Zwischen uns sei Wahrheit, lieber Leser dieser Rezension. Das Buch, das ich hier empfehle, ist ein zwiespältiges Werk; ein gutes und ein bedenkliches Buch zugleich.
Vorab: Man darf nicht vergessen, dass man es bei der Lektüre mit einem
Roman zu tun hat. Ein Roman darf vieles, was einem Sachbuch anzukreiden wäre. Zum Beispiel den Leser samt Protanonisten aus dieser Welt heraus in eine andere entführen. Nicht irgend eine außerirdische Sphäre, dies ist kein Science-Fiction-Roman, sondern - um es etwas vereinfacht auszudrücken - in unsere Welt, wie sie eigentlich sein sollte. Wie sie sich der Schöpfer gedacht haben mag, wenn man einen Schöpfer in Betracht zieht.
Wiliam P. Young, so heißt der Autor, auf diesem gedanklichen Weg zu folgen, fällt Europäern sicher schwerer als Amerikanern. Der Protagonist Mackenzie Allen Phillips, meist kurz Mack genannt, ist ein Typus Mensch, den es hier in Deutschland weit weniger häufig gibt als in der Heimat des Autors. Mack ist der typische Amerikaner, der selbstverständlich sonntags die Kirche besucht, vor dem Essen ein Dankgebet spricht und ein »christliches« Leben führt. Er zweifelt nicht an der Existenz Gottes, wenngleich er keine allzu persönliche Beziehung zu Gott pflegt, sondern landläufig-traditionell gläubig lebt: Man ist Christ, liest die Bibel und gehört einer Kirche an.
Im säkularisierten Europa trifft man solche Menschen womöglich noch in einigen ländlichen Gebieten in größerer Zahl an. In Amerika ist das noch immer eine Beschreibung der Mehrheit der Bevölkerung.
Zurück zu Mackenzie. Während eines Wochenendausfluges verschwindet Missy, die kleine Tochter, spurlos. Die Suche bleibt erfolglos, es gibt bald keinen Zweifel mehr, dass sie von einem Serientäter entführt und umgebracht wurde, obwohl die Leiche des Kindes nicht auffindbar ist. Die blutdurchtränkte Kleidung des Mädchens und die Beschreibung des Entführers sprechen deutlich genug, um Hoffnungen zu ersticken.
The Great Sadness senkt sich auf Macks Leben.
So weit, so traurig und leider auch so realistisch. Wir alle kennen solche Geschichten aus den Medien, sie sind keine Fiktion, sondern grausame Wirklichkeit. Mancher leitet daraus ab, dass es keinen barmherzigen und guten Gott geben kann.
Doch Mack erhält eine handschriftliche Einladung von »Papa«. So nennt seine Frau Gott, da sie ein etwas engeres Verhältnis zu ihm zu haben scheint als Mack. »Papa« lädt ihn in ausgerechnet die Hütte ein, in der man damals die blutdurchtränkten Kleider seiner kleinen Tochter gefunden hat. Ein grausamer Scherz eines Verrückten? Eine Falle des Mörders? Oder tatsächlich eine Einladung von Gott persönlich? Auf jeden Fall hat Macks Frau trotz der Unterschrift »Papa« nichts damit zu tun, so viel ist sicher.
Weil Mack, der keine Ahnung hat, was ihn und ob ihn überhaut etwas erwartet, sich auf das Wochenende einlässt (vorsichtshalber mit Schusswaffe im Gepäck), kann uns der Autor des Romans zusammen mit Mack in jene »andere« Welt entführen, in der es möglich und an der Tagesordnung ist, wie Adam und Eva einst mit Gott zu plaudern.
Allerdings hat Mack zunächst Mühe, Gott zu erkennen. Er begegnet keineswegs jemandem, der Gandalf aus dem Herrn der Ringe ähneln würde. Für manchen Leser mag das, was in der Hütte und ringsum bei Ausflügen folgt, irritierend sein. Schon wegen der Darstellung von »Papa«, Jesus und des Hei- ja, da sind wir schon mitten in den Problemen für unsere traditionellen Vorstellungen:
Der Heilige Geist ist
weiblich. Bono, Sänger von U2, hat schon vor Jahren über den Geist Gottes gesungen:
She moves in mysterious ways. In diesem Buch nun heißt sie Sarayu. Doch auch »Papa« begegnet Mack zunächst als Frau, als Afroamerikanerin, da der Begriff »Vater« für Mack aufgrund der eigenen Kindheit nicht viel Gutes zu bedeuten hat.
Die drei Personen des einen Gottes, eine Frau namens »Papa«, Jesus und Sarayu begleiten nun den Protagonisten durch das Wochenende. Sie sind / er ist, nicht nur was Namen und Geschlecht betrifft, völlig anders, als religiöses Denken (und Establishment) es in Amerika oder hierzulande zulassen möchte.
Es ist ein mutiges Buch, denn dass ein Autor, selbst in einem Roman, dermaßen radikal mit dem herkömmlichen Gottesbild bricht, muss zu vehementen Protesten der traditionsverhafteten Geistlichkeit führen. Das war auch in Amerika prompt der Fall, manch ein Hirte wollte seinen Schäfchen gar verbieten, »The Shack« zu lesen. Dennoch (oder deshalb?) hat das Buch offensichtlich ein Dauerabonnement für die Bestsellerlisten.
Nun ist die deutsche Ausgabe erschienen, man darf gespannt sein, ob es auch hierzulande entsprechende Reaktionen geben wird.
Doch zurück zur Geschichte, die William Paul Young erzählt und zu der Zwiespältigkeit, die ich empfunden habe. Erzählerisch ist »The Shack« kein Meisterwerk.
Mack wird sehr idealisiert dargestellt, so perfekt, dass er mir im Lauf der Lektüre unglaubwürdig wird. Beim besten Willen kann ich mir einen solchen Mustervater, Musterehemann und Mustermenschen nicht im wirklichen Leben vorstellen - samt Musterehefrau übrigens. Beide machen immer so gut wie alles richtig.
Auch meine ich, dass der Autor sich etwas zu viel vorgenommen hat, zumindest für den Umfang des Buches. Er will möglichst allen Fragen nachgehen, die es rund um Gott, Mensch und das Leid sowie die Ungerechtigkeit der Welt gibt. Und Antworten vorschlagen.
- Wie kann Gott, vorausgesetzt, er ist ein guter Gott, solch ein Verbrechen an einem unschuldigen Kind zulassen?
- Wie muss man leben, damit Gott zufrieden ist?
- Bestraft und erzieht Gott die Menschen durch Krankheit oder anderes Leid?
- Wird das nicht langweilig, im Himmel immer nur auf goldenen Straßen rumzulaufen und Loblieder zu singen?
- Wer ist für Naturkatastrophen verantwortlich zu machen?
- Warum all die Kriege und Abschlachtereien im Alten Testament?
- ... und viele weitere Fragen und Problemkreise.
Was Young schreibt, ist - wie schon oben angedeutet - alles andere als »kirchenkonform«. Zum Beispiel wenn sich Mack und Jesus über die Kirche / Gemeinde unterhalten:
Mack paused, searching for the right words. "You're talking about the church as this woman you're in love with; I'm pretty sure, I haven't met her." He turned away slightly. "She's not the place I go on Sundays," Mack said more to himself, unsure if it was safe to say out loud.
"Mack, that's because you're only seeing the institution, a man-made system. That's not what I came to build. What I see are people and their lives, a living, breathing community of all those who love me, not buildings and programs."
Mack was a bit taken back to hear Jesus talking about "church" this way, but then again, it didn't really surprise him. It was a relief. "So how do I become part of that church?" he asked. "This woman you seem to be so gaga over."
...
"As well-intentioned as it might be, you know that religious machinery can chew up people!" Jesus said. "An awful lot of what is done in my name has nothing to do with me and is often, even if unintentional, very contrary to my purposes."
"You're not too fond of religion and institutions?" Mack said, not sure if he was asking a question or making an observation.
"I don't create institutions - never have, never will."
Die Antworten, die Young anbietet, habe ich so gut wie immer als nachvollziehbar empfunden, und sie sind auch in sich schlüssig. Das Gottesbild, das er in diesem Roman zeichnet, teile ich weithin schon eine ganze Weile. Ich halte dieses Buch für hervorragend geeignet, dem einen oder anderen Christen ein wenig die Augen dafür zu öffnen, dass nicht alles, was von einer Kanzel verkündet wird, unbedingt und immer richtig sein muss.
Doch, und da taucht der Zwiespalt wieder auf, so gut dieses Buch für nachdenkliche und suchende Gläubige sein mag, es taugt meiner Meinung nach nicht dazu, Menschen für Gott zu interesieren, die davon überzeugt sind, dass es keinen Gott gibt. Das muss und soll ja nun auch nicht die Aufgabe eines Romans sein.
Es ist dem Autor jedoch nicht gelungen, das zeigen auch etliche Rezensionen und Bewertungen in säkularen Medien, so spannend und interessant zu erzählen, dass ein Leser, der mit dem Glauben nicht viel oder gar nichts am Hut hat, dem Buch sonderlich viel abgewinnen könnte.
Wer am Thema »Gott und Mensch« grundsätzlich nicht interessiert ist, wird die seitenlange Dialoge als ermüdend und die Handlung als ungenügend empfinden. Der arg konstruierte Schluss sei hier sowieso mit dem gnädigen Mantel des Schweigens bedeckt.
Man muss schon am Thema an und für sich interessiert sein, wenn man das Buch interessant finden soll. Als
Erzählung ist »The Shack«, trotz einiger hervorragender Szenen, allenfalls Durchschnitt. Stilistisch und sprachlich zeichnet sich der Text ebenfalls nicht aus: Nicht schlecht, aber auch nicht gut.
Mein Fazit: Ich habe das Buch trotz der oben angedeuteten Schwächen mit Begeisterung und nicht unerheblichem »inneren Gewinn« gelesen. Ich empfehle es mit voller Überzeugung als eine herausragende Lektüre, weit besser als mancher Alltagslesestoff. Nur sollte der Leser erstens nie vergessen, dass er einen
Roman liest, und zweitens nicht zu sehr an traditionellen Formen und Lehren
festkleben wollen. Die werden nämlich kräftig erschüttert. Und das ist auch gut so!
Ach ja, und drittens: Wer am Thema Gott und Mensch grundsätzlich nicht interessiert ist, den wird das Buch kaum sonderlich begeistern. Es sei denn, Sarayu wird aktiv?