Donnerstag, 30. September 2010

Neuland – Das Ende

Bevor ich mich verbal und virtuell verprügeln lasse, gebe ich dem Drängeln nach und präsentiere das Ende der Geschichte. Nicht allen wird er schmecken, der letzte Gang. Neu hinzustoßenden Lesern würde ich allerdings empfehlen, zunächst – auch wenn es eine Weile dauert – die vorangegangenen Teile zu lesen. Sonst ist der Schluss gar kein Schluss.

Die Teile: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9] [Teil 10] [Teil 11]

So. Und nun – auf eigene Gefahr der verehrten Leser – der Schluss.

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Bitteres Erwachen

»Herr Wegemann! Können Sie mich hören, Herr Wegmann?«

Er grub sich durch den Tunnel der lähmenden Finsternis und versuchte, zu begreifen, was vor sich ging.

»Herr Wegemann! Kommen Sie zu sich. Sind Sie da?«

Wer war dieser Herr Wegmann? Es war Asthanthes Stimme, die da rief. Er konnte nicht gemeint sein, aber irgendwie hatte es doch mit ihm zu tun.

»Hören Sie mich? Können Sie die Augen aufmachen?«

Er versuchte es, und tatsächlich hoben sich die Augenlider und gaben einen kleinen Spalt frei. Das Licht blendete ihn und er erkannte nichts. Er blinzelte, schaute, blinzelte.

»So ist es gut! Wachen Sie auf, Herr Wegemann!«

Er wollte Asthante mitteilen, dass es keinen Herrn Wegemann mehr gab, dass sein Name Anron sei, aber dazu war er noch nicht fähig. Er konnte nur verständnislos die merkwürdige Umgebung mustern, in der er die Augen geöffnet hatte.

»Er wacht tatsächlich auf«, sagte eine Männerstimme. War der Besuch gekommen, während er schlief? Warum hatte Astanthe, ihn nicht rechtzeitig geweckt? Nein. Er schlief und träumte. Doch was sollte das für ein merkwürdiger Traum sein, in dem er geweckt wurde und sofort wusste, dass er schlief? Er musste träumen, denn das was er sah, gab es schon seit Hunderten, nein, seit Tausenden von Jahren nicht mehr.

Eine Infusionsflasche, elektrisches Licht, Männer und Frauen in weißen Kitteln, Monitore. Er hörte, dass Lautsprecher vor sich hin summten und piepsten, aber das alles war doch längst Vergangenheit?

»Können Sie mich verstehen, Herr Wegemann?«

Seine Augen suchten nach der Quelle dieser freundlichen Stimme und fanden sie.

»Asthanthe, wo sind wir hier?«, flüsterte er so kraftlos und leise, dass er nicht sicher war, ob sie ihn verstanden hatte.

»Sie sind im Krankenhaus, Herr Wegemann. Es gab einen Unfall, aber jetzt sind Sie gut aufgehoben. Ich bin Dr. Neumeier.«

»Wo sind Bjora und Bersan?« brachte er mühsam hervor. »Wo ist unser Kind?«

Einer der Männer benetzte ihm die Lippen mit ein paar Tropfen Wasser und schaute fragend zu Asthanthe? Frau Dr. Neumeier? hinüber. »Bisoprolol?«, fragte der Mann.

Asthante? Dr. Neumeier? sagte »später« und sah ihm weiter in die Augen, der Blick auf vertraute Weise beruhigend. Sie erklärte: »Sie hatten einen Unfall, Herr Wegemann. Sie waren lange im Koma, aber jetzt sind Sie wieder bei uns und werden gesund. Versuchen Sie, wach zu bleiben, eine kleine Weile. Haben Sie Schmerzen?«

Ein Unfall? Koma? Er wollte sich dagegen wehren, die andere, neue Welt war so viel schöner gewesen. Mochte dies hier unter Umständen doch kein Traum sein? Halt, nein. Das konnte nicht stimmen, schließlich stand Asthanthe an seinem Bett. Zwar nicht nackt wie gewohnt, sondern in einem weißen Kittel, aber er erkannte sie ohne jeden Zweifel, schließlich hatte er fast ein Jahr mit ihr gelebt.

»Haben Sie Schmerzen, Herr Wegmann?«, wiederholte sie ihre Frage.

Es war seine Asthanthe, obwohl sie eine Brille trug. Sie nahm seine Hände – vorsichtig, damit die Nadel nicht verrutschte -  in ihre und hielt sie fest, eine vertraute und liebgewonnene Geste, sah ihm weiter in die Augen und fragte: »Können Sie mich verstehen?«

»Ja, ich verstehe dich«, flüsterte er, dann schlief er wieder ein.

 

Healthcare upcloseAls er Stunden später aufwachte, stand sie wieder an seinem Bett und nahm sofort seine Hände.

»Wie viel Zeit ist vergangen?«, fragte er.

»Sie waren drei Monate und vier Tage ohne Bewusstsein, Herr Wegemann.«

»Was ist geschehen?«

»Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?«

Er prüfte seine Empfindungen. »Nein, ich habe keine Schmerzen, ich bin nur sehr müde. Was ist mit mir passiert?«

»Gleich, Herr Wegemann, ich erzähle es Ihnen. Versuchen Sie jetzt bitte, Ihre Arme und Beine zu bewegen, geht das?«

Er gab sich Mühe, konnte aber nicht feststellen, ob er Erfolg hatte. Die Ärztin nickte jedoch zufrieden und lächelte.

»Sie sind noch sehr geschwächt, aber das bringen wir schon in Ordnung. Sie müssen Geduld haben, dann wird es gehen.«

»Wo bin ich und warum?«

»Sie sind in München, man hat Sie eingeflogen, nachdem man Sie gefunden hatte. Woran können Sie sich als letztes erinnern?«

Er dachte angestrengt nach, aber er wusste nicht, welchen Zeitpunkt er suchte. Es konnte nicht das Tor in jener Nacht des Krieges gewesen sein, dann gäbe es dieses Krankenhaus nicht mehr. Vorher. Irgendwo vorher? Er war aufgewacht und hatte im Morgengrauen die Säulen? gesehen. Noch weiter zurück? Was war vorher gewesen? Geräusche in der Nacht. Krachen und Knarzen, vor dem Grauen des Morgens.

»Ich glaube, ich habe irgendwelche Geräusche gehört, und bin davon aufgewacht. Kann das sein?«

»Das ist möglich. Wissen Sie noch, wo Sie waren?«

»Ich lebe in einer kleinen Hütte im Wald, nahe der polnischen Grenze. Oder nicht?«

»Doch, das ist richtig. Man hat Sie dort aus den Trümmern ausgegraben. Ein Sportflugzeug ist abgestürzt, und hat ausgerechnet sie Lichtung erwischt, auf der die Hütte stand.«

»Mitten in der Nacht?«

»Es flog ohne Erlaubnis, vermutlich eine zwielichtige Geschichte. Zigarettenschmuggel in großem Stil haben die Zeitungen geschrieben. Sie haben heute Mittag, als Sie zum ersten Mal kurz aufwachten, etwas von einem Kind gesagt. Gab es ein Kind bei Ihnen? Andere Personen?«

»Nein, es gab wohl kein Kind. Noch nicht. Er ist ein wunderschöner Junge. Wollen Sie mich heiraten, Frau Dr. Neumeier? Dann wäre es möglich, dass wir einen ganz entzückenden Sohn haben.«

Sie lachte fröhlich. »Das ist der originellste Heiratsantrag, den ich jemals bekommen habe. Aber ich muss Sie leider enttäuschen, einstweilen sind Sie ans Bett gefesselt und können keinen Traualtar aufsuchen.«

»Schade. Verraten Sie mir trotzdem Ihren Vornamen? Ich heiße Fritz und vermute, dass Sie nicht Asthanthe heißen.«

»Ist das polnisch?«

»Nein, das ist ein Name aus einer anderen Welt.«

»Meiner ist sehr irdisch. Ich heiße Eva. Jetzt sollten Sie wieder schlafen, Fritz, damit Sie zu Kräften kommen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Eva. Vielleicht möchten Sie ja in ein paar Wochen einen alten Waldschrat heiraten?«

Sie ließ wieder ihr ansteckendes, fröhliches Lachen hören. »Ach Herr Wegemann, ich meine Fritz, schlafen Sie gut. Vielleicht träumen Sie ja von unserer Hochzeit und können mir dann morgen erzählen, wie mein Brautkleid aussieht.«

»Das werde ich. Oder ich träume von jener Welt, die Sie leider nicht kennen und in der Sie bereits meine Frau sind. Es ist übrigens schade, dass ich jetzt aufgewacht bin, denn eigentlich wollte Gott zu Besuch kommen.«

»Wenn es der Genesung dient, habe ich nichts dagegen, dass er Sie heute Nacht besucht«, versicherte sie. »Falls Sie noch nicht gleich einschlafen können, kann ich Ihnen den Fernseher anmachen. Das Programm ist normalerweise das beste Schlafmittel. Den Ton lasse ich ganz leise, damit er Sie nicht wachhält.«

Fritz nickte. Sie richtete die Fernbedienung, die auf seinem Nachttisch lag, auf einen flachen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand.

Fritz hatte seit mehr als sieben Jahren kein Fernsehgerät gesehen und das flache Ding nicht als solches identifiziert. Erstaunt beobachtete er die Uhr vor dem Beginn der Tagesschau. Das Piepsen war kaum zu hören, so leise hatte die Ärztin das Gerät eingestellt.

Er war sehr müde und schloss die Augen. Er hörte die Fanfare und dann die Stimme des Sprechers. Guten Abend, meine Damen und Herren. Bei den Wahlen in Russland bahnt sich eine Sensation an. Nach den ersten Hochrechnungen hat der ultrakonservative…

Fritz Wegemann schlief ein.

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Ende.

Dienstag, 28. September 2010

Neuland – Teil 11

Zunächst die Pflichtübung, der Verweis auf die vorangegangenen Teile: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9] [Teil 10]

Nun die gute Nachricht für zappelige Leser: Gleicht geht es mit Teil 11 weiter.

Hier eine Nachricht zur Folge 10: Die Überschrift hätte da nicht hingehört. Sondern eher über das Kapitel 11.

Und nun die schlechte Nachricht für die Nimmersatten: Dies ist die vorletzte Folge. Teil 12 wird der Schluss der Geschichte sein. Tja.

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Kommt Besuch?

Sie hatten Angst gehabt, alle vier. Keiner von ihnen verfügte über eine medizinische Ausbildung, und es gab nichts, was früher, in jener vergangenen Welt, selbstverständlich gewesen war. Keine Hebamme, keinen Kreißsaal, keine ärztliche Begleitung. Aber die Angst war unbegründet, wie sich herausstellte. Die Geburt der beiden ersten Kinder im Neuland verlief ohne jegliche Komplikationen, fast beiläufig. Der Fluch des Kindergebärens unter Schmerzen schien seiner Wirksamkeit verlustig gegangen zu sein.

Ein kalter Winter lag hinter ihnen. Sie hatten ihn ohne Mangel überstanden, da sie rechtzeitig eine reiche Ernte eingebracht und genügend Vorräte eingelagert hatten. Während der Wochen, in denen der Schnee hoch lag, hatten sie einander nicht besuchen können, da sie es nicht riskieren wollten, dass jemand auf einem vereisten Hang stürzte, abgesehen davon, dass ein Durchkommen durch die Schneemassen ausgesprochen mühsam gewesen wäre. Ihre Wohnungen lagen einen halben Tagesmarsch auseinander, an den entgegengesetzten Enden eines Tales, das von Bergspitzen eingerahmt geradezu ideale Lebensbedingungen bot. Bersan und Bjora hatten eine Höhle mit zwei Räumen bezogen, während Asthante und Anron sich ein Blockhaus gebaut hatten, eine Unternehmung, die ihnen erst gelang, nachdem sie taugliche Werkzeuge aus Stein hergestellt hatten.

Ob das Tal von den Hütern und Hirten für sie vorbereitet worden war oder ob das Klima ganz natürlich für die vielfältigen Früchte, Korn, Kartoffeln und sogar Weinreben an einem Abhang gesorgt hatte, blieb ihnen verborgen. Sie ernährten sich überwiegend vegetarisch, aber gelegentlich gab es auch Hasen- oder Rehbraten. Nachdem sie in den ersten Wochen noch versucht hatten, mit Hütern oder Hirten Kontakt aufzunehmen, hatten sie irgendwann begriffen, dass sie selbst diese Funktionen bekommen hatten.

Sie hatten nie den Versuch unternommen, eine Zeitrechnung wieder einzuführen, es spielte keinerlei Rolle, ob nun Montag oder Mittwoch war. Es war ebenso unerheblich, ob es 10 Uhr oder 14 Uhr sein mochte.

Basthera Die beiden Kinder kamen im Abstand von zwei Tagen zur Welt, ein paar Wochen bevor der Frühling den Schnee aus dem Tal vertrieb. Asthante und Anron nannten ihren Sohn Airos. Der Klang des Namens gefiel ihnen, sie wussten nicht, ob er eine Bedeutung hatte, aber das spielte keine Rolle, fanden sie. Airos war kräftig und vollkommen gesund, soweit sie das beurteilen konnten.

Bjora und Bersan war das Geschrei ihrer kleinen Basthera eine Erlösung. Sie hatten befürchtet, das Kind könnte wie seine Mutter ohne Stimme geboren werden, aber auch diese Angst erwies sich als unbegründet.

Bjora hatte immer wieder versucht, einigermaßen verständliche Laute hervorzubringen, seit sie in der Höhle dem finsteren Zorgas begegnet waren und Bjora zum ersten Mal im Leben ihre eigene Stimme gehört hatte. Es waren verzweifelte Schreie gewesen, aber es war eine Stimme. Geduldig beobachtete sie, wie Bersan beim Sprechen die Lippen bewegte, legte ihre Hände auf seinen Hals und seine Brust, um die Vibrationen seiner Stimme zu spüren. Sie konnte stumme Worte mit den Lippen formen, die er ablas, aber die Stimmbänder gehorchten ihr nicht.

Basthera dagegen äußerte mit zufriedenem Glucksen, kräftigem Gebrüll oder fröhlichem Quietschen ihre jeweilige Stimmungslage.

 

»Wie gefällt euch euer Schwiegersohn?«, fragte der stolze Anron, als die beiden Familien sich sechs Wochen nach den Geburten, nachdem die Schneeschmelze vorüber war, in der Höhle der B-Familie trafen.

Bersan war nicht weniger stolz als Anron. Er hob seine Tochter in die Höhe und sagte: »Sehr gut, einen kräftigen Buschen habt ihr da. Ich hoffe, er wird mit seiner Frau zufrieden sein. Ich gebe mein Einverständnis zur Hochzeit!«

Asthante nahm die kleine Basthera in die Arme, Bjora kuschelte mit Airos.

Sie saßen in der wärmenden Sonne vor der Höhle, wo seit dem Herbst ein großer Tisch und zwei Bänke standen. Es hätten bequem acht Menschen Platz finden können. So weit war die Bevölkerung noch nicht gewachsen, aber Bersan hatte gemeint, wenn sie schon einen Essplatz im Freien schufen, dann gleich für die nächste Generation mit.

Beide Wohnungen waren mittlerweile ausgestattet mit Möbeln und allerlei Gefäßen, aus Ton geformt und gebrannt. Sogar das Teppichknüpfen hatten sie gelernt. Bjora hatte als kleines Kind gelegentlich einem Handwerker aus ihrem Dorf zuschauen dürfen, der Textilien herstellte, und sich verschiedene Techniken so gut gemerkt, dass sie ihre Gefährten unterrichten konnte.

Die Höhle und das Blockhaus waren leicht zu beheizen. Für den Winter hatten sich beide Paare Kleidung angefertigt, sogar einigermaßen bequeme Stiefel waren ihnen nach etlichen Fehlversuchen gelungen. Die Kleidung wurde jedoch nicht zur Gewohnheit, sondern nur dann angelegt, wenn es die Kälte draußen unbedingt verlangte. Es war allen vier Gefährten peinlich, sich angezogen zu begegnen, als seien die Hosen und Jacken etwas Unanständiges, Verwerfliches; Relikte aus einer anderen Welt, mit der sie nichts mehr zu tun haben wollten.

Zufrieden und gut gesättigt saßen sie nach dem Mahl auf den Bänken vor der Höhle, die Säuglinge schlummerten im Schatten auf einem weichen Fell. Asthante blickte hinüber zu dem munteren kleinen Bach und beobachtete zwei Vögel, die an einer flachen Stelle im Wasser badeten. Bald würde das Wasser der kleinen Seen im Tal wieder eine Temperatur haben, die zum Baden und Schwimmen einlud.

Bjora berührte sie am Arm, um ihren Blick auf sich zu lenken. Sie formte mit den Lippen langsam und deutlich die Worte: »Wir bekommen morgen Besuch.«

Die Gefährten hatten sich längst daran gewöhnt, dass Bjora – womöglich anstelle ihrer Stimme – eine besondere Gabe besaß, für die sie keinen rechten Namen fanden. Auch Anron hatte so manches empfunden, gespürt, ohne sagen zu können, warum oder woher, Asthante und Bersan hatten gelegentlich ähnliche Eindrücke der innerlichen Gewissheit, aber bei Bjora war die Fähigkeit viel ausgeprägter. Asthante hatte mit dem Begriff Prophetie versucht, der Gabe einen Namen zu geben, Anron war Hellsehen eingefallen, aber kein Wort beschrieb richtig das Phänomen. Bjora wusste nicht in erster Linie über Zukünftiges bescheid, obwohl das gelegentlich vorkam, wie damals, als sie auf dem Weg zur Begegnung mit Zorgas gewesen waren. Bjora wusste einfach manches, was sie nicht wissen konnte, wenn man ausschließen wollte, was in der früheren Welt nicht normal gewesen war. Sie wusste, welches Gestein zur Herstellung von Äxten und Messern taugte, führte die Gruppe zielstrebig zum ausgedehnten Kartoffelfeld, genauso zielstrebig, ohne zu suchen, zum Weinberg und zur einzigen Stelle im Tal, an der Feuerstein zu finden war. Als sie ihre Wohnungen einrichteten, war es immer Bjora, die eine Lösung für auftretende Schwierigkeiten wusste. Auch bei Problemen, die nicht – wie das Teppichknüpfen – mit ihrem vorherigen Leben in Zusammenhang gebracht werden konnten. Bjora wusste. Sie ahnte nicht, sie mutmaßte nicht, sie wusste. Woher, konnte sie allerdings selbst nicht erklären, sie versuchte es auch gar nicht.

Nun wusste sie offenbar, dass Besuch zu erwarten war.

Anron fragte: »Ein Wächter, ein Hüter?«

Bjora schüttelte den Kopf.

Bersan war besorgt: »Doch nicht etwa der widerliche Cowboy?«

Wieder ein Kopfschütteln.

»Menschen?«, versuchte es Asthante.

Bjora griff nach ihrer Schiefertafel und ihrer Kreide und schrieb: Gott.

Anron sagte sofort: »Ich glaube nicht an Gott. Wenn es einen Gott gegeben hätte, dann wäre so manches nicht passiert.«

Asthante meinte: »Ich bin nicht so sicher wie du. An den Gott, den man mir in jener anderen Welt gepredigt hat, glaube ich allerdings auch nicht. Aber vielleicht haben ja die Prediger Unfug geredet?«

»Eine Menge Unfug, so viel ist sicher«, antwortete Anron. »Der eine Gott hat seinen Leuten Sprengstoffgürtel umgebunden, damit sie möglichst viele Menschen umbringen oder sie gleich in Flugzeuge gesetzt, die man prima in Gebäude steuern kann. Der andere hat sich erst ein Lieblingsvolk ausgesucht, um dann dessen Nachbarn mit Mann und Maus bei Bedarf ausrotten zu können. Der nächste hat seinen Sohn sterben lassen bei dem vergeblichen Versuch, die Menschen zu retten. Soweit ich weiß, sind nur vier Exemplare übrig geblieben…«

Bjora lächelte und notierte auf ihrer Tafel: Er ist anders.

Bersan zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie an Übernatürliches geglaubt, damals, aber seit ich hier angekommen bin, hat sich das geändert. Doch wohl bei uns allen, oder?«

»Ja, das stimmt schon«, gab Anron zu, »zumindest soweit es unsere Trennung von Natürlich und Übernatürlich aus der vergangenen Welt betrifft. Die Wächter, die Hirten, auch der beängstigende Zorgas, sie haben alle Fähigkeiten, die unsere übersteigen. Du übrigens auch, liebe Bjora. Aber das kann doch trotzdem natürlich sein, hier gelten eben erweiterte oder andere Naturgesetze, die ich nicht durchschaue. Die wir nicht durchschauen. Aber niemanden von diesen Wesen würde ich als Gott bezeichnen, es sei denn, wir kehren zu einem altertümlichen Götterbild zurück: Ein Gott für die Sonne, einen für das Gewitter, einen für die Tiere, einen für die Fruchtbarkeit …«

Beim Stichwort Fruchtbarkeit begannen Arios und Basthera gleichzeitig, sich zum Zwecke der Nahrungsaufnahme bemerkbar zu machen.

 

Als die Sonne hinter den Gipfeln verschwunden war, zogen sich die Familien in die Höhle zurück. In beiden Wohnungen gab es Platz genug für alle und genügend Lagerstätten, denn aufgrund des weiten Weges, der ihre Wohnorte trennte, war es üblich, dass sie stets über Nacht blieben, meist sogar mehrere Tage verweilten, wenn sie einander besuchten.

Anron schlief schon fast, als Asthante flüsterte: »Was würdest du Gott fragen wollen, wenn er tatsächlich zu Besuch käme?«

»Er kommt nicht«, brummte Anron. »Dieses Mal irrt sich Bjora.«

Asthante kuschelte sich an ihn und sagte: »Wir werden es ja sehen. Schlaf gut, ich liebe dich!«

»Vielleicht frage ich ihn, womit ich eine so wunderbare Frau verdient habe«, meinte Anron.

Bis sie dann wirklich einschliefen, verging noch eine ganze Weile.

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Fortsetzung, die letzte, folgt. Oder sollte ich schreiben: Ende folgt?

Montag, 27. September 2010

Neuland – Teil 10

[Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9]

In einem Kommentar zum vorigen Beitrag hatte ich ein längeres Kapitel angekündigt. Das war ein Irrtum. Diese Fortsetzung ist eine von den übersichtlicheren… Na so was.

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Eine Heimat

Sie stiegen weiter in die Berge empor.

Asthanthe und Anron hatten auf ihrer Wanderung viel geredet, konnten einander manche offene Frage beantworten und stießen dabei auf immer neue und größere Rätsel. Sie hatte ihm erzählt, durch welches Tor sie in diese neue Welt gekommen war. »Ich lebte in England, in der Nähe von Leeds. Mein Vater war ein arbeitsloser Trinker, meine Mutter eine verzweifelte Frau, die versuchte, ihre Tochter vor ihrem eigenen Ehemann zu schützen. Das klingt nicht sehr nett, und es war auch nicht nett zu Hause. Als ich zwölf war, fing er an, sich für mich zu interessieren auf eine Art und Weise, in der Väter sich niemals für ihre Töchter interessieren dürfen. Ich war ein ahnungsloses Kind, und nur den offenen Augen meiner Mutter habe ich es wohl zu verdanken, dass er mich nicht missbraucht hat, na ja, also zumindest hat er mich nicht vergewaltigt. Sie verließ ihn, als ich 14 war und zog mit mir nach Schottland. Wir lebten sehr einsam und in Armut, aber wir waren meinen Vater los, was uns beiden das Leben erträglicher machte.

Banff, ScotlandIch wuchs in einem kleinen Ort an der Küste auf, der Banff hieß. Nach der Schule fand ich keine Ausbildungsstelle, wir waren für die Schotten so etwas wie die Schwarzen in Amerika. Wir waren auf dem Papier gleichberechtigt, anerkannt, nicht diskriminiert, aber in der Praxis sah es oft anders aus.

Ich bekam Kontakt zu einer Gruppe von Jugendlichen, die einer ziemlich emotionalen wilden Freikirche angehörten, ich konnte mit dem ganzen Gejauchze und Gehüpfe nichts anfangen, aber sie waren die ersten in Schottland, bei denen ich mich angenommen fühlte. Auch meine Mutter fand Freunde zu der Gemeinde und wir fühlten uns zum ersten Mal wirklich wohl und zu Hause in Schottland. Es war eine schöne Zeit, trotz unserer Armut. Die Gläubigen halfen und unterstützten uns nach Kräften, wobei niemand dort wirklich reich war.

Kurz bevor unsere Welt in Schutt und Asche versank, hatte die Gemeinde einen Gastredner aus Argentinien, der eine Woche lang Abendversammlungen durchführte. Seine Predigten waren einfach und direkt. Er warnte vor einer nahen Katastrophe und forderte die Menschen auf, sich zu Gott zu bekehren.

Einige folgten den Aufrufen, die meisten aber nahmen seine schlichten, wenig intellektuellen Worte nicht sonderlich ernst. Immerhin hatten schon vor 2000 Jahren die Apostel das nahe Ende der Welt verkündet. Am letzten Abend der Woche gab es die Möglichkeit, sich von den Pastoren und dem Gastredner segnen zu lassen, und meine Mutter und ich gingen nach vorne zum Podium. Schaden konnte das ja nichts, dachte ich.

Der Argentinier sah mich an, schloss die Augen und flüsterte: »Nein, Herr, das kann nicht sein.«

Ich wartete einfach ab und verstand nichts. Mich konnte er ja mit Herr kaum gemeint haben. Vermutlich unterhielt er sich mit Gott. Schließlich machte er die Augen wieder auf und sagte: »Widersteht dem Bösen, so weicht er von euch. Sag ihnen, dass sie widerstehen müssen und hilf deinem Mann. Du wirst wissen, was zu tun ist.«

Du musst dir vorstellen, dass ich keinen Mann hatte, nicht einmal einen Freund, und nicht die geringste Ahnung, was kommen würde. Ich hielt den Prediger für etwas durchgeknallt, auf eine sympathische Art allerdings. Dann segnete er mich und meine Mutter und bat Gott um Kraft und Mut für unsere Zukunft.

Das geschah drei Tage, bevor ich das Tor fand. Wir wachten in jener Nacht auf, weil die Sirenen unaufhörlich heulten. Wir schalteten das Radio ein und erfuhren, dass die Welt in einen Krieg geraten war. Meine Mutter war sehr still, schließlich sagte sie: »Geh hinaus an das Meer, ich werde in Frieden zu meinem Erretter gehen.«

Ich wollte sie nicht verlassen, aber sie bestand darauf, dass dies Gottes Wille sei und so fügte ich mich, als sie schließlich fast handgreiflich wurde, damit ich endlich ging. Das sah ihr so gar nicht ähnlich. Ich kannte weder Gottes Willen noch Gott, hatte manches gehört in der kleinen Kirche, aber das war größtenteils so widersprüchlich und jenseits von jeglicher Vernunft, dass ich nichts damit anzufangen wusste. Meine Mutter bestand jedenfalls darauf, dass ich zum Strand hinunterging. Dort traf ich ein Wesen, das so unwirklich war, dass ich dachte, ich hätte alles nur geträumt, sei noch immer in einem Traum gefangen. Es wies mir den Weg zu einer abgelegenen Stelle, und als ich dort ankam, sah ich etwas, das wie ein Tor wirkte. Ich ging hindurch und landete in dieser Welt hier.«

Anron fragte: »Wie sah das Wesen am Strand aus?«

Sie beschrieb es als Zylinder, als silbrig schimmernde Säule.

»Und das Tor, waren da Bäume oder so etwas?«

»Nein, es war wie ein schimmernder Bogen in der Dunkelheit über dem Wasser. Ich habe ihn nicht berührt, ich weiß nicht, was es wirklich war. Ich kannte den Strand seit Jahren, auch bei Nacht, weil ich gerne dort schwimmen ging, wenn niemand sonst in der Nähe war. Eine solche Lichterscheinung hatte ich nie gesehen. Aber ich wusste irgendwie in jener Nacht, was zu tun war. Ich zog mich aus und watete in das Wasser. Dann fand ich mich in einem See wieder, der Tag brach an. Da bin ich nun.«

Sie erzählte weiter, wie sie zuerst von einem Begleiter geführt wurde, der ihr diese neue Welt ein wenig vertrauter machte und sie schließlich auf den Weg zu den Bergen schickte. Später, als sie alleine wanderte, traf sie immer wieder Wächter und Hüter, die ihr halfen.

Anron sagte: »Eins verstehe ich nicht. Du bist in England und Schottland aufgewachsen, warum sprichst du so perfekt Deutsch, als sei es deine Muttersprache?«

»Spreche ich Deutsch? Ich habe nie Deutsch gelernt. Ich glaube, wir reden in einer Sprache, die keinem Land gehört, ohne es zu merken. Bjora kam aus Spanien, hatte ihr Land nie verlassen, und doch versteht sie jedes Wort von dir oder mir, ganz zu schweigen von Bersan, den sie inzwischen auch ohne Worte gut versteht.«

»Du meinst, die babylonische Sprachverwirrung ist aufgehoben?«

»Ich kann es mir nicht anders erklären. Ich denke und rede wie früher, und doch verstehen wir uns. Du redest und denkst wie früher und merkst auch nicht, dass sich etwas geändert hat.«

Er nahm es hin, ohne es zu begreifen. Daran hatte er sich längst gewöhnt, dass manches nicht zu begreifen und dennoch eine Tatsache war. Sie erzählte weiter, wie sie zunächst Bjora und dann ihn und Bersan getroffen hatte.

»Bjora hat mir zu verstehen gegeben, woher sie kam, mit viel Raten und nach unendlichen Fehlversuchen bin ich endlich auf Spanien gekommen. Sie ist dort auf dem Land in einem kleinen Kaff aufgewachsen, ohne Schulbesuch, man hielt sie wohl für geistig zurückgeblieben, weil sie nicht sprechen konnte.«

Bjora und Bersan hatten ihre eigene Art entwickelt, sich auszutauschen. Oft, wenn es zur Verständigung ausreichte, begnügte sie sich nach wie vor mit Gesten und Zeichen, sie sprach mit ihrer Mimik und ihren Augen, aber sie lernte gleichzeitig das Alphabet, Worte aus Buchstaben zusammenzusetzen. Es gab immer wieder geeignetes Material wie eine helle Felswand und einen angekohlten Ast oder weiche weiße Steinsplitter, mit denen man auf dunkleres Gestein schreiben konnte.

Sie tauschten ihre Erlebnisse aus und ihre Gedanken und Hoffnungen für die Zukunft. Viele Fragen fanden keine Antworten, die Zeit würde offenbaren, was richtig war. Eine der Überlegungen, die kein Ergebnis fand, war die Gesundheit.

»Ich weiß nicht, ob wir vor Krankheiten sicher sind.« sagte Bersan. »Bjora kann nicht sprechen, aber das ist momentan das einzige, was an uns nicht vollkommen scheint. Keine Erkältungen, keine Magenprobleme, obwohl wir zum Teil Nahrung zu uns nehmen, die für unsere Körper ungewohnt ist. Viele Früchte habe ich hier zum ersten Mal gesehen.«

Anron dachte noch weiter. »Es ist sowieso unklar, ob wir älter werden oder nicht, wenn ja, wie schnell. Die Zeit läuft hier anders, oder wir sind anders in die Zeit eingebunden. Ich denke immer wieder darüber nach, ob dies tatsächlich ein neuer Anfang für die Menschheit sein soll, ob unsere Kinder und Enkel eine neue Bevölkerung darstellen werden. Und darüber, ob das genetisch gut gehen kann.«

»Wie meinst du das?« fragte Asthanthe.

»Wir sind zwei Paare, die voraussichtlich Kinder haben können. Angenommen wir haben jeweils einen Sohn und eine Tochter. Dann wird unser Sohn eure Tochter zur Frau nehmen und umgekehrt. Wenn sie dann wiederum Kinder haben werden, sind es doch immer noch nahe Verwandte, die dabei entstehen? Ich weiß nicht, ob das gut geht, ob es nicht genetische Schäden geben wird.«

Bjora schüttelte verneinend den Kopf und Bersan fragte: »Du meinst, sie werden gesund sein?«

Sie nickte.

»Ich habe mich manchmal gefragt, ob wir wirklich die einzigen Menschen sind und warum ausgerechnet wir«, meinte Asthanthe. »Wer hat uns ausgewählt, wer hat gesagt: Diese vier Menschen sollen es sein? Ein Soldat, ein Einsiedler aus dem Wald, eine arbeitslose junge Britin und eine Spanierin aus einem kleinen Dorf. Keine hochgestellten Leute, keine herausragenden Persönlichkeiten. Warum wir?«

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Fortsetzung folgt.

Sonntag, 26. September 2010

Danke! Thank you!

Allen Freunden, die meine Geburtstagsfeier zu einem wunderbaren Erlebnis gemacht haben ein herzliches Dankeschön, dass Ihr mit mir gefeiert und mich noch dazu so reichlich beschenkt habt.

To all my friends who made my birthday party such a wonderful event: Thank you for celebrating with me and all the generous gifts!

thankyou


Thank you all, including those who couldn’t come to the party.

Ich danke euch allen, auch denen, die nicht zur Feier kommen konnten.

I feel very honoured to know you as my friends!

Ich fühle mich sehr geehrt, Euch als Freunde zu haben!

 

(Klick on the picture if you wanna study any details)

Samstag, 25. September 2010

Von der Zeit, die man sich nehmen kann

Wir sind strebsame Menschen. Wir gehen einer Arbeit nach, wollen vorankommen, stehen im Wettbewerb, setzen uns Ziele und haben Ambitionen. Zum Teil ist das eine Notwendigkeit, gilt es doch, das Leben auf dieser Erde zu finanzieren, einschließlich der Annehmlichkeiten, die nicht notwendig zum Überleben sind, auf die wir aber nicht gerne verzichten. Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt: »Es stimmt schon, dass Geld nicht glücklich macht. Aber ich weine lieber im Auto als in der U-Bahn.«

Allzu leicht geraten wir bei unserem Streben in Zeitnot. So vieles muss noch erledigt werden, alles scheint gleichermaßen dringend. Zum Luftholen bleibt - das suggerieren uns die vielen Aufgaben - keine Zeit.
Entspannung statt StressSich dann zu entscheiden, das Fahrrad für eine ausgedehnte Tour aus dem Keller zu holen, einen langen Spaziergang zu machen, durch die Stadt zu bummeln, ohne etwas einkaufen zu müssen, einen Tag in einer Bade- und Saunalandschaft zu verbringen ... das erfordert Mut, Überwindung, ist eine bewusste Entscheidung: Ich schalte das Mobiltelefon aus. Ich werfe keinen Blick auf den Monitor meines Computers. Ich bin nicht erreichbar und muss niemanden erreichen.
Das schlechte Gewissen meldet sich umgehend: Du faulenzt, anstatt wichtige Dinge zu erledigen. Wenn dir jetzt eine E-Mail entgeht, was dann? Wie soll der Kunde dich erreichen, wenn das Telefon ausgeschaltet ist? Hättest du nicht zuerst noch dies und jene Arbeit erledigen sollen?
Dem solchermaßen geschwätzigen schlechten Gewissen darf man, sollte man ab und zu guten Gewissens den Mund verbieten. Sein Rat ist nämlich schlecht.

Uns entgeht so viel, wenn wir auf der Lebensautobahn nicht in der Lage sind, hin und wieder auf die Bremse zu treten und anzuhalten, um eine Rast einzulegen.
Rast? Pause? Wir sind viel zu beschäftigt. Falls wir, angenommen wir sind 16 Stunden täglich wach, alle fünf Minuten unseren E-Mail-Eingang überprüfen, schauen wir 192 mal täglich nach, was uns womöglich in den vergangenen vier Minuten entgangen sein könnte. Pro Jahr werfen wir über 70.000 mal einen Blick auf den Posteingang. Nehmen wir weiter an, jeder Blick dauert eine Minute, dann haben wir über 1.600 Stunden pro Jahr dem E-Mail-Postfach gewidmet. Dein Blick dauert nur 30 Sekunden? Dann sind es immer noch über 800 Stunden jährlich. 15 Sekunden reichen dir? Bravo! Nur 400 Stunden.
Vielleicht bist du ja kein E-Mail-Eingangsüberprüfungs-Süchtiger. Sondern mobiltelefonabhängig. Wie viele Menschen laufen unsere Straßen entlang, gehen im Park spazieren, den Blick auf den Bildschirm ihres Mobiltelefons gerichtet, wie viele Menschen sitzen im Café oder Restaurant, das Telefon am Ohr. Selbst im Supermarkt scheint es einigen Zeitgenossen nicht mehr möglich zu sein, den Einkauf zu erledigen, ohne gleichzeitig »wichtige« Gespräche zu führen.

Zugegeben: Bei der Auswahl eines Urlaubshotels ist es auch für mich ein wichtiges Kriterium, dass dort W-LAN vorhanden ist. Zugegeben: Das Notebook kommt immer mit in den Urlaubskoffer. Zugegeben: Es macht mir Spaß, mich via Blog und Facebook zu Wort zu melden, Antworten zu lesen, nachzuschauen, was andere auf ihrem Blog oder bei Facebook so von sich geben und meinerseits Kommentare zu hinterlassen. Zugegeben: Anfragen, Aufträge und viele andere für den Broterwerb wichtige Nachrichten kommen als E-Mail an und es ist keine schlechte Idee, regelmäßig nachzuschauen. Auch private Nachrichten sind ja ein wichtiger Bestandteil des Zusammenlebens.

Gelegentlich muss ich mich jedoch bewusst daran erinnern, dass die Welt größer ist als ein Bildschirm. Dass die Welt sich weiterdrehen wird, während ich »unplugged« bin. Dass die neue E-Mail auch in acht, sechzehn oder gar vierundzwanzig Stunden noch im Posteingang liegen wird. Dass ich viel mehr sehe, wenn ich den Blick von elektronischen Geräten ab- und lebendigen Dingen zuwende. Gelegentlich bremse ich und halte an. Die Lebensautobahn läuft mir nicht davon, während ich Pause mache. Ausgeruht, erfrischt, aufgetankt geht es dann auf der nächsten Strecke viel besser voran.

In diesem Sinne wünsche ich meinen Blogbesuchern und Facebook-Freunden ein schönes Wochenende!

Freitag, 24. September 2010

Neuland – Teil 9

Damit ich ihn nicht vergesse, kommt er gleich, der Hinweis: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8]

Damit ich sie nicht vergesse, kommt sie gleich, die Fortsetzung:

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Zorgas

Der Aufstieg war anstrengend. Es schien, als wollte die Bergwelt die vier Wanderer abweisen. War bisher ihr Leben geradezu paradiesisch gewesen in dieser neuen Welt, gut versorgt mit Nahrung, verwöhnt von angenehmen Temperaturen, von hilfreichen Wächtern und Hütern umgeben, die freundlich mit Rat und Tat weiterhalfen, so änderte sich jetzt vieles.

Die Sonne brannte unbarmherzig herab und in den Nächten froren sie unter den blinkenden Sternen. Wenn sie versuchten, Kontakt mit den Wächtern des Ortes aufzunehmen oder einen Hüter der Tierwelt zu finden, gelang dies nicht. Entweder es gab hier keine solchen Wesen, was sie sich allerdings kaum vorstellen konnten, oder etwas hinderte sie daran, sich zu erkennen zu geben. Anron dachte häufig an seinen Traum. Es war keine Wüste, durch die sie zogen, aber die Situation war vergleichbar. Sie waren auf dem Weg, wussten nicht wohin er sie führen würde, und sie schienen auf sich allein gestellt zu sein.

Das getrocknete Fleisch konnte noch für vier Tage reichen, gelegentlich fanden sie genießbare Früchte, Wasser gab es aus den zahlreich sprudelnden Quellen und Bächen, aber je höher sie kamen, desto unwirtlicher und karger wurde die Landschaft.

Am Abend des dritten Tages beim Aufstieg saßen sie um ein kleines Feuer und waren gedrückter Stimmung. Bjora berührte Bersan am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er sah sie an. Sie deutete in die Richtung, in die sie am nächsten Tag weitergehen wollten, nahm ein verkohltes Stück Holz aus dem Feuer und zeichnete eine Figur auf den hellen Fels neben sich. Es wurde kein Kunstwerk, aber die drei Reisenden begriffen sofort was sie meinte. Sie betrachteten die Kohlezeichnung und blickten dann Bjora an.

»Ein Feind lauert auf uns?«, fragte Bersan.

Sie nickte.

Asthanthe schlug vor: »Sollen wir einen anderen Weg wählen?«

Anron und Bjora schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Nein, das wäre falsch.« erklärte Anron. »Dies ist unser Weg und ich glaube, wir müssen dem ins Auge sehen, was auf uns wartet. Ich wüsste nur zu gerne, was es ist.«

Bjora deutete auf die Hörner der gezeichneten Figur.

Bersan fragte: »Eine Art Teufel?«

Sie zuckte die Schultern, deutete aber mit einem Wiegen des Kopfes an, dass er fast richtig geraten hatte.

»Früher glaubte ich nicht an übernatürliche Wesen«, meinte Bersan, »aber seit wir durch das Tor gekommen sind, hat sich meine Meinung grundlegend geändert. Ich habe schon länger überlegt, ob es hier nur die Guten gibt oder auch die Bösen.«

Bjora zeigte wieder auf ihre Zeichnung und hob dann einen Finger.

»Nur ein böses Wesen?«

Sie nickte.

»Wird uns jemand von den guten Wesen zur Seite stehen?«

Lächelnd deutete sie auf die Runde um das Feuer.

Anron sagte: »Wir vier gegen einen. Das könnte durchaus gut gehen. Obwohl unsere Mittel ja vergleichsweise beschränkt sind.«

Er hatte ein paar Werkzeuge in seiner Tasche gesammelt, die zur Not auch als Waffen dienen konnten, allerdings taugten sie eher zum Kampf gegen Kaninchen oder Eidechsen. Falls sein Traum etwas mit den zukünftigen Erlebnissen zu tun hatte, wusste er momentan beim besten Willen nicht, was seine Aufgabe sein würde. Was hatte ein Cowboy mit der gezeichneten Figur zu tun, mit den Hörnern? Und was mochten primitive Waffen, eigentlich eher Werkzeuge, gegen eines der Wesen ausrichten, die in dieser Welt das Sagen hatten? Und warum war er aus dem Traum aufgewacht, bevor eine Lösung, ein Ausweg in Sicht gewesen wäre?

Sie schliefen unruhig und brachen beim ersten Tageslicht auf. Die Sonne hatte sich hinter einem grauen Wolkenschleier verborgen, der Wind blies ihnen unangenehm kühl in Böen entgegen.

Sie stiegen etwa eine Stunde weiter hinauf in das Gebirge. Ihre nackten Füße hatten sich inzwischen mit einer schützenden Hornhaut daran angepasst, dass es keine Schuhe mehr gab, aber auf den mitunter scharfkantigen Felsen und Geröllhalden mit spitzen Steinchen zuckten sie immer wieder schmerzhaft zusammen. Anron und Asthanthe gingen voraus, Bjora und Bersan folgten in etwa drei Metern Abstand. Beide Paare gingen Hand in Hand, um einander zu stützen und in der abweisenden Kälte die Nähe des inzwischen bereits ziemlich vertrauten Partners zu spüren.

»Wächter dieses Ortes, wo bist du?«, fragte Anron versuchsweise, als sie an einen kleinen Bach kamen, der von verkrüppeltem Buschwerk gesäumt wurde.

»Hier bin ich, Anron, Freund des Waldes. Herzlich willkommen, ihr Wanderer durch meine Berge.«

Die Stimme war freundlich, trotzdem fühlte Anron einen unangenehmen Schauer über seinen Rücken laufen und er spürte, dass Asthante an seiner Hand zitterte. Bjora und Bersan zuckten regelrecht zusammen.

Das Wesen, das ihnen gegenüberstand, sah aus wie ein Mensch. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie erschraken. Ein etwas 35 Jahre alter kräftiger Mann, in Cowboystiefeln, abgetragenen Jeans und einem Holzfällerhemd lächelte ihnen erwartungsvoll entgegen. Über dem Hemd trug er eine offene Jeansjacke, das Gesicht war glattrasiert, der Wind spielte mit seinen mittellangen Haaren.

»Wer bist Du?« fragte Bersan.

»Man nennt mich Zorgas. Ich bin der Gebieter über die Höhen. Ich habe euch erwartet.«

»Bist du ein Mensch?« fragte Asthanthe zögernd.

Sie erhielt keine Antwort, sondern ein Lächeln, das jedoch die hellblauen Augen des Mannes nicht erreichte. Die sahen seltsam kalt und feindselig aus.

»Ich bin, was ich bin. Möchtet ihr etwas essen?«

Anron sah, dass Bjora den Kopf schüttelte. Er hatte Hunger, die anderen vermutlich auch, aber niemand sagte etwas.

Zorgas lächelte unbeeindruckt vom Schweigen. Er lud sie ein: »Folgt mir erst mal, hier draußen ist es heute etwas ungemütlich, noch dazu für Leute, die gezwungen sind, nackt herumzuwandern.«

Der Eingang zur neuen Heimat?Er drehte sich um. Zögernd gingen sie hinter ihm am Bach entlang. Sie bogen um eine Felskante und erblickten den Eingang zu einer Höhle. Zorgas sah sich nicht um, ob sie ihm folgten, sondern ging hinein.

Sie traten in die Felsöffnung und verharrten einen Moment.

Die Höhle hatte die Größe eines kleinen Saales, ein Feuer brannte in der Mitte und erleuchtete die Einrichtung. Über dem Feuer war ein Rost angebracht, der Duft des darauf gegrillten Fleisches erfüllte den Raum. An der linken Wand standen zwei Betten, aus Holz gezimmert und mit Fellen bedeckt. Daneben lagen in einem ebenfalls hölzernen Regal Kleidungsstücke, die aus der früheren Welt stammen mussten. Sie erkannten vom Eingang aus Jeans, Pullover, Shirts und Unterwäsche, dazu vier Paar stabil wirkende neue Lederschuhe.

An der rechten Wand war ebenfalls ein Regal aufgestellt, in dem sie Hausrat und Waffen liegen sahen. Töpfe, Pfannen, Tassen und Teller, Messer und zwei lange Speere.

Die rückwärtige Wand der Höhle offenbarte einen Durchlas in weitere Räume.

»Kommt doch herein, nicht so schüchtern!«, rief Zorgas, der den Braten über dem Feuer umdrehte.

Sie folgten widerstrebend der Einladung, versuchten sich darüber klar zu werden, ob das der von Bjora angekündigte Feind war oder nicht.

Bersan flüsterte in das Ohr seiner Frau: »Ist er es?« Sie zuckte mit den Schultern.

Obwohl er mehrere Meter entfernt stand und das Feuer knackte und zischte, wenn Fett von dem Fleisch herabtropfte, schien Zorgas die Frage gehört zu haben.

»Ich bin, der ich bin«, wiederholte er, »setzt euch doch. Das Essen ist gleich fertig. Vielleicht etwas kräftig für ein Frühstück, aber ihr könnt es brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Sie ließen sich auf den Betten nieder und warteten ab.

»Wie gefällt es dir, Bjora?« fragte Zorgas, »Es ist eure Wohnung, die ich für euch vorbereitet habe.«

Sie blickte ihm forschend in die kalten Augen und hob die Brauen.

»Die Höhle gehört euch«, erklärte er vergnügt, »das Kinderzimmer ist nebenan, ihr werdet es bald brauchen. Warum sagst du nichts, Bjora?«

Sie zeigte auf ihren Mund und schüttelte den Kopf.

»Du kannst nicht sprechen? Diese Kleinigkeit kann ich in Ordnung bringen, wenn du möchtest. Du brauchst mich nur darum bitten.«

Bjora schien nicht daran zu zweifeln, dass er das tatsächlich konnte, aber sie sah ihn zornig an und schüttelte energisch den Kopf. Ihre Überzeugung, dass dieser Mann der Feind war, wuchs.

»Nun, vielleicht überlegst du es dir noch«, meinte Zorgas fröhlich. »Ach ja, die Kleidung, die ist in euren Größen. Oder wollt ihr lieber weiter wie die Wilden durch die Gegend laufen?«

Anron stand auf und untersuchte die Kleidung. Alles war neu und sauber. Asthante kam zu ihm hinüber.

»Woher kommen die Sachen?«, fragte er.

»Nun, ich wusste, dass ihr kommt und habe ein wenig Vorsorge betrieben. Natürlich könnt ihr von mir aus nackt herumlaufen, aber im Winter wird es hier oben ziemlich kalt. Und die Kleidung ist ein guter Schutz gegen die Launen der Natur auch zu anderen Jahreszeiten.«

Anron fragte: »Darf ich etwas anprobieren?«

»Wer bittet, dem wird gegeben«, antwortete Zorgas.

Asthanthe und Anron fanden schnell die für sie bestimmten Sachen und griffen zu. Bersan und Bjora dagegen blieben auf dem Lager sitzen und waren so unsicher wie nie zuvor. Bersan hielt Bjora schützend im Arm. Er fühlte ihr Zittern. Das kam nicht von der Kälte, sondern von tief innen.

»Steht euch hervorragend«, lobte Zorgas, als Anron und Asthante sich angezogen hatten. »Wenn euch gewisse Regungen überkommen, könnt ihr euch ja jederzeit wieder ausziehen, nicht wahr?«

»Warum glaubst du, dass wir diese Höhle beziehen werden?«, fragte Bersan.

Zorgas lachte. »Weil ich sie für euch eingerichtet habe, Bersan und Bjora.« Er sah Anron an und fuhr fort: »Euer Weg geht noch ein Stück weiter, ungefähr zwei Tagesreisen, aber auch ihr werdet einen gemütlichen Ort finden, an dem ihr Eure Kinder großziehen könnt. Ich kann euch gerne hinbegleiten, wenn ihr mich darum bittet.«

Bersan fragte mit fester Stimme: »Woher kommst du, Zorgas, und wer bist du?«

»So viele Fragen, mein nackter Freund? Deine Frau könnte es dir sagen, wenn sie wollte. Soll ich ihr eine Stimme schenken?«

Bersan sah Bjora fragend an, sie schüttelte energisch den Kopf.

Er flüsterte erneut: »Ist er es?« Sie nickte.

»Wir werden dich um gar nichts bitten, Zorgas, und wir werden jetzt weiterziehen«, sagte er zornig.

Anron sah seinen Gefährten erstaunt an. »Warum denn, ich bin sicher, dass dies euer Ziel ist. Es ist doch genau das Richtige, besser kann man es doch nicht haben.«

»Das kann sein, aber ich werde es nicht von ihm annehmen und ich werde ihn um nichts bitten«, erklärte Bersan entschlossen.

Zorgas richtete sich hoch auf und ließ die freundliche Maske fallen. »Oh doch, du wirst mich bitten! Ihr alle werdet mich um Gnade anwinseln«, fauchte er.

Er hob die Hand und augenblicklich durchzuckte ein grässlicher Schmerz Bersan. Er wollte aufspringen, aber er konnte sich nicht rühren, keinen Millimeter. Bjora, die nie einen Ton von sich gegeben hatte, stieß einen tiefen, schmerzvollen Schrei aus wie ein tödlich verletztes Tier. Asthanthe und Anron starrten verwirrt Zorgas an, der mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen auf das Lager zuging. Der Cowboy spottete: »Leider hat euch eine heimtückische Krankheit des Rückenmarks erfasst, ihr armen nackten Menschen. Ich dachte, sie sei mit der früheren Menschheit ausgestorben, aber wie es scheint, könnt ihr euch nicht mehr rühren?«

»Verschwinde!«, schrie Bersan.

»Aber aber, ich kann euch doch helfen! Ich konnte den Menschen immer helfen! Sie brauchten mich nur darum bitten, das ist alles.«

Er kniff Bjora in den Arm und beobachtete vergnügt, wie sie zusammenzuckte. Dann strich er mit sanften Händen über ihre Brüste, bevor er sie brutal zusammendrückte. Bjora schrie erneut und er lächelte beruhigend. »Soll ich dich heilen, Bjora? Du brauchst nur mit dem Kopf nicken, meine Schöne, das ist doch nicht zu viel verlangt?«

Sie sah voller Abscheu in sein hasserfülltes Gesicht und spuckte ihn an.

Anron schien endlich zu begreifen, was vor sich ging. Als erwache er aus einer Benommenheit, erkannte er erst jetzt, dass die Figur aus seinen Alpträumen vor ihm stand. Er sprang Zorgas an, um ihn wegzustoßen, aber es war, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. »Lass sie in Ruhe, du Teufel!«, rief Anron.

»Nicht so stürmisch, mein Freund! Bersan möchte doch so gerne, dass ich seiner Frau ein wenig helfe, nicht wahr? Und ihm selbst geht es ja auch nicht sonderlich gut.«

»Nein«, rief Bersan, »ich will nichts von dir! Wir wollen nichts mit dir zu tun haben!«

»Dann bleibt ihr hier liegen, bis ihr verfault«, zischte Zorgas böse und trat zwei Schritte zurück.

»Du wirst diese Krankheit sofort wieder von ihnen nehmen«, befahl Asthante mit fester Stimme.

Zorgas grinste. »Ist das etwa eine höfliche Bitte?«

»Das ist ein Befehl! Du hast kein Recht, uns etwas anzutun!«

»Ach, habe ich das nicht? Du dummer Mensch, was weißt du von meinen Rechten?«

Sie wusste nichts von den Rechten dieses Wesens, nichts von ihren eigenen Rechten. Aber sie wusste, dass sie mit ihrem Mann zusammen die Aufgabe hatte, diesen Feind zu besiegen. Es war ihr klar, dass Anron mit seinen lächerlichen Waffen nichts ausrichten würde. Hilflos starrte sie in das höhnisch grinsende Gesicht des Cowboys.

Zorgas zischte: »Ihr nehmt meine Geschenke an und wollt die Konsequenzen nicht anerkennen?«

Asthanthe sagte kein Wort mehr, aber sie zog die Kleidung wieder aus, die ihr so willkommen gewesen war. Anron zögerte, doch dann folgte er ihrem Beispiel. Er legte das Hemd, die Schuhe, die Jeans, die Shorts ab und empfand mit jedem Kleidungsstück, dass der Verlust ein Gewinn war.

Als Anron und Asthante wieder im Adams- und Evakostüm in der Höhle standen, war so etwas wie Verwirrung auf den Zügen des Gebieters der Höhen zu lesen. Die Dinge liefen nicht nach seinem Plan.

»Ich könnte euch alle vernichten«, drohte er.

Asthante antwortete mit ruhiger Stimme: »Du wirst zurückgeben, was du gestohlen hast.«

Sie stieß Anron mit dem Ellenbogen und sagte: »Widerstehe dem Bösen, dann flieht es von dir.«

Anron dachte nicht nach, er fuhr Zorgas an: »Gib zurück, was du gestohlen hast! Und verschwinde an den Ort deiner Bestimmung.«

Es gab weder Blitz noch Donner, kein Beben erschütterte die Höhle, kein Geschrei wurde laut. Zorgas war einfach verschwunden.

Das Feuer knisterte weiter, nichts änderte sich in der Höhle, abgesehen davon, dass Bersan und Bjora sich wieder bewegen konnten. Die vier sahen einander an und brauchten einen Moment, um den Schock zu überwinden.

»Ich glaube, ich habe Hunger«, sagte Bersan schließlich trocken.

»Dann sollten wir wohl etwas essen,« antwortete Anron und fing an zu lachen. Auch bei den anderen löste sich die Spannung und ihr Gelächter erfüllte die Höhle.

Bjora zeigte auf die Kleidungsstücke, die zu Füßen von Anron und Asthante lagen und dann auf das Regal.

Die beiden legten alles wieder zurück. Der Braten auf dem Grill roch auf einmal widerlich, überhaupt war die Höhle, die so wohnlich und anheimelnd gewirkt hatte, ein Ort, den alle vier schleunigst verlassen wollten. Sie gingen hinaus und atmeten wie befreit die frische Luft.

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Fortsetzung? Folgt.

Ach ja. Noch was. Im inzwischen gestrichenen Vorwort der ursprünglichen Fassung dieser Geschichte habe ich vor rund 20 Jahren geschrieben:

Ich gebe es unumwunden zu: Zorgas, der irgendwann im Verlauf dieser Story auftaucht, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Steven Kings Randall Flagg (The Stand). Ich habe bei meiner Figur nicht etwa Steven King kopieren wollen, sondern als die Geschichte geschrieben war, fiel mir die Ähnlichkeit auf. Es mag an der Thematik liegen. Das Ende der Welt ist da und ein paar Menschen überleben. Irgendwann treffen sie auf das Böse, sei es nun Randall Flagg oder Zorgas. Wenn man diese Ähnlichkeit der Figuren als Verbeugung vor dem großen Erzähler Steven King verstehen möchte, habe ich überhaupt nichts dagegen.

Ich habe auch heute nichts dagegen.

Donnerstag, 23. September 2010

Weltuntergang!

Facebook ist kaputt. Offline. Nicht erreichbar.

Weltuntergang?

Für manche Zeitgenossen vielleicht schon...

Die Zahl des Tages…

…für den 23. September 2010:

55

Soviel für heute. Morgen an dieser Stelle besuchen wir wieder das Neuland.

Mittwoch, 22. September 2010

Dieser Blog gratuliert sich selbst…

…und klopft sich auf die Schulter. Bei manchen Suchbegriffen listet Google nämlich diesen Blog gleich als erste Fundstelle (gegebenenfalls hinter den bezahlten Anzeigen), häufig ist dieser Blog unter den ersten zehn Verweisen, vor allem bei »literarischen« Themen.

Platz 1 

Platz 2

Platz 4

Platz 6! 

Platz 1

Platz 6

…und so weiter. Da freut sich der Blogger.

Dienstag, 21. September 2010

Das Flyerphantom

Es ist ein Graus, ein ganz grausiger.

Auf einer Firmenwebseite lese ich in einem kleinen Absatz von 10 Zeilen vier Mal »Flyer«. Man kann selbigen herunterladen oder bei der Firma kartonweise anfordern.
Foto von scratchbook.chIch bin aus dem Alter heraus, in dem man sich mit zum Flieger gefalteten Papierbögen verlustiert und wüsste deshalb nicht, warum ich mir so etwas herunterladen sollte. Ein Prospekt könnte mich eventuell interessieren. Ein Faltblatt mit für mich interessanten Produktinformationen hätte ich gerne in Augenschein genommen. Aber das bietet die Firma ja leider nicht an.

Im sonntäglichen Gottesdienst wird zu einem Seminar eingeladen und der Gemeinde mitgeteilt, dass »Flyer« an geeigneter Stelle bereit lägen.
Der Zusammenhang von Papierflugobjekten mit dem Inhalt des Seminars erschließt sich mir nicht, aber neugierig schaue ich mich nach dem Schlusslied am Ausgang nach gefalteten Flugobjekten um - vergeblich. Dort liegen nur mehrere Handzettel, Einladungen und Broschüren. Vielleicht haben ja vor mir am Tisch vorbeigekommene Menschen schon alles abgeräumt?

In den Nachrichten lese ich: »Als der 47 Jahre alte Brite einen Flyer zerriss, wurde er angespuckt. Dann folgte die Prügelattacke.«
Was so schlimm daran sein soll, ein womöglich fluguntaugliches Flugobjekt zu zerreißen, erschließt sich mir nicht. Wenn es um ein politisches oder religiöses Flugblatt gegangen wäre, könnte ich den Grund verstehen - aber gegen Prügelattacken bin ich auf jeden Fall, auch das Anspucken ist kein Verhalten, dessen sich jemand befleißigen sollte.

Ich weiß nicht so recht... - an allen unmöglichen Ecken ist vom »Flyer« die Rede, aber zu sehen bekomme ich keinen. Vermutlich handelt es sich um ein Phantom?

Montag, 20. September 2010

Neuland – Teil 8

Also. Nun. Na ja, also…
Eigentlich hätte ich noch so manches veränder wollen, können und müssen. Aber andererseits habe ich zur Zeit wenig Muße dazu, und dies ist ja, wie schon geschrieben, sowieso eher Rohmaterial als eine fertige Geschichte. Daher folgt nun ohne weitere Vorreden nach dem Hinweis auf die bereits erschienenen Teile das nächste Kapitel. Der Hinweis: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7]
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Vor den Bergen

Die Landschaft wurde hügeliger, gelegentlich gerieten die beiden Wanderer außer Atem, wenn sie eine Höhe erklommen.
»Warum beeilen wir uns eigentlich so«, keuchte Bersan, nachdem sie einen ziemlich steilen Abhang erklommen hatten. »Es hetzt uns ja niemand.«
Anron ließ sich ins Gras fallen. »Du hast vollkommen recht. Hier liege ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.«
Bersan lachte. »Ich glaube, Herr Luther hat das etwas anders gesagt, und in einer nicht ganz vergleichbaren Situation.«
»Niemand war jemals in einer vergleichbaren Situation.«
»Das stimmt. Aber es kann ja alles nur ein Traum sein, ein sehr unterhaltsamer Traum allerdings. Der verrückteste Traum, den ich in meinen 24 Lebensjahren jemals hatte. Hoffentlich wache ich nicht allzu bald auf. Ich würde doch gerne noch meine Frau kennen lernen.«
»Ich fürchte«, meinte Anron, »das ist doch kein Traum. Oder kann man im Traum träumen, dass man träumt?«
»Keine Ahnung. Ich habe letzte Nacht jedenfalls von meiner Frau geträumt.«
»Ach. Und, gefiel sie dir?«
»Ja, durchaus. Zierlich, pechschwarze Haare, kaffeebraune Augen…«
»Kanntest du in jenem anderen Leben eine solche Frau?«
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.«
Anron betrachtete die Schäfchenwolken am Himmel und überlegte, ob er von seinem Traum, von der Wüste, von dem Cowboy und der Eiseskälte erzählen sollte. Doch Bersan fuhr bereits fort: »Ich bin übrigens – wie sagt man das – äh, also ich bin Jungfrau.«
»Ich habe nie etwas von Sternzeichen und Horoskopen gehalten«, antwortete Anron.
»Nein, das meine ich nicht, solchen Quatsch habe ich nie mitgemacht, auch nicht zum Spaß. Jungfrau heißt: ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen. Was übrigens ein blöder Ausdruck ist, denn um den Schlaf geht es dabei ja wohl eher nicht.«
»Ach. Ach so.« Anron war einen Moment sprachlos. Sie hatten sich über private Details jenes vergangenen Lebens unterhalten, über Frauen und Liebe und Sex allerdings überhaupt nicht gesprochen.
»Du glaubst mir vermutlich nicht«, meinte Bersan.
»Doch, durchaus. Aber du wirst mir kaum glauben, dass ich, obwohl ich 35 Jahre alt bin, auch noch nie mit einer Frau im Bett war. Und ich bin nicht schwul, falls du das jetzt vermutest.«
»Zwei männliche Jungfrauen in einer unberührten Welt auf dem Weg zu ihren Frauen«, lachte Bersan, »der Traum wird immer ulkiger.«
Anson grinste. Bersans Fröhlichkeit war ansteckend. »Adam und Eva im Doppelpack. Falls eine der Damen uns einen Apfel bringt, sollten wir vermutlich vorsichtig sein.«
»Vielleicht war es ja eine Birne oder Banane, oder eine schöne Kirsche. Der Apfel steht nicht in den Büchern Mose. Den haben die mittelalterlichen Künstler irgendwann gewählt, als sie den Sündenfall darstellen wollten.«
»Also essen wir einfach keinen Obstsalat, falls er uns von den Damen serviert wird.«
Anron und Bersan machten sich, nunmehr ausgeruht, wieder auf den Weg. Sie waren jetzt eine Woche gewandert, seit Yondil sie verlassen hatte. Anron ahnte inzwischen, wer der neue Führer sein sollte, sagte aber nichts. Unterwegs waren sie bei Bedarf von hilfsbereiten Wächtern mit Mahlzeiten versorgt worden; sie suchten aber immer häufiger selbst nach Nahrung. Inzwischen hatten sie eines der Prinzipien verstanden: Keine Vorräte sammeln, nur das nehmen, was gerade notwendig ist, ob nun Fisch, Obst, oder Gemüse. An manchen Orten fanden sie jedoch nichts Essbares, dann tauchte auf ihren Ruf eines der freundlichen Wesen, auf und half ihnen. Immer wieder hatten sie bei diesen Gelegenheiten nach ihrem nächsten Führer gefragt. Eine klare Antwort erhielten sie nicht.
Nun waren sie abends am Fuß der Berge angekommen und hatten sich einen kleinen Wald, durch den ein Bach floss, als Nachtquartier ausgesucht. Bersan sprach aus, was Anron innerlich schon zur Gewissheit geworden war, als sie nebeneinander auf dem weichen Moosteppich in der Abendsonne saßen: »Du bist der Führer, Anron.«
»Meinst du wirklich? Ich weiß doch gar nicht, wohin ich führen soll. Und wen soll ich führen, uns beide? Das ist Unfug. Wir wandern gemeinsam, wohin auch immer. Wir brauchen keinen Chef.«
»Keinen Chef, aber jemanden, der die Richtung erkennt, zwischen Alternativen die richtige Wahl trifft. Ein Führer muss ja kein Diktator sein, schließlich bist du nicht der Führer. Bald sind wir sowieso zu viert, wenn mich meine Ahnung nicht trügt.«
»Ja, ich vermute, dass du recht hast, die Frauen sind nicht weit. Aber wie soll ich jemanden führen, wenn ich so wenig Ahnung vom Ziel habe wie du? Keinen blassen Schimmer habe ich. Außerdem tauge ich eher zum Einsiedler als zum Gruppenleiter.«
»Die Gesellenprüfung hast du bestanden, indem du mich zum Tor gebracht hast.«
»Ich wusste doch nicht einmal, ob die zwei Bäume das gesuchte Tor waren. Vielleicht habe ich es geahnt … das scheint mir so lange her, ich kann mich immer weniger an die frühere Welt erinnern. Geht es dir auch so, dass alles verblasst, entschwindet?«
»Ja. Es ist so ungefähr drei Wochen her, dass wir durch das Tor gekommen sind, aber es fühlt sich an wie Jahrzehnte.«
»Eben. Und ich tauge nicht zum Führer. Ich weiß so wenig. Vielleicht spüre, fühle ich manches. Es kann natürlich sein, dass in dieser Welt Wissen nicht unbedingt zählt«, sagte Anron. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber ich werde jedenfalls mein Bestes geben, falls deine und meine Ahnung stimmt. König Anron der Ahnungslose geht voran.«
Bersan schlug vor: »Dann fang gleich an, Majestät, und besorg uns ein Abendbrot.«
Polnische Berge?Ringsum war die Landschaft karg. Es wuchsen allerlei Büsche und Bäume, aber nichts schien für den Verzehr geeignet. Beide wollten nach und nach unabhängig von den Wächtern werden – das war auch so ein Empfinden, ein Gefühl, dass dies geboten sei – aber hier sahen sie keine Möglichkeit, selbst für eine Mahlzeit zu sorgen. Anron rief in gewohnter Weise den Wächter des Ortes und sie erschraken, als ein Riese von über vier Metern vor ihnen auftauchte. Yondil war schon groß gewesen, aber dieser Kerl war ungeheuerlich. Sein Gesicht jedoch strahlte so freundlich wie das aller anderen sonderbaren Wesen, die sie kennengelernt hatten.
Auch er hieß sie zunächst so umständlich herzlich willkommen, wie es die Höflichkeit in dieser Welt offenbar erforderte, sie erwiderten den Gruß. Dann baten sie um Nahrung und erhielten Früchte und Gebäck. Frisches, duftendes Gebäck. Anron fragte sich zum wiederholten Mal, wo wohl die Bäckereien versteckt lagen. Vermutlich wurden jedoch solche Leckereien genau wie das Feuer bei Bedarf mit einem kurzen Kopfnicken zum Vorschein gebracht.
»Wohin führt euer Weg?« fragte Yestro, der riesige Wächter der Berge.
Anron sah ihn ratlos an. »Ich weiß es nicht. Die Berge schienen das Ziel zu sein. Jetzt sind wir hier. Vermutlich fangen wir morgen an, hinaufzusteigen.«
Yestro nickte und sagte: »Asthanthe und Bjora werden das nächste Ziel benennen.«
»Wie bitte? Wer?«
Eine Antwort bekamen sie nicht, aber den guten Rat, dass sie für den weiteren Weg, der steil bergauf führen würde, Kraft sammeln sollten. Yestro empfahl ihnen Fleisch. Sie fragten, woher sie es nehmen durften.
»Die Hüter der Herden wissen solche Dinge.«
»Und wo finden wir Hüter der Herden?«
»Hier, Anron, Freund des Waldes und Bersan, Freund der Höhen. Herzlich willkommen«, sagte eine helle Stimme hinter ihnen.
Sahen die Wächter, die sie bisher getroffen hatten, eher männlich aus, so mochte dieses Wesen als weiblich durchgehen. In einen braunen Umhang gehüllt trat eine schmale Gestalt aus den Zweigen, ihr feingezeichnetes Gesicht und die hohe Stimmlage passten zu der grazilen Erscheinung.
»Wie dürfen wir dich nennen, Wächter der Herden?« fragte Bersan. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Namen der Wesen zu erfragen, damit sie sie einfacher anreden konnten.
»Nicht Wächter der Herden, Bersan, sondern Hüter. Mein Name ist Wernsah.«
»Also nicht Asthanthe oder Bjora, sondern Wernsah. Entschuldige meine Ungeschicklichkeit bei der Anrede.«
»Das macht nichts. Die Hüter wachen über die Tiere, die Wächter hüten die Pflanzen. Aber wir sind nicht beleidigt, wenn ihr uns anders ansprecht.«
Das war so schwer zu merken nicht, die Männer beschlossen, in Zukunft auf die richtigen Titel zu achten. Anron kam auf das Essen zurück: »Wir bitten dich um Fleisch, Wernsah.«
»Ihr müsst lernen, zu finden was ihr braucht. Nimm eine Waffe und töte ein Kaninchen.«
»Ich dachte, wir bekämen das Fleisch? So ähnlich wie das Gebäck hier.«
»Wenn du Fleisch willst, Anron, musst du töten. Wenn du nicht töten willst, wirst du kein Fleisch essen.«
Anron ließ den Braten in der Bank unerwähnt. Den hatten sie einfach so bekommen, vielleicht als Gewitterbonus. Er fragte: »Darf ich denn nach Belieben auf die Jagd gehen, wie damals, als ich in meiner Hütte lebte?«
»Wenn du einstweilen die Hüter um Rat bittest, ja. Ihr werdet euch einleben und bald selbst wissen, wie viel ihr nehmen dürft und wo ihr es findet. Bis dahin sind wir für euch da.«
Anron zögerte. Zwei Fische aus dem seichten Wasser zu greifen war vor ein paar Tagen etwas anderes gewesen als jetzt ein Kaninchen zu jagen. Irgendwie widerstrebte es ihm, das zu tun. Er hatte gejagt in den sieben Jahren in den Wäldern, meist jedoch war er mit Fischen und dem Ertrag des Bodens zufrieden gewesen. Irgendetwas in ihm sträubte sich jetzt gegen den Gedanken der Jagd. »Ich will kein Kaninchen töten, Wernsah, wir essen das, was Yestro uns gegeben hat«, antwortete er schließlich.
Bersan nickte zustimmend, auch er hatte keine Lust auf eine Jagd.
Falls es bei diesen Wesen so etwas wie ein Mienenspiel gab, dann ging ein Schimmer der Erleichterung über die Gesichter von Wernsah und Yestro. Die Hüterin der Herden verneigte sich und erklärte: »Morgen schicke ich euch ein Tier, Anron und Bersan. Ihr sollt das Fleisch zubereiten und als Vorrat mit euch nehmen, was ihr nicht esst. Euer Weg wird schwer sein, und die Herden spärlich. Für heute wünsche ich euch eine gute Nacht, Anron, Freund des Waldes und Bersan, Freund der Höhen.«
Wernsah verschwand. Yestro sagte. »Du hast weise entschieden, Führer Anron. Ihr werdet morgen auch Taschen herstellen.«
»Wenn ich das Material habe, gerne.« Das traute Anrion sich zu, immerhin hatte er sich in einem Leben, das lange vergangen schien, Kleidung und Vorratsbeutel aus Fellen genäht.
»Du wirst wissen, was du brauchst und wo du es findest«, erklärte Yestro und wünschte ihnen ebenfalls eine gute Nacht.
Sie aßen schweigsam und stillten ihren Durst aus dem Bach. Als es dunkel wurde, legten sie sich in das weiche Moos und schliefen bald ein.
Im Morgengrauen weckte sie ein dumpfer Aufprall in ihrer Nähe. Vorsichtig forschten sie nach der Ursache und fanden unter einem steilen Felsabhang ein Reh, dessen vordere Beine gebrochen waren. Es musste abgestürzt sein. Anron zögerte, doch dann sah er sich nach einer Waffe um. Das Tier litt offensichtlich Schmerzen, er musste es töten. Er fand einen geeigneten spitzen Ast und tat das Notwendige.
»Und nun?«, fragte Bersan.
»Ein scharfes Messer wäre vorteilhaft, aber das werden wir kaum finden.«
Anron ließ den Blick schweifen. Er erinnerte sich an die primitiven Steinwerkzeuge, die in den Museen der einstigen Welt ausgestellt worden waren und machte sich auf die Suche. Bald fand er einen handlichen Felssplitter, den er dann an anderen Steinen schärfte. Die Arbeit war mühsam, aber schließlich doch erfolgreich. Sein Steinmesser war primitiv und keine Schönheit, aber scharf genug.
Bersan half beim Zerlegen des Wildes, anders als Anron hatte er keine Ahnuhng davon, aber er stellte sich sehr geschickt an, während er den Weisungen des Freundes bei der Arbeit folgte. Als die Sonne hoch am Himmel stand, waren sie fertig.
»Ich wünschte, ich könnte uns ein Feuer machen«, murmelte Anron, »ohne wieder einen Wächter zu bemühen.«
»Das wollte der Affe im Dschungelbuch auch können«, grinste Bersan.
»Danke für das Kompliment. Kannst du es denn?«
»Ich kann es«, sagte eine leise Stimme.
Sie drehten sich um und starrten die beiden Frauen an, die am Rand der Lichtung unter den Bäumen standen. Sie waren beide so nackt wie Anron und Bersan, hatten nur je einen Beutel aus Fell bei sich, den sie an einem Riemen um die Schulter trugen.
Die Sprecherin lächelte schüchtern und stellte sich vor: »Ich bin Asthanthe, und das ist Bjora. Ihr seid Anron und Bersan?«
Anron nickte nervös. »Anron, ja, das bin ich. Das bedeutet Freund des Waldes, wie man mir gesagt hat.«
Asthanthe neigte offensichtlich nicht zu ausschweifenden Formulierungen und langen Vorreden. Sie sagte schlicht: »Ich bin deine Frau, Anron. Bjora ist Bersans Frau.«
Sie musterten sich immer noch aus sicherer Entfernung von etwa fünf Metern. Schließlich kamen die beiden Frauen mit zögernden Schritten näher.
Anron wollte Asthanthe nicht unhöflich anstarren, konnte aber den Blick nicht von ihr lösen. Sie hatte ungefähr sein Alter, dunkelblonde lange Haare und eine schlanke Figur. Ihr Blick war forschend, sie musterte ihn so interessiert und offen, wie er sie betrachtete. Fast hätte Anron losgeprustet, als er bemerkte, dass er unwillkürlich seinen nicht vorhandenen Bauch eingezogen hatte. Ein Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. Asthante schien mit ihrem Mann zufrieden zu sein, kam die restlichen Schritte zu ihm und reichte ihm lächelnd die Hand. »Du wirst uns führen, Anron.«
Bersan bekam nichts davon mit. Er starrte Bjora überrascht an. Sie mochte etwa 19 Jahre alt sein, war zierlich gebaut und hatte ein wundervolle braunen Augen. Ihre fast schwarzen Haare zeigten ein rötliches Schimmern, wenn die Sonne darauf fiel. Er stand der Frau gegenüber, von der er geträumt hatte. Sie war nicht ähnlich, sondern die gleiche Person. Schweigend, wohl abwartend sah sie ihm in die Augen; er meinte, so etwas wie Furcht in ihrem Blick zu sehen. Das war ihm nun gar nicht recht. »Guten Tag Bjora«, sagte er mit leicht unsicherer Stimme, »ich freue mich, dich kennenzulernen.«
Sie kam nicht näher, sah ihm in die Augen und machte eine Geste, die Bersan nicht verstand.
»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte er.
Bjora wiederholte die Bewegungen.
»Sie kann nicht sprechen«, erklärte Asthanthe, die inzwischen Anrons Hände hielt und drückte, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. »Aber sie hört besser als ich.«
Bjora wiederholte ihre Gesten. Sie nickte und deutete auf ihre Ohren. Dann schüttelte sie den Kopf und zeigte auf ihren Mund. Nun verstand Bersan. Er trat auf sie zu und streckte ihr beide Hände entgegen. Die Furcht wich aus ihren Augen und sie strahlte, während sie seine Hände fest in ihre nahm.
Die beiden Paare standen so einige Minuten auf der Lichtung, als läge ein Zauber in der Luft, den jede kleinste Bewegung, jedes Wort verscheuchen konnte. Dann, wie auf ein Zeichen, ließen sie einander los.
Asthanthe blickte sich um, betrachtete die bereitgelegten Fleischstücke, das zum Trocknen aufgehängte Fell und sagte: »Wenn du Feuer machen willst, lieber Mann, brauchst du erst einmal Holz.«
Sie sammelten zu viert passende Stücke und Anron war gespannt, ob seine Frau wirklich ein Feuer entzünden konnte.
Sie konnte. Allerdings nickte sie nicht wie die Wächter kurz mit dem Kopf, sondern nahm aus ihrem Beutel einen Feuerstein und zeigte, dass sie damit umgehen konnte. Kurz darauf brannte der Holzstoß.
Am Nachmittag hatten sie alles Fleisch zubereitet und zum Trocknen auf die Felsen gelegt. Aus ihrer Felltasche hatte Bjora einen kleinen Lederbeutel zum Vorschein gebracht, der Salz enthielt. Woher sie diesen Schatz hatte, blieb ihr Geheimnis. Auch Asthante wusste es nicht, als die Frauen sich getroffen hatten, besaß sie den kleinen Beutel mit dem kostbaren Gut bereits. Bjora versuchte, die Herkunft mit Gesten zu erklären, aber sie wurde nicht verstanden.
»Eigentlich spielt es auch keine Rolle, woher du es hast«, meinte Bersan schließlich, »und Frauen dürfen grundsätzlich immer ein kleines Geheimnis haben, hat man mir beigebracht. Jedenfalls wird das Fleisch so haltbarer. Wer weiß, wie lange wir uns davon ernähren müssen.«
Anron benutzte einen spitzen Knochen als Ahle und verdrillte Gräser als Faden, um zwei Umhängebeutel für Bersan und sich aus dem Fell herzustellen. Es schien die Zeit gekommen, in der Vorräte transportieren werden und womöglich Gegenstände gesammelt werden mussten.
Während er damit beschäftigt war, ging Bersan mit den beiden Frauen auf die Suche nach Beeren und Pilzen. Es konnte nichts schaden, neben den Fleischvorräten auch ein paar andere Nahrungsmittel mit auf die Berge zu nehmen, hatte Anron entschieden, nachdem sie eine Weile vergeblich versucht hatten, Yestro, Wernsah oder sonst eines der inzwischen schon vertrauten Wesen herbeizurufen. Offenbar waren sie – zumindest im Moment – auf sich gestellt. Es fiel Anron schwer, diese Entscheidung zu treffen, da sie nicht zu der bisherigen Regel passte, dass der morgige Tag für sich selber sorgen würde. Andererseits hatten sie den Fleischvorrat auf Anraten von Wernsah und Yestro angelegt. Anron hoffte sehr, dass sein Entschluss kein Fehler war.
Abends saßen sie um ihr kleines Lagerfeuer, sie hatten es seit dem Morgen nicht ausgehen lassen. Als Anron den Frauen erzählte, dass der Wächter dieses Ortes gesagt hatte, sie wüssten den weiteren Weg, nickte Bjora und deutete hinauf in die Berge.
»Sie weiß den Weg. Sie hat mich gefunden und hierher gebracht, sie scheint bereits mehr über unsere Zukunft – oder über diese Welt – zu wissen als ich«, erklärte Asthanthe.
Bersan sah seine Frau an und fragte: »Weißt du ein Ziel oder nur einen Weg?«
Sie zeichnete mit dem Finger einen gewundenen Weg in das weiche Moos, an dessen Ende sie einen Stein legte. Sie deutete auf Anron und Asthanthe. Dann legte sie einen weiteren Stein auf einen Punkt ein Stück entfernt vom Ende der Linie und zeigte auf Bersan und sich.
»Wir werden uns trennen?«
Sie nickte.
»Anron und Asthante erreichen ihr Ziel zuerst?«
Wieder nickte sie.
Bersan fragte: »Und woher weißt du das?«
Bjora lächelte und wies mit dem Finger nach oben in den Himmel.
Anron schaute hinauf zu den Wolken. Sie verrieten ihm nichts. Er zuckte mit den Schultern und meinte: »Morgen brechen wir auf.«
Bjora schüttelte den Kopf und hielt drei Finger in die Höhe.
»In drei Tagen?«
Sie nickte.
Anron widersprach nicht. Wenn sie noch blieben, konnten die Fleischvorräte in der Sonne richtig trocknen, und überhaupt war ihm war eine Pause vor dem voraussichtlich anstrengenden Aufstieg zu einem unbekannten Ziel willkommen. Er bemerkte, dass die drei Gefährten ihn aufmerksam ansahen, als warteten sie auf irgend etwas.
Dann begriff er und sagte: »König Anron der Unwissende verkündet: Wir bleiben drei Tage hier.«
Wenn es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick geben sollte, dann war sie hier am Fuß der Berge nicht zu finden. Die beiden von den Wesen dieser Welt einander zugeordneten Paare wurden nicht automatisch und auf Anhieb zu Liebenden. Kameradschaft, Freundschaft gar, empfanden sie gleich für einander. Doch war der sprichwörtliche Funke, der die Liebe entflammen lässt, nicht vom Himmel gefallen.
Anron und Asthante verbrachten genau wie Bersan und Bjora Zeit mit Spaziergängen, tauschten Gedanken und Empfindungen aus. Für Bersan war es naturgemäß nicht so leicht, etwas von Bjora zu erfahren, aber vielleicht war es gerade die schwierige Kommunikation, die schneller zu Vertrautheit und zärtlicher Zuneigung führte als beim anderen Paar. Bersan las in ihren Augen, was Bjora nicht zu sagen vermochte, konzentrierte sich auf ihr Mienenspiel, ihre Gesten. Vielleicht lag es aber auch am Charakter der beiden, sie suchten die Nähe, taten alles gemeinsam.
Anron war – da war seine Selbsteinschätzung kein Irrtum – ein Eigenbrötler, ein Einsiedler. Es hatte mehrere Gründe gegeben, dass er einst Zuflucht in der Hütte im Wald gesucht hatte; Zuflucht vor den Menschen. Sein Drang zur Einsamkeit war wohl das stärkste Motiv. Er liebte die Stille, die Ruhe. Nun hatte ihm das Schicksal oder eine unbekannte Macht eine Frau zur Seite gestellt. Nichts an ihr stieß ihn ab, im Gegenteil, aber er achtete darauf, dass eine gewisse Distanz zunächst gewahrt blieb. Asthante schien das zu respektieren oder gar gleichermaßen zu wollen.
So blieben sie drei Tage und Nächte am Fuß der Berge, lernten einander kennen, spekulierten über die Zukunft und teilten die Freude an dieser Welt, die nur für sie geschaffen schien und in der es keinen Mangel, keine Angst, keine Schmerzen und keine Feindschaft gab.
In der Nacht vor ihrem Aufbruch nahm Asthante Anron sanft in ihre Arme, um ihn zu wecken. Er wurde offenbar von einen Alptraum heimgesucht, stöhnte im Schlaf und war schweißgebadet. Sie hielt ihn fest umschlungen, bis er wach war.
»Der Cowboy…«, sagte er mit Entsetzen in der Stimme.
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Fortsetzung folgt.

Samstag, 18. September 2010

ONE – Der Baby-Protest

Lieber Blogbesucher,

Werde jetzt aktiv: Unterzeichne die Petitionich möchte dir gerne den ONE Baby-Protest vorstellen. Mit dieser lustigen Aktion wollen wir eine sehr ernste Botschaft verbreiten—und ich hoffe, du hilfst uns dabei.

Am heutigen Tag kommen über 1000 Kinder HIV-positiv zur Welt. Das ist eine erschütternde Zahl. Am schlimmsten daran ist aber, dass das völlig unnötig ist. Die HIV-Übertragung von der Mutter auf ihr ungeborenes Baby wäre nämlich mit einer einfachen Behandlung vermeidbar.

Wir können das ändern. Gemeinsam können wir sicherstellen, dass Dank wirksamer Behandlung bis 2015 kein Kind mehr mit HIV geboren wird. Babies mit HIV können nicht für sich selbst sprechen, also tue du es für sie—mach mit beim ONE Baby-Protest!

Klicke hier, um die Petition zu unterzeichnen

http://one.org/de/mitmachen/babyprotest/o.pl?id=1941-3579593-a0A0FSx&t=3

Die Petition im Wortlaut:

Sehr geehrte Staats- und Regierungschefs,

wir können bis 2015 sicherstellen, dass kein Kind mit HIV geboren wird. Der erste Schritt auf dem Weg dahin ist ein Abkommen zur Bekämpfung extremer Armut bei den Vereinten Nationen. Jede Nation muss ihren Teil beitragen. Bitte tragen auch Sie Ihren Teil bei. Vielen Dank!

Gemeinsam können wir bis 2015 eine Welt schaffen, in der kein Kind mit HIV geboren wird.

Vielen Dank!

Freitag, 17. September 2010

Schreibtipp Nummer Zwölf: Bilder provozieren

Heute gibt es - nach langer Pause - mal wieder einen Tipp zum Schreiben. Die Inspiration beschlich mich bei der Lektüre eines »Textertipps« von Herrn Gottschling von der Textakademie. Dort geht es zwar um Marketingformulierungen, aber das Prinzip lässt sich leicht auf das literarische Schreiben übertragen.
Es geht darum, Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Man könnte, angenommen ein Herr Wegemann geht durch eine Stadt, folgenden Satz schreiben:
Herr Wegemann geht durch die Stadt.
Daran ist nichts falsch. Wenn es aber für das Erzählte von Belang sein sollte, dass im Kopf unserer Leser ein etwas anschaulicheres Bild des Vorganges entsteht, ersetzen wir das Verb »geht« und das Substantiv »Stadt«:
Herr Wegemann schlendert durch die Fußgängerzone.
Herr Wegemann hetzt durch die Einkaufsstraße.
Herr Wegemann stolpert durch Betonschluchten.
Da sieht man den guten Herrn Wegemann schon etwas deutlicher. Wie es ihm dabei ergeht, wissen wir allerdings nicht so recht zu sagen. Das kann man durch das Hinzufügen von Adjektiven anklingen lassen.
Herr Wegemann eilt durch dunkle Betonschluchten.
Herr Wegemann stolpert müde durch das Stadtviertel.
Herr Wegemann schlendert durch anheimelnde Vorstadtstraßen.
Ist das Herr Wegemann?In den meisten Fällen sollte man es dabei belassen, um die Sätze nicht zu überfrachten. Attribute zu den Adjektiven können jedoch in manchen Fällen eine Stimmung noch verstärken:
Herr Wegemann eilt durch bedrohlich dunkle Betonschluchten.
Herr Wegemann stolpert durch ein übermäßig schmuddeliges Stadtviertel.
Herr Wegemann schlendert durch die phantasievoll begrünte Fußgängerzone.
Ob das jeweils notwendig ist, sollte ein Autor sorgfältig abwägen, denn die »dunkle Betonschlucht« reicht meist schon aus um zu wissen, dass da etwas Bedrohliches in der Luft liegt.
Man könnte - ich sage nicht dass man sollte - aber man könnte natürlich noch darüber hinaus gehen:
Herr Wegemann eilt mit gehetztem Blick durch bedrohlich dunkle Betonschluchten.
Herr Wegemann stolpert planlos durch ein übermäßig schmuddeliges Stadtviertel.
Herr Wegemann schlendert vergnügt durch die phantasievoll begrünte Fußgängerzone.
Man könnte. Meist sollte man jedoch nicht. Auch der leckerste Kuchen wird weniger attraktiv, wenn man zehn Stücke hintereinander weg essen soll. Dass Herr Wegemann einen gehetzten Blick hat, beziehungsweise gehetzt ist, kann man in anderen Sätzen drum herum ansiedeln. Am besten so, dass der Leser selbst darauf kommt:
Herr Wegemann eilt durch dunkle Betonschluchten. Seine Augen suchen nach einem Ausweg. Ein Blick zurück - die Verfolger sind nicht zu sehen.
So. Das war es für heute. Der eine oder die andere unter meinen Blogbesuchern will ja nicht immer nur lesen, sondern ist selbst kreativ. Also was schreibst du, lieber Leser, anstelle des folgenden Satzes?
Frau Müller schreibt einen Text.

Donnerstag, 16. September 2010

Neuland – Teil 7

Ohne lange Vorreden geht es nach dem Hinweis auf die bereits erschienenen Teile weiter. Der Hinweis: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6]

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Die Bank

Anron erzählte Bersan nichts von dem Traum. Er hatte keine Ahnung, ob er ihn und wie er ihn deuten sollte, ob möglicherweise eine Wüste vor ihnen lag, oder etwas, was durch die Wüste symbolisiert wurde. Er beschloss, wachsam zu sein und aufmerksamer als bisher die Gegend zu beobachten, durch die sie wanderten. Mehr mit dem Traum anzufangen fiel ihm nicht ein.

Sie wuschen sich im Bach und brachen früh auf, weiter auf die Berge zu. Der Abstand war größer, als sie beim Beginn ihrer Wanderung angenommen hatten. Die nur gelegentlich durch Hügel unterbrochene Ebene zog sich schier endlos hin. Da sie keine Eile hatten, genossen sie ihre Reise durch eine unberührte Natur, die mit nichts auf ihrer vergangenen Welt vergleichbar war.

Sie unterhielten sich gelegentlich darüber, wer wohl der versprochene nächste Führer sein würde, von dem bisher keine Spur zu sehen war. Bersan vermutete einen weiteren Wächter, Anron tippte auf etwas Neues, Unbekanntes.

Sie hatten bisher in dieser Welt kein schlechtes Wetter erlebt, nur strahlend blauen Himmel und angenehm warme Nächte, aber am vierten Tag nach Yondils Abschied sahen sie dunkle Wolken am Horizont aufziehen. Sie waren seit dem Morgen ungefähr zwei Stunden gewandert, nun blieben sie in der Nähe eines größeren Hügels stehen, um den Himmel zu mustern.

Kein nettes Wetter.»Meinst du, es wird regnen?« fragte Bersan.

»Muss es wohl gelegentlich, sonst könnten die Pflanzen hier nicht so gedeihen. Es sei denn, die Biologie geht hier andere Wege.«

Die Wolkenwand wuchs in geradezu atemberaubendem Tempo. Sie sahen sich vergeblich nach einem Schlupfwinkel um. Nicht einmal Bäume gab es hier, nur Buschwerk, unter das man nicht kriechen konnte.

»Wächter dieses Ortes, wo bist du?« fragte Anron versuchsweise.

»Hier, Anron, Freund des Waldes.«

Ein graugekleideter Wächter, der Yondil sehr ähnelte, kam den Hügel hinab auf sie zu. »Willkommen auch du, Bersan, Freund der Höhen.«

»Ach, das bedeutet also mein Name«, sagte Bersan überrascht.

»Ja, wusstest du das nicht?«

»Nein, es ist mir neu. Sei gegrüßt, Wächter dieses Ortes. Wie dürfen wir dich nennen?«

»Yimanel ist mein Name.«

»Yimanel, wird es Regen geben?«

Das Wesen nickte. »Regen und Gewitter. Fürchtet euch nicht.«

»Nein, direkt Angst haben wir nicht, aber es wäre angenehmer, wenn wir an einem geschützten Ort abwarten könnten. In der Welt, aus der wir kommen, waren Blitze auf freiem Feld nicht unbedingt gut für die Gesundheit.«

»Folgt mir.«

Er führte sie ein Stück den Hügel hinauf. Vor ihnen tat sich eine Lücke im Buschwerk auf, die Augenblicke zuvor nicht dagewesen war, das waren sich die Männer ganz sicher. Sie traten hindurch und sahen sich fassungslos um.

Sie standen in einem Gebäude, wie sie es aus ihrer Welt gekannt hatten. Yimanel hatte ihnen zwei Fackeln gereicht, die er mit einem kurzen Kopfnicken entzündet hatte wie Yondil damals das Lagerfeuer. Sie erkannten eine große Halle mit Schreibtischen, Sitzgruppen, verglasten Schaltern.

»Was ist das hier?«, fragte Bersan ungläubig.

»In eurer Welt nannte man es eine Bank. Man tätigte dort Geschäfte.«

»Moment mal, sind unter diesen Hügeln überall Gebäude begraben?« fragte Anron überrascht.

»Ja, unter den meisten. Nicht viele sind erhalten, es ist viel Zeit vergangen, aber wir haben den Auftrag, einige zu bewahren.«

»Das ist unglaublich«, sagte Bersan erschüttert, »das müsste längst alles verrottet sein, wenn die Zeitrechnung von Yondil stimmt. Kein Gebäude hält tausend Jahre, ganz zu schweigen von der Einrichtung.«

Yimanel lächelte das den Wächtern eigene geheimnisvolle Lächeln und erklärte nur: »Wir haben einige bewahrt, wie sie waren. Bevor du fragst, Freund der Höhen, kann ich dir gleich sagen, dass ich den Grund dafür nicht kenne.«

Anron und Bersan begannen, Schreibtische zu untersuchen, Türen zu öffnen, Schriftstücke zu betrachten. Es war alles polnisch geschrieben und in einem Zustand, als sei die Bank gestern erst verlassen worden.

»Gibt es in der Nähe auch ein gut erhaltenes Kaufhaus?«, fragte Bersan.

»Ihr sucht Kleidung.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ja,« sagte Bersan, »es wäre mir nach wie vor unangenehm, nackt den Frauen zu begegnen, die wir treffen sollen.«

Die Wächter stellten niemals wirkliche Fragen, sie schienen keine Auskunft nötig zu haben, das hatten sie bereits festgestellt. Auch Yimanel hinterfragte nicht weiter sondern erklärte: »Die Frauen haben keine Kleidung, aber wenn ihr später welche haben wollt, wird sich das machen lassen. Allerdings dürft ihr nichts aus den bewahrten Häusern mitnehmen, falls sich eines, wie jetzt, vor euch öffnet. Ihr müsst euch selbst anfertigen, was ihr haben wollt. Aber ihr schämt euch doch auch jetzt nicht.«

Das stimmte allerdings. Die beiden Männer hatten ihre Blöße zu keinem Moment vor einander zu verbergen gesucht, seit sie in jener Nacht des Gerichtes nackt in den See gerannt waren. Auch eine morgendliche Erektion des Kameraden wurde nicht kommentiert, das gehörte zum Mannsein nun einmal dazu. Für das große Geschäft gingen sie nach wie vor ein paar Schritte hinter ein Gebüsch, aus dem Blickfeld des Gefährten, aber das hatte weniger mit Scham zu tun als mit Rücksichtnahme.

Nun war allerdings die Begegnung mit Frauen womöglich doch etwas anderes. Womöglich. In jener anderen, vergangenen Welt gingen ein Saunabesuch oder der Aufenthalt an einem textilfreien Badestrand unverkrampft vonstatten, warum sollte es hier eigentlich anders sein? Weil das meine Frau sein – werden – soll, überlegte Anron. Aber warum sollte ich mich dann ausgerechnet vor ihr schämen? Oder habe ich Scheu vor Bersans Frau? Wie werde ich überhaupt erkennen, welche mir und welche ihm zugedacht ist? Wenn wir nun beide die gleiche…

Anron verwarf die nichtigen Überlegungen und nickte. »Gut, dann werden wir abwarten. Ein Kaufhaus würde auch nichts nützen, wenn wir uns nicht aus den Vorräten bedienen dürfen. Wann treffen wir die Frauen?«

»Wenn die Zeit gekommen ist. Nun folgt mir, ihr habt sicher Hunger. Nach dem Essen könnt ihr weiterwandern, das Gewitter wird dann vorüber sein.«

Yimanel führte sie in einen Nebenraum, in dem ein reich gedeckter Tisch stand. Wer die Kartoffeln, das Gemüse und den dampfenden Braten zubereitet hatte, woher das alles stammte, hinterfragten die beiden Männer nicht. Die Antworten würden sie sowieso genauso gut verstehen wie die Tatsache, dass ein Bankgebäude, das tausend Jahre unter einem Hügel begraben war, aussah wie neu. Sie genossen die Speisen, es gab sogar Wein dazu.

Als sie gesättigt waren, führte Yimanel sie wieder hinaus. Der Eingang verschwand vor ihren Augen, nur noch Gras und Buschwerk waren zu sehen. Die Erde war nass, es roch angenehm frisch, Wasser tropfte von den Zweigen. Die letzten Wolken eilten davon und die Sonne wärmte die beiden Männer, die erst jetzt bemerkten, dass es in der Bank deutlich kühler gewesen war.

Sie bedankten sich bei Yimanel für die Gastfreundschaft und wanderten durch das feuchte Gras weiter auf die Berge zu. Ein neuer Führer war nicht in Sicht.

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Fortsetzung? Folgt.

Mittwoch, 15. September 2010

Neuland – Teil 6

Herzlich willkommen, lieber Stammgast und regelmäßiger Leser. Es geht gleich weiter mit der wunderlichen Geschichte von Fritz Wegemann, auch bekannt als Anron. Doch zuvor sei für diejenigen, die neu dazu stoßen oder sich nicht recht erinnern, dem Wunsch einer hochgeschätzten Stammleserin gemäß, auf die bereits erschienenen Teile verwiesen. Bittesehr: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5]

So. Nun aber. Auf geht’s.

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Der Traum

Am Abend des nächsten Tages verabschiedete sich Yondil von ihnen. Er erklärte, dass sie in der bisherigen Richtung auf die Berge zu weiterwandern sollten, zu gegebener Zeit würden sie einen anderen Führer haben, er selbst müsse nun zurückkehren zu seinem Wald.

Anron und Bersan bedankten sich für alle Hilfe, Auskünfte und seine Freundlichkeit. Sie wären gerne weiter mit ihm gewandert, aber sie begannen, sich an die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt zu gewöhnen und selbst zurechtzufinden. Man musste einiges einfach akzeptieren, ohne lange nach dem Grund zu fragen. Man konnte getrost davon ausgehen, dass alles seinen Sinn hatte und gut war. Anron dachte an ein Lied von Van Morrison aus jener vergangenen Welt. It ain’t why why why why why, it just is hieß es darin.

Yondil winkte ihnen noch einmal zu und wanderte dann der untergehenden Sonne entgegen. Die beiden Männer sahen ihm lange nach. Sie hatten sich an sein merkwürdiges Äußeres, an seine überlange Körpergröße, gewöhnt, sie hatten ihn als zuverlässigen und sorgenden Begleiter geschätzt, der ihnen die ersten Schritte in dieses neue Leben leicht gemacht hatte.

Yondil hatte geduldig ihre Fragen beantwortet, aber vieles hatten sie dennoch nicht begriffen. Manche Antworten, die er gegeben hatte, brachten keine Klarheit. Weil sie noch zu sehr in ihrer vergangenen Welt verhaftet waren? Sie dachten noch immer in Begriffen wie Tagen, Stunden, Minuten, obwohl die Zeit hier keine wichtige Rolle zu spielen schien. Weil sie immer nach einem Grund für etwas suchten, nach Gesetzmäßigkeiten, Regeln? Womöglich, nein sicher gab es hier solche Dinge, aber sie blieben einstweilen zum Teil unverständlich.

Auf eine Frage, die Anron am letzten Nachmittag mit Yondil gestellt hatte, gab es jedoch keine Antwort: »Warum wir? Fritz Wegemann alias Anron und Robert Stock alias Bersan. Warum sind wir übrig geblieben? Durch jenes Tor gegangen? Von Milliarden Menschen ausgerechnet wir?«

Yondil hatte die Frage wohl erwartet, denn er entgegnete ohne Zögern: »Es obliegt mir nicht, das zu wissen. Ihr beide und die beiden Frauen seid hier angekommen, das weiß ich. Vier Menschen. Ich frage nicht nach dem Warum.«

Als die Sonne unterging, legten sie sich in einem kleinen Birkenhain zum Schlafen nieder. Sie hatten für die Abendmahlzeit Früchte gesammelt, Wasser gab es genügend an einem munter sprudelnden Bach. Sie schliefen schnell ein, und Anron träumte zum ersten Mal in seinem neuen Leben einen Traum, der ihn beunruhigte.

Kein Weg ist zu sehen.Er hatte sich in einer endlosen Wüste befunden, nicht vergleichbar mit der paradiesischen grünen Welt, in der sie gelandet waren. Er blieb ihm rätselhaft, was der Traum bedeuten sollte, falls er überhaupt eine Bedeutung hatte. Da er sich sonst nie an Geträumtes erinnert hatte, weder in diesem noch in jenem Leben, vermutete er, dass es nicht verkehrt sein konnte, sich Gedanken darüber zu machen.

Wie hatte sein Traum begonnen? Richtig, er fühlte sich müde und erschöpft. Seine Kräfte schwanden. Die gleißende Sommersonne brannte unbarmherzig auf ihn herab, der weiße Staub der unendlichen Wüste hatte, vermischt mit seinem Schweiß, eine schmerzende Kruste auf der Haut gebildet. Seine Augen brannten von der Anstrengung, in der schattenlosen Helligkeit einem Weg zu folgen, von dem er nichts wusste. Er suchte. Aber wonach er suchte, das war ihm nicht klar.

War er vom Weg abgekommen, ohne es zu bemerken? Nein, der Weg war richtig. Er spürte, dass er auf dem Weg war. Es gab allerdings keinen Weg, keinen Pfad, keine Spur. In dieser menschenfeindlichen Landschaft gab es nur Sonne, Sand und Staub.

»Ich wüsste gerne, wie lange es noch so weitergeht«, teilte er der Stille der leblosen Wüste mit. Kein Tropfen Wasser war in Sicht, weit und breit gab es nichts, was ihm hätte Schatten spenden können. Schlimmer als der drängende Durst war jedoch die Ungewissheit, wohin er eigentlich ging. War er in diese Einöde gekommen, um zu sterben? Etwas zu finden? Jemanden zu treffen?

Er schloss die Augen vor der stechenden Glut der Sonne und stolperte blind weiter. Was machte es noch aus, ob er den rieselnden Sand und die flimmernden Hitzewellen sah oder nicht. Welche Rolle spielte es am Ende seiner Kräfte, ob er im Kreis ging oder geradeaus? Er verdurstete und kannte das Ziel ohnehin nicht. Der Sand verbrannte seine Fußsohlen. Wahrscheinlich gab es gar kein Ziel. Entkräftet sank er in den heißen Staub, die verklebten Augen blieben geschlossen. Sein ausgedörrter Mund atmete kleine Staubwölkchen, es war totenstill.

Dann fiel ein Schatten auf ihn. Mühsam öffnete er die Augen und sah in ein fremdes Gesicht. Ein freundliches Gesicht, ein wettergegerbtes Cowboygesicht wie aus einem alten Western. Der Mann streckte ihm eine Feldflasche entgegen und sagte: »Trink. So viel du willst.«

Als er nach der Flasche greifen wollte, war er plötzlich von Eiseskälte umgeben und durchdrungen. Er wollte etwas sagen, und dann –

– wachte er auf.

Neben ihm schlief Bersan, tief und friedlich. Anron zitterte vor Kälte. Er brauchte eine Weile, bis ihm wieder warm wurde. Er war sich zunächst nicht einmal sicher, ob er noch träumte oder wach war.

Dann lag er neben seinem schlafenden Freund und überlegte, was der Traum bedeuten mochte. Träume sind Schäume, nomen est omen, ging es ihm durch den Sinn. Sinnlose Gedanken, womöglich aus einem anderen Leben.

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Fortsetzung folgt.