Samstag, 26. September 2009

Vollmacht für alle? Segen zum Abholen?

In manchen frommen Kreisen wird verkündet, dass alle Gläubigen alle Vollmacht für alle Gegebenheiten des Lebens und Anspruch auf allen erdenklichen Segen haben. Diese Lehre wird mit zum Teil sehr konstruierten »biblischen« Belegen untermauert, aber dieses Fundament hat, wenn man einen Blick in die Geschichte der ersten Gemeinde, wie sie Lukas aufgeschrieben hat, wirft, keinen Bestand. Das oft gehörte »Du musst die Vollmacht nur ergreifen (wie immer das auch aussehen soll), den Segen nur abholen, weil alle Verheißungen für dich persönlich gelten« hat überhaupt nichts mit den Realitäten der ersten Gemeinde zu tun.

Nach dem Pfingsttag wurden dem Bericht in der Apostelgeschichte zufolge tausende Menschen gläubig und die Gemeinde wuchs auch in den anschließenden Wochen täglich. Doch wenn es darum ging, dass Kranke geheilt werden sollten, war offensichtlich diese Masse von Christen machtlos, nur einzelne konnten etwas ausrichten: »Es geschahen aber viele Zeichen und Wunder im Volk durch die Hände der Apostel; und sie waren alle in der Halle Salomos einmütig beieinander. Von den andern aber wagte keiner, ihnen zu nahe zu kommen; doch das Volk hielt viel von ihnen. Desto mehr aber wuchs die Zahl derer, die an den Herrn glaubten - eine Menge Männer und Frauen -, sodass sie die Kranken sogar auf die Straßen hinaustrugen und sie auf Betten und Bahren legten, damit, wenn Petrus käme, wenigstens sein Schatten auf einige von ihnen fiele.«
Anstatt also zu Tausenden die Kranken zu heilen und andere Wundertaten zu bewirken, wartete man im Sonnenschein, bis Petrus vorbei kam.

Nicht nur Petrus, sondern »die Apostel«, heißt es in dem obigen Textausschnitt. Stephanus war nun kein namentlich erwähnter Apostel, aber auch von ihm wird Vergleichbares berichtet: »Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk.« Das bekam ihm nicht sonderlich gut, er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. »Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Sie schrien aber laut und hielten sich ihre Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines jungen Mannes, der hieß Saulus, und sie steinigten Stephanus; der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied er.«
Der erste von vielen Christen, die wegen ihres Glaubens umgebracht wurden. Er hatte offensichtlich keine Gelegenheit gehabt, einem Vollmachts- und Wohlstandsprediger zuzuhören, der ihn darüber hätte aufklären können, dass es einen »geistlichen Kampf« gibt, den jeder Christ gefälligst zu gewinnen hat - schließlich kann er ja die Vollmacht dazu »ergreifen«.

Der nächste namentlich erwähnte nicht apostolische Wundertäter ist Philippus: »Philippus aber kam hinab in die Hauptstadt Samariens und predigte ihnen von Christus. Und das Volk neigte einmütig dem zu, was Philippus sagte, als sie ihm zuhörten und die Zeichen sahen, die er tat. Denn die unreinen Geister fuhren aus mit großem Geschrei aus vielen Besessenen, auch viele Gelähmte und Verkrüppelte wurden gesund gemacht; und es entstand große Freude in dieser Stadt.« Philippus überlebt die Verfolgung, soweit wir wissen. Jedoch nicht, weil er »mehr Glauben« hat als Stephanus (im übrigen soll ja die Größes eines Senfkornes ausreichen), auch nicht weil er irgend etwas proklamiert oder eine »geistliche Schlacht« gewinnt.

Der Apostel Paulus stellt in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth einige rhetorische Fragen: »Sind etwa alle Apostel? Alle Propheten? Alle Lehrer? Haben alle Wunder-Kräfte? Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Legen alle aus?« Die Antwort ist natürlich: Nein. Alle diese Gaben, für deren Ausübung Vollmacht des Heiligen Geistes zweifellos notwendig ist, sollten in der Gemeinde vorhanden sein, aber nicht jeder von uns hat die Vollmacht für die gleichen Dinge wie ein anderer.

Wenn dir also mal wieder jemand erzählen will, dass alle Verheißungen und alle Vollmacht und aller Segen nur darauf warten, von dir »ergriffen« zu werden, dann empfehle ich einen Blick oder zwei in die Bibel. Dort finden wir ganz andere Sachverhalte. Der einzige, der uneingeschränkte Vollmacht hatte, verzichtete (nicht nur) im Augenblick größter Bedrängnis darauf, sie anzuwenden. »Und siehe, einer von denen, die bei Jesus waren, streckte die Hand aus und zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?« ... »Als aber Herodes Jesus sah, freute er sich sehr; denn er hätte ihn längst gerne gesehen; denn er hatte von ihm gehört und hoffte, er würde ein Zeichen von ihm sehen. Und er fragte ihn viel. Er aber antwortete ihm nichts.«

Und wenn dir mal wieder jemand erzählen will, dass du nur zugreifen musst, um ein sorgen- und leidfreies Leben zu genießen, dann wirf ebenfalls einen Blick oder zwei auf das, was Jesus gelehrt hat: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.« ... »Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.« ... »Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.«

Das klingt so gar nicht nach Wohlstandsgarantie und High Life.

Freitag, 25. September 2009

Vor der Wahl für nach der Wahl

Die Wahl ist nur noch 2 Tage entfernt, und schon bald werden in den Koalitionsgesprächen die Weichen für die nächsten vier Jahre gestellt. Wer auch immer die Wahl gewinnt: Wir möchten, dass die nächste Bundesregierung sich für Entwicklung und gegen Armut stark macht. Der Artikel ONE fordert die künftigen Koalitionäre dazu auf. Die Unterschriften wird ONE zu den Koalitionsverhandlungen an die Verhandlungspartner übergeben.

So lautet der Artikel ONE im Wortlaut:
Die Bundesregierung hat die Verpflichtung, entschieden gegen extreme Armut in der Welt vorzugehen. Die Erfolge der vergangenen Jahre zeigen, dass es einen Weg aus der Armut gibt. Deutschland hält die Versprechen an Afrika ein und stellt bis 2010 0,51 Prozent und bis spätestens 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit bereit.

Eigenverantwortung der Entwicklungsländer sowie transparente und koordinierte Unterstützung sind der Schlüssel für eine hochwirksame und effiziente Entwicklungszusammenarbeit. Diese muss sich an den Millennium-Entwicklungszielen der Vereinten Nationen ausrichten. Die deutsche Regierung baut daher erfolgreiche Programme in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft, Bildung und Infrastruktur aus. Zudem unterstützt Deutschland eine Handelsinitiative für Afrika und ein gerechtes Entschuldungsverfahren für Länder, die von untragbaren Schulden bedroht sind.
Wir würden uns freuen, wenn möglichst viele Menschen den Artikel unterschreiben, denn Politiker schielen nun mal immer nach den großen Zahlen, egal in welcher Partei sie auch zu finden sind.

Hier kann man unterstützen und unterschreiben: Artikel ONE

Vorher - Nachher

vorher nachher

So sah es kürzlich (als ich wie jedes Jahr zum Herbstanfang beschenkt wurde) auf dem Wohnzimmertisch aus. Es gibt so gut wie keinen Grund anzunehmen, dass mein seit vielen Jahren (20 etwa) stillgelegtes Hobby der Fotographie nicht in absehbarer Zeit wieder aufleben wird.

Donnerstag, 24. September 2009

Vom Waldmurmeltier und vom Flugzeug

Ich kann nicht einmal sagen, dass ich nicht wusste, was ich tat. Wer einen Ausschnitt aus einem noch nicht erschienenen Buch liest, weiß, dass er außer dem Ausschnitt nichts zu lesen bekommt. Schon gar nicht wird er erfahren, wie es nach dem Ausschnitt weiter geht.

Stephen King hat einen weiteren Roman geschrieben, der am 11. Oktober erscheinen wird. Auf der zugehörigen Webseite http://promo.simonandschuster.com/underthedome/22177_main.php gibt es besagten Ausschnitt zu lesen, den ich verschlungen habe. Und nun kann, nun will ich nicht bis zum 11. Oktober darauf warten, wie es weitergeht. Aber ich muss wohl, es sei denn, Amazon ist so freundlich, den Roman (wie oft bei Vorbestellungen) einen Tag zu früh zu liefern (damit die Vorbesteller ihn nicht später in Händen halten als diejenigen, die in die Buchhandlungen stürmen). Dann kann ich schon am 10. Oktober weiterlesen.

Die Besetzung des Buches ist vielversprechend. Da ist zum Beispiel Big Jim. A used car dealer with a fierce smile and no warmth, he’d given his heart to Jesus at age sixteen and had little left for his customers, his neighbors, or his dying wife and deteriorating son. The town’s Second Selectman, he’s used to having things his way. He walks like a man who has spent his life kicking ass.
So etwas soll ja vorkommen: Jemand gibt sein Herz Jesus und fortan hat er kein Herz mehr für seine Mitmenschen. Ich kenne solche Fälle. Vielleicht wäre es besser, das Herz zu behalten und Jesus einzuladen, darin zu wohnen?
Und da ist Scarecrow Joe, a 13-year-old also known as “King of the Geeks” and “Skeletor, a bona fide brain whose backpack bears the legend “FIGHT THE POWERS THAT BE.” He’s smarter than anyone, and proves it in a crisis.
In seinem Roman »Desperation« hatte Stephen King einen Zwölfjährigen als Helden, David Carver, ein Junge, der in direktem Kontakt mit Gott steht und eine Gruppe Überlebender in den Kampf gegen das Böse führt. Ich bin gespannt, ob Scarecrow Joe vielleicht ebenfalls Jesus in sein Herz eingeladen hat, sattt es ihm abzugeben. Für Joe hat Stephen King sogar - der Mann denkt mit, was zeitgemäß ist! - einen Blog eingerichtet: http://www.scarecrowjoe.com/ Auf dem Blog von Joe finden sich auch Gedanken zu Stephen Kings Geschichten und - herrlich - eine Menge Hintergrundwissen über den Schauplatz des Romans, der noch nicht erschienen ist. Sogar die fiktive Stadt Chester's Mill hat eine eigene Webseite bekommen: http://www.chestersmill.com/

In einem Interview vor ein paar Monaten meinte Herr King, ihm sei - endlich - etwas ähnliches wie »The Stand« gelungen, jenes bisher unübertroffene Endzeit-Epos, in dem Gott einer Handvoll Menschen den finalen Kampf gegen Satan zumutet. Kann ein Autor, kann Stephen King, ein solches Meisterwerk noch übertreffen oder zumindest etwas Vergleichbares schaffen? Er hat fünf Jahre an dem neuen Buch geschrieben. Womöglich war er es leid, von Fans und Kritikern immer wieder zu hören, dass sein bestes Buch inzwischen uralt ist. Also warum nicht ein neues bestes Buch schreiben?

Ob dies der Fall ist, bleibt abzuwarten. Und genau das ist mein Problem. Ich muss warten. Willnichtwarten. Mussdochwarten.

P.S.: Foto von StephenKing.com

Mittwoch, 23. September 2009

Ein postcharismatischer Bumper Sticker

Klar, unklar, aufklar

Beim Überfliegen der Nachrichten fällt mir gelegentlich eine Schlagzeile nicht wegen des Inhaltes sondern wegen des Umganges mit der Sprache auf. So wie diese Meldung:


Klar scheint mir: Geklärt ist etwas, was nicht mehr unklar ist. Aufgeklärt wird etwas, was unklar war, aber klar werden soll. Ungeklärt ist alles, was nicht klar geworden ist.

Unaufgeklärt, meint der Autor der Schlagzeile, bliebe der Tod jenes Politikers. Will er uns damit sagen, dass die Aufkläung misslungen ist oder dass sie noch im Gange wäre oder dass ihm das Wort »ungeklärt« viel zu simpel schien?

Ganz abgesehen davon: Der Tod Möllemanns scheint mir keiner Klärung zu bedürfen, denn der steht fest. Unklar sind die Umstände des Todes.

Ein anderes, wohl noch nicht begonnenes Unterfangen:

Ich bin gespannt. Bleiben die Störfälle ungeklärt, unaufgeklärt oder gelingt dieses Mal eine Klärung - womöglich gar eine Aufklärung?

Dienstag, 22. September 2009

Ein schwerer Tag

Heute nehmen wir um 15:00 Uhr den letzten Abschied von Frieda und begleiten sie zur letzten Ruhestätte. Sie fehlt uns und wird uns weiter fehlen.

Herzlichen Dank an alle, die uns über Beileidskarten, E-Mails und auch Kommentare ihr Mitgefühl ausgedrückt haben.

Montag, 21. September 2009

Sich nicht ärgern

Manche Menschen ärgern sich fürchterlich, wenn Pläne platzen oder Vorhaben nicht gelingen. Wem mit dem Ärger gedient und ob der Sache geholfen wird, sei dahingestellt. Wir hätten uns gestern ärgern können: Die Fahrradtour nach Sans Souci in Potsdam war voller Vorfreude geplant, vorbereitet, und begonnen worden, aber das nagelneue Fahrrad der besten aller Ehefrauen hatte einen platten Vorderreifen. Da wir weder Fahradflick- noch Fahrradwerkzeug besitzen noch am Sonntag eine Werkstatt offen hatte, blieb uns nichts übrig außer einzusehen: Es wird nichts aus der Tour.

An diesem Punkt hätte der Ärger einsetzen können. Statt dessen kann man aber über Alternativen nachdenken. In unserem Fall gab es ja zum Beispiel den Chevi, der in seiner dunklen Garage stand, obwohl er so gerne über sonnige Straßen schnurrt. Also wurde er flugs aus seinem (ihn selbst beschützenden) Gefängnis befreit und an die frische Luft gelassen.

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So kamen wir nicht nur ins FKK-Paradies Sans Souci, sondern später noch viel weiter, als mit dem Fahrrad. Doch zuerst ging es nach Potsdam. Als FKK-Anhänger entuppten sich die steinernen Gesellen beiderlei Geschlechtes, die zu hunderten im riesigen Park, auf den Dächern und werweißnochwo herumstehen. Die menschlichen Besucher waren samt und sonders züchtig bekleidet. Dieser Herr hier, fand ich, ist arm dran, denn er hat nur einen kompletten Arm dran, und auch in der Leibesmitte scheinen einige Zentimeter abhanden gekommen zu sein:

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Wie auch immer, wir genossen die weitläufigen Anlagen und das herrliche Wetter, ohne jeglichen Ärger über einen kaputten Fahrradreifen. Am rechten Bildrand hinter dem behüteten Blogger ist übrigens eine unbekleidete steinerne Dame zu sehen, bei der alles dran war, was so üblicherweise dran ist.

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Anschließend fuhren wir zur historischen, malerischen, atemberaubenden Havelchaussee in Berlin. Eine Straße, die eigentlich nur für Motorräder und Automobile ohne Dach geschaffen / gebaut worden sein kann. Vielleicht sollte man sie für andere Fahrzeuge mal sperren, dann wäre es noch romantischer dort.

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Falls jemand mit guten Augen das Bild etwas verwundert betrachtet: Jawohl, der Rückspiegel hat, wie es sich für brave amerikanische Rückspiegel gehört, eine Beschriftung: Objects in the rear view mirror may be closer than they appear.

Im Restaurant am Grunewaldturm (sehr empfehlenswert!) speisten wir ganz vorzüglich im Nachmittagssonnenschein und kamen dann am frühen Abend rundum zufrieden wieder zu Hause an. Ein wunderschöner Sonntag, ohne jeglichen Ärger und Verdruss.

In der Tagesschau sahen wir später einen kurzen Bericht vom grandiosen Untergang unserer Hertha. Nullzuvier. Ob sich wohl die Besucher des Spiels im Olympiastadion auch nicht geärgert haben?

Sonntag, 20. September 2009

Sich was gönnen

Wer viel und ausdauernd arbeitet, gerät leicht in die Gefahr, vor lauter Arbeit das Leben zu verpassen. Dem haben wir, auf Anregung der besten aller Ehefrauen, aktiv entgegengesteuert und uns kurzentschlossen endlich Fahrräder gegönnt, auf denen man nicht schon nach einer halben Stunde genug vom Radeln hat.

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Gestern lud das Berliner Wetter unmissverständlich dazu ein, sich aus der Wohnung zu begeben und die neuen Pegasusse ein wenig auszuführen. Der südliche Berliner Mauerweg ist landschaftlich dem Vernehmen nach der schönste Teil, und da wir in Lichterfelde Süd wohnen, haben wir direkten Anschluss.

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Um 11:30 fuhren wir los, um 16:30 waren wir wieder zu Hause. Den/die/das Garmin hatten wir zu Hause vergessen, daher sind die zurückgelegten Kilometer unbekannt. Von Lichterfelde Süd bis zur Rudower Höhe und zurück – wie weit mag das sein? Jedenfalls radelten wir 2 Stunden, pausierten Bier/Schorle trinkend, Bücher lesend und abschließend Eis essend in einem schönen Biergarten eine Stunde und fuhren dann zurück.

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Ein schöner Ausflug, bestes Radelwetter, und am Sonntag soll es noch mal so freundlich werden. In der City geht nichts mehr, verkehrstechnisch gesehen, die S-Bahn ist zu 75 Prozent kaputt, also fahren die Menschen Auto, aber die meisten Straßen sind gesperrt (Marathon) und außerdem wollen noch ein paar Zuschauer ins Olympiastadion, um Hertha beim weiteren Untergang zuzusehen.

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Ich glaube, wir werden die Stadt meiden uns wieder auf die Pegasus-Gefährte begeben und in Richtung Potsdam davon radeln. Oder Wannsee. Oder sonst wohin. Mit Gabelfederung, Sattelfederung, Acht-Gang-Nabendingsbums und so weiter. Die nächste Woche bringt wieder Arbeit genug mit sich. Man sollte ja das Leben nicht verpassen.

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Samstag, 19. September 2009

John Matthews in Hamburg

Da er gestern auf diesem Blog musikalisch in Erscheinung treten durfte, habe ich ein wenig über John Matthews, mein abgelegtes alter ego, nachgedacht und ein wenig in meinem Buch »Es gibt kein Unmöglich!« gestöbert, in dem John Matthews, der Musiker, eine nicht unerhebliche Rolle spielt.
Dabei stieß ich auf die folgende Szene, die mir in Hamburg widerfahren ist. Ich war auf dem Weg von Amsterdam nach Berlin, drogensüchtig, halb verhungert, am Ende der Kräfte. Und dann traf ich eine Familie, die anders war als viele andere. Wer weiß, ob ich heute noch am Leben wäre, ohne diese Begegnung.
Das Buch erzählt meine Geschichte in der dritten Person - wenn es »er« heißt, bin das ich. Gewesen. Damals in Hamburg:

Er landete in Hamburg, streifte einsam durch die Straßen. Mehr als der Hunger, an den er längst gewöhnt war, quälte ihn der Durst. Er betrat eine Apotheke und bat um ein Glas Wasser, bekam es, dazu ein paar Traubenzuckerstücke. Die Apothekerin war besorgt wegen seines Aussehens und bot an, einen Arzt zu rufen.
„Nein, danke”, murmelte er und ging wieder.
An einer Ecke lehnte er sich an einen Gartenzaun und sank langsam auf den Boden. Es ging nicht mehr weiter.
Johnny schloss die Augen und versuchte, das Schwindelgefühl abzuschütteln. Hinter den geschlossenen Lidern tanzten weiße Punkte in der Dunkelheit.
„Möchtest du einen Keks?” fragte eine ängstliche Stimme.
Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Vor ihm stand ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, und hielt ihm eine Tüte mit Gebäck hin.
„Nein, ich sterbe lieber. Lass mich in Ruhe.”
Der Junge schüttelte empört den Kopf. „Man stirbt nicht auf der Straße. Dazu geht man ins Krankenhaus. Das hat mein Opa auch so gemacht.”
„Hau ab, verdammt noch mal. Lass mich in Ruhe.”
Der Junge blieb stehen. Energisch sagte er: „Nein. Wenn du sterben willst, dann nicht an unserem Gartenzaun. Das gehört sich nicht. Außerdem bist du gar nicht so alt wie mein Opa.”
Johnny schloss wieder die Augen. Er fror trotz der Sonne und hatte keine Kraft mehr, zu widersprechen.
Die Stimme klang auf einmal sehr ängstlich. „Du stirbst doch nicht wirklich? Oder? Du machst doch nur Spaß?”
Nach Spaß war Johnny nun absolut nicht mehr zumute. Er schüttelte langsam den Kopf.
„Warte mal hier, lauf nicht weg.”
Das Kind verschwand um die Ecke. Johnny lachte müde, selbst wenn er weglaufen wollte, kam er momentan nicht auf die Beine.
Er hörte nach einer Weile, wie die Stimme des Kleinen aufgeregt plappernd wieder näher kam. Er redete auf jemanden ein, dass da ein langhaariger Typ am Gartenzaun saß und sterben wollte, was aber gar nicht gut sei.
Johnny fühlte eine Hand auf seiner Stirn, es griff jemand nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls. Mühsam bekam er die Augen auf.
Man sah auf den ersten Blick, dass dies die große Schwester des Jungen sein musste, die Ähnlichkeit war verblüffend. Die flachsblonden Haare, die Stupsnase, die blauen Augen, die hohe Stirn.
„Können Sie aufstehen?” fragte das Mädchen. Sie mochte dreizehn sein, höchstens.
„Ich weiß nicht. Ich kann es versuchen.”
Sie stützte ihn und er kam wieder auf die Füße, hielt sich am Zaun fest. Alles drehte sich.
„Tobias, hilf mir mal.” sagte sie und die beiden Kinder führten ihn langsam zum Gartentor und in ihr Haus.
„Er wollte keinen Keks”, erklärte Tobias bekümmert, „ich habe es versucht.”
„Setzen Sie sich da auf den Stuhl”, befahl das Mädchen, als sie in die Küche kamen. Johnny war froh, dass er nicht mehr stehen musste.
„Ich laufe schnell zu Mama”, sagte sie zu ihrem Bruder, „warte hier”.
„Und wenn er doch stirbt, was mache ich dann?”
Johnny sagte: „Keine Angst, Tobias, es ist schon besser. Gleich geht es mir wieder gut.”
„Du hast nicht so eine Trobodingsbums wie Opa, oder?”
„Nein, bestimmt nicht. Wie heißt denn deine Schwester?”
„Antje. Sie holt Mama, die kennt sich aus.”
Johnny hielt sich tapfer aufrecht, er wollte dem Kleinen keine Angst machen, der ihn so besorgt musterte. Antje kam nur fünf Minuten später mit ihrer Mutter zurück. Sie trug eine Arzttasche und musterte forschend den Schützling ihrer Kinder.
„Drogen, junger Mann?” fragte sie.
„Zur Zeit nicht. Seit drei Tagen nüchtern.”
Sie leuchtete ihm in die Augen und nickte. Routiniert überprüfte sie den Blutdruck, zählte den Puls und legte ein Stethoskop auf seine Brust.
„Sie haben lange nichts gegessen, oder?”
„Ja. Ist ‘ne Weile her.”
„Legen Sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer, ich rufe einen Krankenwagen an.”
„Nein, bitte nicht. Ich verschwinde gleich wieder.”
„So gehst du nirgends hin, mein Junge.” Sie ließ das Sie beiseite und redete wie zu einem unvernünftigen Kind.
Johnny ließ sich zum Sofa führen und war dankbar, dass er liegen durfte.
„Also keinen Krankenwagen?”
„Bitte nicht. Ich möchte nur kurz ausruhen, dann geht es weiter. Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser haben?”
Antje rannte schon los in die Küche.
„Wie alt bist du eigentlich? Und hast du einen Namen?”
„Ich werde am 23. September siebzehn und heiße John. John Matthews.”
„Ich bin Dr. Weinhold. Trink nur einen kleinen Schluck, sonst wird dir vielleicht schlecht.”
Er nahm das Glas und folgte ihrem Rat. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
„Ich muss zurück in meine Praxis. Tu mir einen Gefallen und bleib hier liegen. In einer Stunde bin ich wieder da und kümmere mich um dich. Ich gebe dir jetzt eine Spritze zur Stärkung.”
Sie schob den rechten Ärmel des Pullovers hoch, dann den linken. „Wenigstens kein Heroin”, meinte sie zufrieden und injizierte eine klare Flüssigkeit.
Johnny versprach, liegen zu bleiben, und sie ging zurück in ihre Praxis.
Die beiden Kinder hielten Wache, versuchten, ihn aufzumuntern, und langsam ging es ihm etwas besser. Er wollte sich hinsetzen, aber Tobias verlangte unnachgiebig, dass er den Anordnungen der Mutter gehorchte.
Als die Ärztin nach Hause kam, fühlte sie kurz den Puls, fragte, wie er sich fühlte und meinte: „Du stinkst, John Matthews. Ich mache dir eine Suppe, danach kommst du in die Wanne. Wenn mein Mann dich so sieht, ruft er den Kammerjäger.”
Während er die Suppe löffelte, fragte Johnny: „Warum tun Sie das eigentlich für mich? Sie kennen mich doch gar nicht.”
Frau Weinhold erklärte: „Weil du ein Mensch bist, der Hilfe braucht. Ganz einfach.”
„Danke. Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht lange zur Last falle. Morgen früh verschwinde ich.”
„Das wird sich finden. Nun iss in Ruhe auf, dann ab in die Wanne. Sei ein braver Junge.”
Die Suppe war gut, eigentlich hätte er noch mehr vertragen können, aber er ließ es dabei.
Frau Weinhold führte ihn ins Bad, wo sie schon Wasser eingelassen hatte. Sie wartete, bis er sich ausgezogen hatte und half ihm in die Wanne.
„Deine Klamotten kommen in die Maschine, ich gebe dir etwas von meinem Mann zum Anziehen. Es wird alles zu weit sein, aber das ist wohl zu verschmerzen. Ich lasse die Tür hier auf, falls du merkst, dass dir schwindelig wird, rufst du bitte sofort. Tobias schaut ab und zu rein, ob du noch da bist.”

Johnny blieb über eine Woche bei Familie Weinhold. Er kam wieder zu Kräften, erzählte ein paar von seinen Erlebnissen und dass er nach Berlin zu seinem Großvater wollte.
Sie waren freundlich und hatten keine Bedenken, ihn allein in ihrem Haus zu lassen, wenn die Kinder in der Schule und die Eltern bei der Arbeit waren. So viel Vertrauen wollte er nicht enttäuschen und die Besitztümer der Familie blieben tabu.
Am Wochenende arbeitete er einen Teil der Schuld ab, indem er im Garten Kartoffeln aus der Erde klaubte, eine ungewohnte und im Nachhinein durch den Muskelkater schmerzhafte Erfahrung, aber er tat es gern. Seine Kleidung hatten sie gewaschen, zum Teil aber auch kurzerhand in den Müll geworfen. Er erhielt neue Unterwäsche und drei gebrauchte Hemden, die Herrn Weinhold zu eng geworden waren.
Beim Abschied versprach er, wirklich zu seinem Großvater zu reisen und neu anzufangen. Tobias wollte ihn gar nicht gehen lassen, er war stolz und inzwischen felsenfest überzeugt davon, dass er dem Gast das Leben gerettet hatte, was ja auch vielleicht nicht ganz abwegig war. Johnny versprach dem Jungen, ihm zu schreiben, sobald er zu Hause sei.
Herr Weinhold drückte ihm noch einen Fünfzigmarkschein in die Hand und brachte ihn mit dem Wagen zur Autobahn nach Berlin.
„Mach’s gut, Junge. Wir haben dich nicht aufgepäppelt, damit du doch noch in der Szene endest.”
„Danke für alles. Ich kann es kaum glauben, dass es Menschen wie Sie gibt.”
„Glaub es ruhig und komm auf die Beine.”
Johnny war entschlossen, es zu versuchen. Die DDR mit den scharfen Grenzkontrollen lag zwischen ihm und seinem Großvater.
Er sah dem Auto hinterher und murmelte: „Kann es sein, dass eure Kinder Engel sind?”

Soweit der Ausschnitt, bei dem mir, als ich ihn jetzt las, innerlich wieder sehr wunderlich zumute war. Na ja, nicht wunderlich, sondern tief bewegt und dankbar. Einschließlich Kloß im Hals.

Wer das ganze Buch lesen möchte, darf es gerne tun: Es gibt kein Unmöglich!