen die Schule verließen, klärte er mich über den Grund für das Getuschel und Gekicher auf und zeigte mir das Bild. Am Nachmittag besuchten wir zusammen unsere Klassenkameradin Franziska, denn sie war die einzige, die als Urheberin in Frage kam. Ihre Eltern führten ein Fotofachgeschäft und hatten ein Fotolabor im Haus. Da das Bild vom Vortag stammte und jeder normale Kunde ein paar Tage auf seine entwickelten Bilder warten musste, konnte nur sie von heute auf morgen einen Abzug mit in die Schule bringen. Robin verlangte das Negativ, Franziska wollte erst nicht wissen, worum es ging, gab dann aber nach, als wir uns mit der Bemerkung, dann eben ihre Eltern zu fragen, zum Gehen wandten.

»Wenn in dem Umschlag das Foto ist, das damals verbrannt wurde, dann würde mich interessieren, wo es herkommt. Und vor allem wie es in deine Hände gelangt ist«, sagte ich.

»Willst du nicht nachschauen?«

Ich nahm das Couvert und griff hinein. Die Rückseite lag oben. Da stand, genau wie ich es erwartet hatte, in Mädchenschönschrift: Johannes sein Johannes.

Johannes sein JohannesIch drehte das Bild um. Es war das Foto, das mir als 13jährigem so peinlich gewesen war. Dass wohl die ganze Klasse sich darüber amüsiert hatte, war noch peinlicher gewesen als der Moment, in dem es entstanden war. Als erwachsener Mensch denkt man anders darüber, weiß, dass es vollkommen normal ist und jedem pubertierenden Jungen häufig geschieht. Aber wenn man der pubertierende Junge ist und eine Badehose trägt, die so deutlich erkennen lässt, dass man eine Erektion hat, dann möchte man im Boden versinken. Oder im Wasser bleiben, bis der Penis sich wieder beruhigt hat. Allerdings schwindet die Schwellung nicht, wenn man ständig über sie nachdenkt und wenn der Sportunterricht zu Ende ist, muss man aus dem Wasser, ob man will oder nicht.

»Das«, erklärte Jessika triumphierend, war der peinliche Moment aus deinem 13ten Lebensjahr, den du bis heute nicht vergessen hast.«

Ich schob das Foto zurück in den Umschlag und nickte. »Woher weißt du das? Wie kommt das Foto in deinen Besitz?«

»Du kannst es behalten«, bot sie mir an. »Ich habe damals zwei Abzüge gemacht, das Negativ und den anderen Abzug hast du mit Robin zusammen verbrannt. Dieses Exemplar habe ich seit damals gut verwahrt und immer wieder angeschaut.«

Ich lachte laut auf, vielleicht zu laut, denn einige Gäste auf der Terrasse warfen uns neugierige Blicke zu.

Schade, dass ich mir Träume nie merken kann, sonst würde ich mir diesen Unsinn aufschreiben, wenn ich nachher wach bin. Jessika will Franziska gewesen sein! Ach du liebe Güte!

Ich trank meinen letzten Schluck Bier und kicherte: »Jessifranziska. Franzisjessika. Franjessiska.«

In ihren Augen blitzte es vergnügt. Sie meinte: »Ich habe damals noch mehr Fotos von dir gemacht. Ich war nämlich verliebt. Ich hatte dieses« - sie tippte auf den Umschlag - »Bild auch nicht böse gemeint. Ich fand es toll, wollte es nur meiner besten Freundin zeigen, weil wir uns oft über Jungs unterhielten, fantasierten …«

Mir fiel nichts passenderes ein, als Goethe zu zitieren: »Es fehlt dir nie an närrischen Legenden; fängst wieder an, dergleichen auszuspenden.«

Der Kellner brachte unser Essen, brachte auch gleich ein frisches Bier für mich mit. Das hatte ich nicht bestellt, nahm es aber gerne. Jessikas Glas war noch halb voll.

»Dobré chutání«, sagte der Mann und nahm den Aschenbecher an sich.

Jessika strahlte ihn an: »Děkuji srdečně!«

»Rádo se stalo.«

Für meine Ohren klang Jessikas Tschechisch perfekt, allerdings konnte ich mir kein Urteil erlauben, da ich so gut wie nichts verstand, geschweige denn all die sonderbaren Laute über meine Lippen zu bringen vermochte. Mir schien es, als flirtete Jessika mit dem Kellner – und so unverständlich mir das später war, in der Rückschau, ich spürte einen Anflug von Eifersucht. Völlig absurd. Wie der ganze Nachmittag und frühe Abend bisher.

Wir aßen ein paar Minuten schweigend. Ich überlegte, wie ich Jessika klarmachen konnte, dass ihre Geschichte Unfug war. Ob es überhaupt sinnvoll war, ihr das zu erklären. Die ganze Situation war ja völlig unmöglich, wozu also etwas erklären, was sowieso nicht stattfindet oder stattgefunden hat?

Schließlich sagte ich: »Als du 13 warst, hast du in Berlin gelebt und mit einer Hausmeisterin namens Evi Müller Teile einer frischen Männerleiche verspeist.«

Sie nickte und schnitt ein Stück vom Fleisch auf ihrem Teller ab. »Ja.«

»Als Franziska 13 war, lebte sie in Memmingen im beschaulichen Allgäu und hat mit ihrer Minox heimlich Fotos gemacht.«

Jessika spießte ein Stück Knödel auf die Gabel. »Ja.«

»Also was denn nun?«, fragte ich. »Wer denn nun?«

Jessika kaute genüsslich, schluckte, runzelte die Stirn und entgegnete: »Das fragst du jetzt aber nicht wirklich, oder?«

Natürlich nicht, da wir ja gar nicht hier in der Abendsonne sitzen, tschechische Nationalgerichte verspeisen, Budweiser Bier trinken und in dem Umschlag da ein vor dreißig Jahren verbranntes Foto von meinem durch die Badehose kaum verborgenen steifen Penis liegt. Nichts hier ist wirklich.

Ich überlegte, was ich sagen sollte. Jessika kam mir zuvor: »Wenn ich, wie du meinst, ein Geschöpf deiner Fantasie bin, wenn ich, wie du in Italien erkannt hast, als Nephilim mein Alter ändern und anpassen kann, wenn ich, wie du schon vorher wusstest, viel älter bin als ein Menschenleben je dauern könnte, warum sollte ich dann nur einmal ein 13jähriges Mädchen gewesen sein?«

 

Nach dem Essen rauchten wir noch eine Zigarette, der Kellner hatte beim Geschirrabräumen einen sauberen Aschenbecher gebracht.

Das Hotel Klika ist nicht groß, vielleicht trägt gerade das zur behaglichen, fast freundschaftlichen Atmosphäre bei. Die Ausstattung der Zimmer ist schlicht, der Fernseher jeweils winzig, das W-LAN unzuverlässig … aber die Lage direkt am Wasser, die Nähe zur Altstadt und vor allem die freundlichen Menschen, die das Hotel führen und dort arbeiten, haben es mir seit Jahren angetan. So gut wie jedes Jahr verbringe ich eine Woche dort, um auszuspannen, Ideen zu sammeln, Notizen zu machen.

Hatte ich hier auch an Episoden mit Jessika geschrieben? Möglich war es, vielleicht vor etlichen Jahren. Nun saß sie neben mir, die ausgedachte, die erfundene, die unbegreifliche und undurchschaubare Fantasiegestalt. Inzwischen war mir ziemlich klar, dass mein Gedanke, alles nur zu träumen, einem Wunschtraum gleichkam. Was aus dieser Situation werden sollte, war mir völlig schleierhaft. Hatte ich Jessika herbeigedacht oder konnte sie tun und lassen, was ihr in den Sinn kam? Kommen und gehen, wann und wie es ihr gefiel? Was wollte sie überhaupt von mir? Oder was wollte ich von ihr?

»Was machen wir nun mit dem Abend?«, fragte sie.

»Wieso wir? Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

»Wir könnten schwimmen gehen …«

»Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

» … oder ins Masné krámy gehen, da ist heute Livemusik zu hören.«

»Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

»Du wiederholst dich.«

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Die Leserfrage liegt nahe:

Johannes
... geht in sein Zimmer und liest ein Buch.
... geht mit Jessika schwimmen.
... besucht mit Jessika den Jazz-Abend im Masné krámy
O tempora, o mores!
Auswertung

Na denn. Frohes Abstimmen! Fortsetzung? Folgt.