Dienstag, 28. September 2010

Neuland – Teil 11

Zunächst die Pflichtübung, der Verweis auf die vorangegangenen Teile: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9] [Teil 10]

Nun die gute Nachricht für zappelige Leser: Gleicht geht es mit Teil 11 weiter.

Hier eine Nachricht zur Folge 10: Die Überschrift hätte da nicht hingehört. Sondern eher über das Kapitel 11.

Und nun die schlechte Nachricht für die Nimmersatten: Dies ist die vorletzte Folge. Teil 12 wird der Schluss der Geschichte sein. Tja.

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Kommt Besuch?

Sie hatten Angst gehabt, alle vier. Keiner von ihnen verfügte über eine medizinische Ausbildung, und es gab nichts, was früher, in jener vergangenen Welt, selbstverständlich gewesen war. Keine Hebamme, keinen Kreißsaal, keine ärztliche Begleitung. Aber die Angst war unbegründet, wie sich herausstellte. Die Geburt der beiden ersten Kinder im Neuland verlief ohne jegliche Komplikationen, fast beiläufig. Der Fluch des Kindergebärens unter Schmerzen schien seiner Wirksamkeit verlustig gegangen zu sein.

Ein kalter Winter lag hinter ihnen. Sie hatten ihn ohne Mangel überstanden, da sie rechtzeitig eine reiche Ernte eingebracht und genügend Vorräte eingelagert hatten. Während der Wochen, in denen der Schnee hoch lag, hatten sie einander nicht besuchen können, da sie es nicht riskieren wollten, dass jemand auf einem vereisten Hang stürzte, abgesehen davon, dass ein Durchkommen durch die Schneemassen ausgesprochen mühsam gewesen wäre. Ihre Wohnungen lagen einen halben Tagesmarsch auseinander, an den entgegengesetzten Enden eines Tales, das von Bergspitzen eingerahmt geradezu ideale Lebensbedingungen bot. Bersan und Bjora hatten eine Höhle mit zwei Räumen bezogen, während Asthante und Anron sich ein Blockhaus gebaut hatten, eine Unternehmung, die ihnen erst gelang, nachdem sie taugliche Werkzeuge aus Stein hergestellt hatten.

Ob das Tal von den Hütern und Hirten für sie vorbereitet worden war oder ob das Klima ganz natürlich für die vielfältigen Früchte, Korn, Kartoffeln und sogar Weinreben an einem Abhang gesorgt hatte, blieb ihnen verborgen. Sie ernährten sich überwiegend vegetarisch, aber gelegentlich gab es auch Hasen- oder Rehbraten. Nachdem sie in den ersten Wochen noch versucht hatten, mit Hütern oder Hirten Kontakt aufzunehmen, hatten sie irgendwann begriffen, dass sie selbst diese Funktionen bekommen hatten.

Sie hatten nie den Versuch unternommen, eine Zeitrechnung wieder einzuführen, es spielte keinerlei Rolle, ob nun Montag oder Mittwoch war. Es war ebenso unerheblich, ob es 10 Uhr oder 14 Uhr sein mochte.

Basthera Die beiden Kinder kamen im Abstand von zwei Tagen zur Welt, ein paar Wochen bevor der Frühling den Schnee aus dem Tal vertrieb. Asthante und Anron nannten ihren Sohn Airos. Der Klang des Namens gefiel ihnen, sie wussten nicht, ob er eine Bedeutung hatte, aber das spielte keine Rolle, fanden sie. Airos war kräftig und vollkommen gesund, soweit sie das beurteilen konnten.

Bjora und Bersan war das Geschrei ihrer kleinen Basthera eine Erlösung. Sie hatten befürchtet, das Kind könnte wie seine Mutter ohne Stimme geboren werden, aber auch diese Angst erwies sich als unbegründet.

Bjora hatte immer wieder versucht, einigermaßen verständliche Laute hervorzubringen, seit sie in der Höhle dem finsteren Zorgas begegnet waren und Bjora zum ersten Mal im Leben ihre eigene Stimme gehört hatte. Es waren verzweifelte Schreie gewesen, aber es war eine Stimme. Geduldig beobachtete sie, wie Bersan beim Sprechen die Lippen bewegte, legte ihre Hände auf seinen Hals und seine Brust, um die Vibrationen seiner Stimme zu spüren. Sie konnte stumme Worte mit den Lippen formen, die er ablas, aber die Stimmbänder gehorchten ihr nicht.

Basthera dagegen äußerte mit zufriedenem Glucksen, kräftigem Gebrüll oder fröhlichem Quietschen ihre jeweilige Stimmungslage.

 

»Wie gefällt euch euer Schwiegersohn?«, fragte der stolze Anron, als die beiden Familien sich sechs Wochen nach den Geburten, nachdem die Schneeschmelze vorüber war, in der Höhle der B-Familie trafen.

Bersan war nicht weniger stolz als Anron. Er hob seine Tochter in die Höhe und sagte: »Sehr gut, einen kräftigen Buschen habt ihr da. Ich hoffe, er wird mit seiner Frau zufrieden sein. Ich gebe mein Einverständnis zur Hochzeit!«

Asthante nahm die kleine Basthera in die Arme, Bjora kuschelte mit Airos.

Sie saßen in der wärmenden Sonne vor der Höhle, wo seit dem Herbst ein großer Tisch und zwei Bänke standen. Es hätten bequem acht Menschen Platz finden können. So weit war die Bevölkerung noch nicht gewachsen, aber Bersan hatte gemeint, wenn sie schon einen Essplatz im Freien schufen, dann gleich für die nächste Generation mit.

Beide Wohnungen waren mittlerweile ausgestattet mit Möbeln und allerlei Gefäßen, aus Ton geformt und gebrannt. Sogar das Teppichknüpfen hatten sie gelernt. Bjora hatte als kleines Kind gelegentlich einem Handwerker aus ihrem Dorf zuschauen dürfen, der Textilien herstellte, und sich verschiedene Techniken so gut gemerkt, dass sie ihre Gefährten unterrichten konnte.

Die Höhle und das Blockhaus waren leicht zu beheizen. Für den Winter hatten sich beide Paare Kleidung angefertigt, sogar einigermaßen bequeme Stiefel waren ihnen nach etlichen Fehlversuchen gelungen. Die Kleidung wurde jedoch nicht zur Gewohnheit, sondern nur dann angelegt, wenn es die Kälte draußen unbedingt verlangte. Es war allen vier Gefährten peinlich, sich angezogen zu begegnen, als seien die Hosen und Jacken etwas Unanständiges, Verwerfliches; Relikte aus einer anderen Welt, mit der sie nichts mehr zu tun haben wollten.

Zufrieden und gut gesättigt saßen sie nach dem Mahl auf den Bänken vor der Höhle, die Säuglinge schlummerten im Schatten auf einem weichen Fell. Asthante blickte hinüber zu dem munteren kleinen Bach und beobachtete zwei Vögel, die an einer flachen Stelle im Wasser badeten. Bald würde das Wasser der kleinen Seen im Tal wieder eine Temperatur haben, die zum Baden und Schwimmen einlud.

Bjora berührte sie am Arm, um ihren Blick auf sich zu lenken. Sie formte mit den Lippen langsam und deutlich die Worte: »Wir bekommen morgen Besuch.«

Die Gefährten hatten sich längst daran gewöhnt, dass Bjora – womöglich anstelle ihrer Stimme – eine besondere Gabe besaß, für die sie keinen rechten Namen fanden. Auch Anron hatte so manches empfunden, gespürt, ohne sagen zu können, warum oder woher, Asthante und Bersan hatten gelegentlich ähnliche Eindrücke der innerlichen Gewissheit, aber bei Bjora war die Fähigkeit viel ausgeprägter. Asthante hatte mit dem Begriff Prophetie versucht, der Gabe einen Namen zu geben, Anron war Hellsehen eingefallen, aber kein Wort beschrieb richtig das Phänomen. Bjora wusste nicht in erster Linie über Zukünftiges bescheid, obwohl das gelegentlich vorkam, wie damals, als sie auf dem Weg zur Begegnung mit Zorgas gewesen waren. Bjora wusste einfach manches, was sie nicht wissen konnte, wenn man ausschließen wollte, was in der früheren Welt nicht normal gewesen war. Sie wusste, welches Gestein zur Herstellung von Äxten und Messern taugte, führte die Gruppe zielstrebig zum ausgedehnten Kartoffelfeld, genauso zielstrebig, ohne zu suchen, zum Weinberg und zur einzigen Stelle im Tal, an der Feuerstein zu finden war. Als sie ihre Wohnungen einrichteten, war es immer Bjora, die eine Lösung für auftretende Schwierigkeiten wusste. Auch bei Problemen, die nicht – wie das Teppichknüpfen – mit ihrem vorherigen Leben in Zusammenhang gebracht werden konnten. Bjora wusste. Sie ahnte nicht, sie mutmaßte nicht, sie wusste. Woher, konnte sie allerdings selbst nicht erklären, sie versuchte es auch gar nicht.

Nun wusste sie offenbar, dass Besuch zu erwarten war.

Anron fragte: »Ein Wächter, ein Hüter?«

Bjora schüttelte den Kopf.

Bersan war besorgt: »Doch nicht etwa der widerliche Cowboy?«

Wieder ein Kopfschütteln.

»Menschen?«, versuchte es Asthante.

Bjora griff nach ihrer Schiefertafel und ihrer Kreide und schrieb: Gott.

Anron sagte sofort: »Ich glaube nicht an Gott. Wenn es einen Gott gegeben hätte, dann wäre so manches nicht passiert.«

Asthante meinte: »Ich bin nicht so sicher wie du. An den Gott, den man mir in jener anderen Welt gepredigt hat, glaube ich allerdings auch nicht. Aber vielleicht haben ja die Prediger Unfug geredet?«

»Eine Menge Unfug, so viel ist sicher«, antwortete Anron. »Der eine Gott hat seinen Leuten Sprengstoffgürtel umgebunden, damit sie möglichst viele Menschen umbringen oder sie gleich in Flugzeuge gesetzt, die man prima in Gebäude steuern kann. Der andere hat sich erst ein Lieblingsvolk ausgesucht, um dann dessen Nachbarn mit Mann und Maus bei Bedarf ausrotten zu können. Der nächste hat seinen Sohn sterben lassen bei dem vergeblichen Versuch, die Menschen zu retten. Soweit ich weiß, sind nur vier Exemplare übrig geblieben…«

Bjora lächelte und notierte auf ihrer Tafel: Er ist anders.

Bersan zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie an Übernatürliches geglaubt, damals, aber seit ich hier angekommen bin, hat sich das geändert. Doch wohl bei uns allen, oder?«

»Ja, das stimmt schon«, gab Anron zu, »zumindest soweit es unsere Trennung von Natürlich und Übernatürlich aus der vergangenen Welt betrifft. Die Wächter, die Hirten, auch der beängstigende Zorgas, sie haben alle Fähigkeiten, die unsere übersteigen. Du übrigens auch, liebe Bjora. Aber das kann doch trotzdem natürlich sein, hier gelten eben erweiterte oder andere Naturgesetze, die ich nicht durchschaue. Die wir nicht durchschauen. Aber niemanden von diesen Wesen würde ich als Gott bezeichnen, es sei denn, wir kehren zu einem altertümlichen Götterbild zurück: Ein Gott für die Sonne, einen für das Gewitter, einen für die Tiere, einen für die Fruchtbarkeit …«

Beim Stichwort Fruchtbarkeit begannen Arios und Basthera gleichzeitig, sich zum Zwecke der Nahrungsaufnahme bemerkbar zu machen.

 

Als die Sonne hinter den Gipfeln verschwunden war, zogen sich die Familien in die Höhle zurück. In beiden Wohnungen gab es Platz genug für alle und genügend Lagerstätten, denn aufgrund des weiten Weges, der ihre Wohnorte trennte, war es üblich, dass sie stets über Nacht blieben, meist sogar mehrere Tage verweilten, wenn sie einander besuchten.

Anron schlief schon fast, als Asthante flüsterte: »Was würdest du Gott fragen wollen, wenn er tatsächlich zu Besuch käme?«

»Er kommt nicht«, brummte Anron. »Dieses Mal irrt sich Bjora.«

Asthante kuschelte sich an ihn und sagte: »Wir werden es ja sehen. Schlaf gut, ich liebe dich!«

»Vielleicht frage ich ihn, womit ich eine so wunderbare Frau verdient habe«, meinte Anron.

Bis sie dann wirklich einschliefen, verging noch eine ganze Weile.

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Fortsetzung, die letzte, folgt. Oder sollte ich schreiben: Ende folgt?