Der nächste Krebsnachsogetermin steht am Donnerstag bevor – für die beste aller Ehefrauen und mich ist das von Vierteljahr zu Vierteljahr mit sorgenvollen Gedanken verbunden, die man auch nicht wegzaubern kann. Man kann sich in gewissem Maße ablenken … entkommen werden wir solchen Empfindungen aber wohl nicht.
Gestern fiel mir beim mittäglichen Spaziergang ein, dass der regelmäßige Termin ja auch sein Gutes hat. Als im Oktober 2013 die Lebermetastasen entdeckt wurden, war das natürlich ein Schock und eine schlechte Nachricht. Zweifellos gibt es nichts Gutes an der Tatsache, dass Tumore in der Leber wachsen.
Aber. Aber ist das wirklich die ganze Wahrheit? Ist es nicht gut, dass die beiden walnussgroßen Krebsgeschwüre entdeckt wurden? Dass sie durch die Operation, so schwierig sie auch war, entfernt werden konnten, anstatt weiter zu wachsen und innerhalb von acht Monaten zum Tod zu führen?
Eben. Das Schlechte ist nicht wegzuleugnen – aber es steht nicht alleine da. Und das, liebe Blogbesucher, ist doch recht häufig im Leben so, stimmt’s?
Wir bewerten den ganzen Tag lang: unsere Erlebnisse, andere Menschen, uns selbst. Dieses ist gut, jenes ist schlecht. Im Idealfall ist das meiste gut, aber häufig fällen wir ein negatives Urteil über Ereignisse und Menschen, uns selbst eingeschlossen, ohne es so richtig zu bemerken.
Bei unseren Internet-Aktivitäten werden wir geradezu gedrängt, dieses oder jenes mit »Gefällt mir« zu markieren und interessante, unterhaltsame oder besonders treffende Artikel und Internetseiten mit einem virtuellen erhobenen Daumen zu belohnen. Kaum habe ich etwas bei Amazon eingekauft, schon werde ich eingeladen, die Qualität der Ware mit bis zu fünf Sternchen zu bewerten.
Das alles ist ja zum Teil durchaus sinnvoll. Ich nehme selbst vom Kauf bestimmter Produkte Abstand, wenn die Bewertungen anderer Kunden gute Gründe dafür erkennen lassen. Es ist sehr sinnvoll zu wissen, welche Lebensmittel und Getränke Schaden im Körper anrichten können - das würde die Werbung uns nicht verraten. Das jüngste Beispiel ist die »grüne« Coca-Cola, die statt 18 Stück Würfelzucker pro halbem Liter nun elf Stück, aber die gleichen krebserregenden chemischen Farbstoffe enthält. Die elf Stück Zucker in dem halben Liter liegen übrigens immer noch über der als unbedenklich eingestuften Zuckermenge für einen Erwachsenen pro Tag.
Doch bei alle dem Bewerten und Beurteilen gerät man schnell in die Schwarz-Weiß-Falle. Die vielen Graustufen, die zahlreichen Schattierungen gehen uns verloren. Es gelingt uns kaum noch, einfach etwas zu erleben und zu empfinden, ohne schon ein (Vor)urteil mitzubringen.
Ein kleines Experiment:
- Schließe mal, bevor du dann weiterliest, die Augen, sagen wir für eine halbe Minute, und erlebe den Moment, ohne zu beurteilen, ob er gut oder schlecht ist. Achte auf deine Empfindungen - bewerte sie nicht, bemerke sie nur. Du fühlst zum Beispiel Stoff auf der Haut, es sei denn, du bist gerade nackt. Falls das so ist, empfindest du Kälte oder dennoch Wärme? Deine Füße berühren wahrscheinlich den Boden. Wie fühlt sich das an? Vielleicht gibt es ein Geräusch in der Nähe. Woher kommt es? Duftet es nach Kaffee oder Tee oder Parfüm? ... Denk nicht über die Empfindungen nach, sondern nimm sie nur zur Kenntnis.
Nach dem kleinen Experiment: Die meisten Phänomene, die du wahrgenommen hast, die Gerüche, Geräusche, Wärme oder Kälte ... sie geschehen ohne gute oder schlechte Intentionen. Sie passieren weder »ausgerechnet dir« noch »für dich«, sondern sie finden einfach statt, ohne irgend einen Bezug zu deinem Dasein zu haben.
Das kann die Perspektiven wieder ein wenig ins Lot bringen. Ich bin weder für den Wind, der weht, noch für die Sonne, die scheint, wichtig. Das heißt nicht, dass ich unwichtig wäre, aber ich bin eben nicht das Zentrum des Universums, um das sich alles dreht.
Es lohnt sich, manchmal innezuhalten und sich zu fragen: Dass ich jetzt Ärger empfinde, frustriert oder enttäuscht bin – das liegt daran, dass etwas geschieht, was mir nicht gefällt. Aber was wäre, wenn ich nicht das Zentrum des Universums wäre? Sondern der Mensch, über den ich mich gerade aufrege? Oder keiner von uns? Der Regen, der mir meinen Ausflug vermasselt, ist der ein gewaltiger Segen für den Landwirt zwei Kilometer weiter? Die Tropfen fallen ja nicht, um mich persönlich zu ärgern. Genauso wie die Sonne nicht scheint, um mir eine persönliche Freude zu machen. So werden uns vielleicht doch Graustufen sichtbar.
Natürlich passt es nicht überall und immer, nicht zu urteilen, nicht zu beurteilen. Es ist gut zu wissen, dass Coca-Cola gesundheitsschädliche Substanzen enthält oder dass der Kobold von Vorwerk wirklich selbständig Staub aufsammelt, statt ihn durch die Gegend zu pusten. Es gehört zu unserer Existenz, vieles einzuordnen, wobei manches sehr subjektiv ist (dem einen sein Mozart ist dem anderen sein AC DC), anderes objektiv (gesundheitliche Risiken haben nichts mit persönlichem Geschmack zu tun). Es ist sehr gut, dass wir Beurteilungen anderer Menschen zur Kenntnis nehmen und eigene weitergeben können. Es ist nichts gehen das »Gefällt mir« in sozialen Medien und Testberichte aller Art einzuwenden.
Aber könnte es uns ab und zu auch mal ganz gut tun, nach Graustufen Ausschau zu halten, anstatt gleich ein schwarzes oder weißes Urteil zu fällen?
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