Donnerstag, 15. April 2010

Videos vom Transforum 2010

Falls es mal regnen sollte, oder falls auch bei gutem Wetter Interesse besteht, empfehle ich heute den geschätzten Blogbesuchern nachdrücklich und mit Überzeugung ein paar Videomitschnitte vom Transforum 2010, von dem ja auf diesem Blog mehrfach die Rede war. [2. Februar] [25. Februar] [26. Februar] [27. Februar] [3. März] [19. März]
Die Audio-Mitschnitte und etliche Materialien waren schon länger verfügbar, nun sind auch die Videos (von hervorragender Qualität) im Netz. Wenn es regnet, klickt man auf dieses (bei mir nass gewordene) Foto:
trafo
Wenn es nicht regnet, auch.
Besonders empfehlenswert: Der Vortrag von Volker Brecht, Mitautor des Buches Die Welt verändern: Grundfragen einer Theologie der Transformation und – wurde auf diesem Blog schon sehr gelobt – der Vortrag von Harald Sommerfeld, Mitautor des Buches Beziehungsweise leben: Inspirationen zum Leben und Handeln im Einklang mit Gott und Menschen.

Mittwoch, 14. April 2010

IOT-free – Fans von Bob Dylan lächeln glücklich

das-auge-in-japan Fans von Bob Dylan sind hart im Nehmen. Ich meine Fans, nicht gelegentliche Zuhörer. Fans brauchen aber dann ab und zu auch mal etwas, was die Härte mindert.
Bei Expecting Rain fand ich eine IOT-FREE-Compilation der Konzerte in Japan 2010; Herr Dylan war ja kürzlich einen ganzen Monat bei den freundlichen Schlitzaugen mit dem glücklichen Lächeln zu Gast.
IOT-FREE? Wat issn ditte, dachte ich ratlos. Auch andere Mitglieder bei Expecting Rain waren clueless. Einer mutmaßte: Illuminates Of Thanateros?

Weit gefehlt, die Lösung lautet: IOT = Instrument Of Torture = The Keyboard!

Ich bin Bob Dylan Fan, klares Bekenntnis. Seine Schweineorgel geht mir mitunter auf die Nerven, ebenso klares Bekenntnis. Nun nimmt er aber zum Glück gelegentlich Abstand vom Folterinstrument und spielt Gitarre oder Mundharmonika oder gar nichts.
Solche Lieder finden sich in der genannten Zusammenstellung - 100% orgelfrei!

Die Soundqualität ist, da »Hide« aufgenommen hat, in Ordnung. Der Download über Rapidshare ist zwar langwierig und doof, aber immerhin gibt es zwei CDs mit ohne Keyboard als Belohnung. Einstweilen. Die Bootlegs haben es so an sich, nach einer Weile vom Server zu verschwinden, nämlich genau 60 Tage nach dem letzten Download. Also sollte bald zugreifen, wer Interesse hat.

Japan (IOT Free Compilation) 2010
All tracks are Hide recordings (cheers, mucker!) - Track details are included on the files.

CD1
01 Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again
02 Every Grain Of Sand
03 I'll Be Your Baby Tonight
04 My Wife's Home Town
05 This Wheel's On Fire
06 Sugar Baby
07 Make You Feel My Love
08 It Ain't Me, Babe
09 It's All Over Now, Baby Blue
10 Things Have Changed
11 Cold Irons Bound
12 Love Minus Zero/No Limit
13 Can't Wait
[DOWNLOAD CD 1 HIER]

CD2
01 High Water
02 Senor
03 Don't Think Twice, It's All Right
04 John Brown
05 Lay Lady Lay
06 Blind Willie McTell
07 The Man In Me
08 Forgetful Heart
09 Girl Of The North Country
10 Ballad Of Hollis Brown
11 Not Dark Yet
12 Ballad Of A Thin Man
[DOWNLOAD CD 2 HIER]

Zum Entpacken der MP3-Dateien braucht man übrigens ein (natürlich kostenloses) Programm, das mit dem RAR-Format zurechtkommt. Google hilft bei der Suche. Wer zu faul zum guhgeln ist, geht direkt zu 7-Zip.

P.S.: Natürlich gibt es nicht nur kostenlose Musik von Herrn Robert Zimmermann: His Bobness bei Amazon

Dienstag, 13. April 2010

…ass kickin’ contest – mal wieder

busy Ich habe mal wieder viel zu tun, worüber ich allerdings kein Klagelied anzustimmen gedenke. Das wäre ja noch schöner! So schaut es aus:
Letzte Woche habe ich den Auftrag für die Übersetzung eines Buches angenommen und begonnen, das Projekt soll innerhalb von drei bis vier Wochen fertig werden. Außerdem sind zwei CD-Produktionen, die eine davon ausgesprochen umfangreich, im April zur Abgabe fällig.
Es mag daher sein, dass es auf diesem Blog in den nächsten Tagen und Wochen vermehrt Gast- und Kurzbeiträge gibt, auch Hin- und Verweise. Morgen zum Beispiel geht es um Bob Dylan Bootlegs, übermorgen um Videos, die es anzuschauen lohnt und am Tag darauf um ein Buch, das man eilig bestellen sollte, so man es denn haben möchte.
Jessika-und-Bernd-Fans müssen jedoch nicht verzweifeln. Die beiden noch fälligen Fortsetzungen fallen weder ins Wasser noch sonst wohin. Voraussichtlich geht es am kommenden Montag weiter, und dann hängt es vom Leservotum ab, wie lange ich für den Schluss brauchen werde.
Die goldige Überschrift dieses Beitrages? Ach ja, die Überschrift. Ja ja. Also: I’m busier than a one-legged man in an ass kickin’ contest.
Das putzige Bild? Ach ja, das Bild. Ja ja. Also: Quelle WikiCommons

Montag, 12. April 2010

Wer bist du, Jessika? – Teil 4

image Zur Abstimmung bei der vorigen Folge schrieb mir eine Leserin:
Hallo, Herr Matthia!
Also, ich sehe (zu oft) alleine in den Fernsehnachrichten Grausiges und weiß um (zu) viel durch meine Engagement für Amnesty International. Mit meinem Wunsch nach einer dezenten Ausdrucksweise befinde ich mich aber offenbar auf der Seite der demokratischen Opposition. Ich werde die Fortsetzung aber (trotzdem) gerne lesen. Und Bernd? Der wird sich überlegen, ob „Traumfrauen“ wirklich Traumfrauen sind ;-).
Vielen Dank für die Geschichte und Gruß von …
In einem Kommentar war zu lesen:
Ich bin nicht so ein Leichenfledderer. Ich habe den blumigen Vorhang zwischen den Geschehnissen und der neugierigen Lesernase quasi mitgewebt. Leser haben selber genug Fantasie, man muss ihnen nicht alles vorkauen.
Nun ist das Ergebnis der Abstimmung auch relativ knapp ausgefallen. Daher habe ich einen Mittelweg gewählt, man darf mir glauben, dass die ursprüngliche Version um einiges deutlicher in der Beschreibung war. Ich habe entschärft; es wird den Lesern nicht alles vorgekaut, allerdings ist dieses Kapitel, angesichts der Abstimmung und der Spielregeln, auch nicht als Gute-Nacht-Geschichte für Zehnjährige geeignet.
Ach ja, der übliche Hinweis für Zufallsbesucher: Dies ist die Fortsetzung einer Geschichte. Wer Teil 1 und Teil 2  und Teil 3 sucht, wird mit Klick auf Teil 1 und Teil 2 und Teil 3 fündig.
So. Damma net do, damma net do, aufi geht’s!
--- --- ---  --- --- ---  --- --- ---
Am Abend war Bernd so erschöpft wie seit Jahren nicht mehr, auf eine befriedigende, angenehme, ihn tief durchdringende Weise. Jessika dagegen schien ausgeruht und munter, als wäre sie gerade erst aus erholsamem Schlaf erwacht.
»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte Bernd, eine Zigarette im Mundwinkel, während er misstrauisch sein Gesicht im Schlafzimmerspiegel betrachtete und sich ernsthaft fragte, was eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit so einem alten Schnösel wie ihm anfangen wollte. Sein Bauch war kein Waschbrett, sondern eine deutliche Wölbung, da half auch kein Einziehen und Luftanhalten. Er war kein Schwächling, aber muskulös konnte er sich auch nicht nennen. Er war einfach normal, unauffällig und eindeutig nicht mehr der Jüngste. Alles andere jedenfalls als ein Frauentyp, wie einschlägige Medien ihn darzustellen pflegten.
»Hier, wenn du willst. «
»Ich meine bisher. Du musst doch irgendwo wohnen. Wo sind deine Sachen? Hast du nicht bisher bei den Studenten im sechsten Stockwerk gelebt?«
»Die Studenten kenne ich so gut wie du, nämlich gar nicht. Bisher war ich ein pubertierendes Mädchen, das mit einem Festmahl in der Wohnung der Hausmeisterin zu mitternächtlicher Stunde zu existieren aufgehört hat. Beziehungsweise genau da stehen geblieben ist, stehen gelassen wurde, ohne eine Chance, weiterzukommen. Ich bin sehr froh, dass du mich jetzt endlich nach so vielen Jahren weitergedacht hast.«
Bernd beschloss, zumindest äußerlich das Spiel mitzumachen. Jessika hat die Familie Aksu umgebracht. Das war ihm, einmal gedacht, schon am Nachmittag eine Tatsache gewesen, obwohl nichts darauf hindeutete. Gewissheit braucht keine Beweise. Daher war Vorsicht geboten. Wer sechs Menschen auf dem Gewissen hat, macht sich kein Gewissen um einen 41jährigen Schreiberling.
»Na dann«, sagte er, »dann ging die Frage natürlich in die falsche Richtung.«
»Der Weg ist das Ziel«, gab sie zurück. »Wenn du willst, wohne ich hier.«
Bernd nickte. Natürlich wollte er das. Nicht ohne Bedenken, aber die konnte er ja später genauer betrachten.

Einige Wochen später hatte er Familie Aksu vergessen. Er hatte sich an Jessika gewöhnt, und manches nahm er hin, ohne es zu verstehen. Eigentlich war sie nicht eingezogen, sondern einfach geblieben. Kein Gepäck brachte sie in die Wohnung, sie schien auch nirgends sonst etwas gelagert zu haben. Und doch fehlte ihr nichts. Das war so bedenklich wie die Sache mit dem Fahrstuhl. Und noch viel mysteriöser. Am Morgen des zweiten Tages hatte sie nach dem Duschen ein blassgelbes Kleid getragen; woher das gekommen war blieb Bernd verborgen. Am Abend ein silbern schimmerndes Cocktailkleid. Ein warmer Pullover für kühlere Abende. Dessous…. Jessika war einfach da, ging mit ihm frühstücken, spazieren, einkaufen, hatte Geld und Kreditkarten. Sie fragte nichts, wusste alles. Wenn Bernd Fragen stellte, erhielt er selten eine Auskunft, mit der er etwas hätte anfangen können. Jessika wich nicht aus, sie schien oft einfach nicht zu begreifen, dass ihre Antworten ganz und gar abwegig waren. Sie passten nicht zu den Fragen, passten nicht zur Realität. Auch ihr Alter blieb ihm rätselhaft. Mal schien sie Mitte Zwanzig zu sein, mal eher ein Teenager. Er wurde nicht schlau daraus. Sie war neunzehn, sie war aber auch sechsundzwanzig. Beides war keine Lüge. Und doch konnte nur eines davon stimmen, oder vielleicht war ein ganz anderes Alter richtig? Eines Morgens, als sie aus dem Bad kam, sah sie einen Moment aus wie ein Kind, zwölf, höchstens dreizehn Jahre alt. Bernd schob es auf das blendende Sonnenlicht, das durch die Fenster auf sein Gesicht fiel, denn als Jessika näher kam, war sie wieder die junge Frau, die er kannte und doch nicht kannte.
»Wie alt bist du, Jessika?« fragte er erneut, als sie sich neben ihn an den Küchentisch setzte.
Sie lächelte das Lächeln, das ihn noch immer wie am ersten Tag verzauberte. »Wie alt bin ich? Wie alt ist der Ozean? Wie alt ist das Universum? Wie alt ist die Musik? Wie alt ist die Kunst? Wie alt bist du?«
»Das zumindest ist leicht und eindeutig. Immer noch Einundvierzig.«
»Meinst du. Wenn ja, dann hat die Liebe dich wesentlich verjüngt. Aber manchmal bist du so weise, als hättest du bereits Jahrhunderte gelebt. Vielleicht bist du Saint Germain?«
»Hast du Umberto Eco gelesen?«
»Du hast ihn gelesen, Das Foucaultsche Pendelbisher fünf Mal in den Jahren seit - nun ja. Aber gut, wenn du meinst, dann bist du eben einundvierzig. Ich liebe dich.«
Sie tranken ihren Kaffee, rauchten dazu zwei Zigaretten, dann zog sich Bernd in sein Arbeitszimmer zurück, um ein paar Stunden zu schreiben. Ein Abgabetermin rückte langsam näher, und sein Verleger liebte Pünktlichkeit. Jessika hatte nichts weiter vor, sie wollte im nahen Park spazieren gehen.

Der Vormittag war mild und sonnig, ein leichter Wind spielte mit den Zweigen. Etwa dreißig vergnügte oder gelangweilte Kinder, einige an ihren Müttern herumzerrend, andere ins Spiel allein oder mit anderen Kindern vertieft, bevölkerten den Spielplatz. Ein alltägliches, ein kaum beachtenswertes Bild.
Am Rand des Sandkastens standen Bänke, zum Teil im Schatten großer Bäume, zum Teil in der Sonne. Auf einer dunkelgrün gestrichenen Bank, ein wenig abseits, saß eine junge Frau. Neben ihr lag eine Tasche, aus der ein paar Spielsachen herausragten, leuchtend gelbe Kinderschaufeln für den Sand, ein rotes Sieb, der passende Eimer stand neben den Füßen der Frau. Sie nickte dem kleinen Jungen, er mochte vier oder fünf Jahre alt sein, aufmunternd zu, ein freundliches Lächeln auf den Lippen: »Natürlich darfst du den Eimer ausleihen, Hauptsache, du bringst ihn später zurück.«
Der Knirps schnappte den Eimer und rannte zum Sandkasten, wo er eifrig begann, mit beiden Händen das Gefäß zu füllen.
»Etwas weiter nach links, Junge«, flüsterte die Frau auf der Bank, und obwohl er das Flüstern aus der Entfernung von etwa zehn Metern auf keinen Fall gehört haben konnte, krabbelt er einen halben Meter nach links, um dort eifrig weiterzuschaufeln.
Die junge Frau warf einen forschenden Blick in die Runde, aber niemand achtete auf sie oder das Kind mit dem geliehenen Eimer. Sie wusste, dass sich das gleich ändern würde, zumindest was den Jungen betraf. Oder das, was übrig bleiben mochte. Sie selbst würde dann bereits durch das Gebüsch hinter der Bank getreten sein und auf dem Hauptweg wie eine von vielen Spaziergängerinnen die Ruhe des Parks genießen.
Der Knabe hatte den Eimer gefüllt, leerte ihn mit einem frohen Lachen hinter sich aus, und begann erneut, zwischen seinen ausgestreckten Beinen zu graben.
Die dritte Ladung Sand landete noch im Eimer, eine vierte Ladung gab es nicht mehr. Stattdessen bestaunte der Junge das merkwürdige Gebilde, das er ausgebuddelt hatte. Es war schwer, sah leicht verrostet aus, und es hatte einen Ring, der so ähnlich aussah wie die Ringe, mit deren Hilfe man eine Dose mit Limonade öffnete. Er probierte es aus, zog, betrachtet das metallene Ei, dreht es hin und her, her und hin. Gerade als er das Interesse verlor und das Fundstück wie zuvor den Sand hinter sich werfen wollte, explodierte die Handgranate mit einem trockenen Krachen. Die Vögel flogen erschreckt aus den Bäumen und Büschen auf, die Köpfe der Menschen wandten sich dem Ursprung des Krachens zu, der Körper des Jungen - oder das, was einmal ein Körper war, landete in kleinen Portionen weit verstreut im Sand und im Gebüsch.
Eine junge Frau ging gelassen den Weg hinunter, streichelte den Kopf eines neugierigen Hundes.

Am nächsten Vormittag hatte Bernd einen Termin beim Zahnarzt. Eigentlich war es ein kurzer Weg am Spielplatz vorbei, aber der gesamte Park war gesperrt, da man ihn nach weiterer Munition absuchen wollte und wohl auch musste. Berlin war beunruhigt, nicht nur durch das tragische Unglück mit der Handgranate. »Bomben, Granaten oder Munition würden auch 65 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch ständig gefunden, insgesamt etwa 25 bis 40 Tonnen pro Jahr«, hatte die Sprecherin des Senats einer Zeitung gesagt. »Meist handele es sich um kleinere Sprengkörper. Große Funde, wie die beiden 250-Kilo-Fliegerbomben von Dienstag und Mittwoch, die von Spezialisten aufwendig entschärft werden mussten, seien seltener.« Dass unter den kleineren Sprengkörpern auch Handgranaten gefunden wurden, kam kaum vor, war aber nicht ausgeschlossen.
Bernd küsste seine Jessika zärtlich und drückte sie an sich. »Du siehst bezaubernd aus in diesem weißen Kleid, Jessy. Hinreißend. Makellos.«
»Danke. Du bist der bestaussehende Mann auf Gottes grüner Welt, Bernd. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich.«
Auf dem Weg zur Praxis fragte er sich, woher Jessika das offenbar neue weiße Kleid haben mochte. Sie verbrachten die meiste Zeit miteinander, ohne dass dies einem von ihnen überdrüssig wurde. Sie kauften zusammen ein, aber nie hatten sie Kleidung für Jessika besorgt.  Eigentlich fragte er sich weniger woher, denn das war sowieso rätselhaft und das Rätsel nichts neues. Er fragte sich eher, warum.
Am Vorabend, als er sie hingerissen in der weißen Bluse und den engen blauen Jeans betrachtete, während sie im Restaurant von der Toilette zurück zum Tisch kam, hatte er gedacht, dass ihr ein schlichtes, weißes, ärmelloses Kleid, in der Taille mit einem goldenen Gürtel zusammengerafft, hervorragend stehen müsste.
Und heute Morgen hatte sie genau dieses Kleid getragen.
Vor einer Woche etwa hatte er sich nachts im Bett, als sie schon in seinem Arm schlief, vorgestellt, Jessika würde am Frühstückstisch in einem seidenen Kimono sitzen, der lose geschlungene Gürtel würde sich nach und nach lösen und dabei mehr und mehr von ihrer samtenen Haut enthüllen.
Genau das war am nächsten Morgen geschehen, sogar die Farbe des Kimono, ein schimmerndes Blau, das leicht ins Violett spielte, hatte gestimmt.
»Das gibt es alles nicht,« murmelte er vor sich hin, »das gibt es nicht.«
»Doch, alles was Sie möchten gibt es. Was darf es denn sein?«
Bernd sah überrascht auf. Vor ihm stand ein älterer Herr, volles graues Haar, ordentlich gescheitelt, umrahmte den charaktervollen Kopf, eine goldgeränderte Brille vergrößerte die klaren wachen Augen. Der Fremde trug trotz der sommerlichen Hitze einen dunkelblauen Anzug mit Weste, blitzblanke schwarze Schuhe, ein ausnehmend ordentlicher und korrekter Herr, er wirkte etwas deplatziert in der Wärme des Sommertages.
»Entschuldigung, ich habe nur mit mir selbst geredet«, lächelte Bernd.
»Einen schönen Tag wünsche ich dann noch, und grüßen Sie Jessika herzlich von mir.«
Der Mann ging weiter, aber mit zwei Schritten hatte Bernd ihn eingeholt und hielt ihn am Arm fest. »Moment, bitte, mein Herr. Wer sind Sie? Woher kennen Sie Jessika? Wieso wissen Sie, dass ich sie kenne? Woher kennen Sie mich?«
Ein verständnisvolles Lächeln erhellte das Gesicht des Fremden. »So viele Fragen? Die Antworten sind doch in ihrem Kopf, nicht wahr? Sie wissen genau, wer ich bin.«
»Kommissar Schöffler.«
»Kommissar a. D., aber sonst korrekt. Entschuldigen Sie mich, ich muss weiter. Auf Wiedersehen.«
Er ließ Bernd stehen und verschwand mit ausholenden Schritten um die nächste Ecke. Bernd sah hinterher und schüttelte den Kopf. Er hatte außer Kaffee nichts getrunken, andernfalls hätte er das Erlebte leicht als Produkt seiner überreizten, vom Alkohol beflügelten Fantasie abtun können. Kommissar Schöffler war eine Figur, seine Figur, in zwei Kurzgeschichten und einem Roman. Der Roman war fertig, aber noch nicht veröffentlicht. Der Mann hatte genau so ausgesehen, wie er sich beim Schreiben den Kommissar ausgemalt hatte. Etwas älter wirkte er, aber es war eindeutig dieselbe Person. Selbst die Stimme passte.
Bernd betrat das Haus, in dem die Zahnarztpraxis lag. Er lachte halblaut. Ich werde verrückt, so einfach ist das. Mein Gehirn dreht durch, ich werde in kürzester Zeit in der Klapsmühle landen. Es kann sich nur noch um Tage handeln. Wenigstens weiß ich jetzt, was los ist, das ist doch beruhigend. Der ganz normale Wahnsinn hat mich in den Klauen. Das alles passiert gar nicht.
Als er etliche Stunden später nach Hause kam, war er betrunken. Nicht angetrunken, sondern vollkommen blau. Vom Zahnarzt aus hatte er schnurstracks die nächste Kneipe aufgesucht. 

Der Bierpinsel Am nächsten Morgen hatte er einen erbärmlichen Kater und eine liebevolle Jessika, die seine Stirn kühlte und alles tat, damit er sich bald besser fühlte. Sie fragte nicht nach dem Vortag, und er erzählte auch nichts. Er wusste nicht mehr, was er wirklich erlebt und was er sich im Suff eingebildet hatte. Aus der Entfernung betrachtet war vermutlich alles, woran er sich zu erinnern glaubte, ein Produkt seiner überreizten Fantasie. Trotz der hämmernden Kopfschmerzen musste er grinsen. Schöffler, das war der größte Witz, den sein Gehirn ihm bisher erzählt hatte. Das war der Witz des Jahrhunderts.
Jessika versprach, ihm aus der Apotheke Aspirin mitzubringen, sie wollte mit dem Bus nach Steglitz fahren, um ein paar Fotos vor der Verwandlung des »Bierpinsel« zu machen, der in ein Kunstwerk umgestaltet werden sollte. Sie fand es spannend, das von Anfang an zu dokumentieren.

Alles Mögliche kann versagen. Auch Menschen. Der eine versagt im Beruf, der andere im Privatleben. Mancher versagt in beiden Bereichen. Der Busfahrer hatte bisher nur im Privatleben versagt, an diesem Tag sollte das berufliche Versagen hinzukommen. Damit war dann auch alles Versagen für immer vorbei.
Er hatte seinen Dienst pünktlich begonnen. Da er alleine lebte, von gelegentlichen Übernachtungen mehr oder weniger unbekannter Damen einmal abgesehen, war er lieber unterwegs, sei es bei der Arbeit oder sonst irgendwo, als zu Hause. Meistens suchte er in seiner Freizeit nach einer Frau, die er irgendwie in sein Bett oder sonst irgendwohin bekommen konnte, wo sich die Gelegenheit zum schnellen und brutalen Sex bot. Er suchte eigentlich nicht die Frauen, sondern ihren Körper, was mit den Personen geschah, war ihm vollkommen gleichgültig. Er brauchte Abwechslung, er schlief nie mit einem Körper ein zweites Mal.
An der Haltestelle Kurfürstendamm stieg eine junge Frau zu, die ihn aufmerksamer als andere Fahrgäste musterte, die meisten würdigten die Chauffeure keines Blickes, streckten ihre Monatskarten oder Fahrscheine hin, er nickte höchstens leicht mit dem Kopf, ignorierte die Fahrausweise. Ihm war es sowieso egal, ob die Leute bezahlten oder nicht. Sein Job war das Fahren und das Verkaufen von Tickets, wenn denn jemand unbedingt einen Fahrschein bei ihm lösen wollte.
Die Frau gefiel ihm. Sie sah ihn aufmerksam an, fast forschend. Er lächelte, sie quittierte das mit einem ganz leichten Anheben der Mundwinkel und setzte sich auf den Behindertenplatz gleich neben der Türe, so dass sie ihn beobachten konnte. Er konnte sie dort ebenso gut mustern wie sie ihn. Ein weiterer Körper zum einmaligen Gebrauch schien sich da womöglich anzubieten. Der Fahrer spürte, wie sein Penis sich in Windeseile aufrichtete.
Ein hellgrauer, knielanger Rock, darunter nackte Beine, die nackten Füße in weißen Sandalen, ordentlich lackierte Zehennägel schauten durch das Ledergeflecht. Eine blassviolette Seidenbluse mit kurzen Ärmeln, und eindeutig keinen BH darunter, ein schmaler, wunderbarer Hals, ein ebenmäßiges Gesicht mit sonderbar grünen Augen, ein Grün, das ins Gelbliche spielte. Halblange, dunkle Haare. Die Arme gebräunt wie die Beine und das Gesicht, eine kleidsame, keineswegs übertrieben dunkle Tönung. Schmale Hände, mit dezent lackierten Nägeln. Wunderbar sanfte Hände, die jetzt den Saum des Rockes höher und höher schoben.
Der Fahrer warf einen raschen Blick in den Spiegel, der Bus war fast leer, niemand achtete auf die Frau oder ihn. Er blickte wieder zu ihr, sie zwinkerte ihm zu, erst mit dem rechten, dann mit dem linken Auge. Die geschmeidigen Finger wanderten unter den Rock, der viel höher nicht zu schieben war. Er beobachtete noch den Verkehr, lenkte mit einer Hand, weil die andere im Schoß beschäftigt war, in immer kürzeren Abständen musste er zu diesen schlanken Beinen hinüberschauen. Die waren leicht gespreizt, und der Fahrer sah, dass sein attraktiver Fahrgast unter dem Rock nichts trug als Haut. Glattrasierte Haut. Seine Erektion entlud sich, als sein Bus ungebremst auf einen stehenden Tanklastzug prallte.
Die junge Frau hatte sich beim Aufprall festgeklammert am Sitz, war dann blitzschnell durch die aufgesprungene Tür verschwunden. Die übrigen Passagiere waren nicht so schnell, soweit sie unverletzt geblieben waren und noch hätten schnell sein können. Sie waren nicht schnell genug. Sie brauchten auch nie wieder schnell sein. Das auslaufende Benzin aus dem Tanklastwagen entzündete sich 30 Sekunden nach dem Aufprall.
Die Zeitungen spekulierten am nächsten Tag über Herzversagen des Fahrers, Versagen des Gehirns, aber was immer es auch gewesen sein mochte, ihn konnte man nicht mehr fragen und es war nicht genug von ihm übrig, um Untersuchungen anzustellen. Er war zuerst vom Lenkrad aufgespießt, dann vom Splitterregen der Scheibe gespickt worden und schließlich in der Flammenhölle bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Mit ihm starben vierzehn Passagiere.
--- --- ---  --- --- ---  --- --- ---
Bernd hatte ja längst Verdacht geschöpft, was die Familie Aksu betrifft. Offenbar hat er das aber verdrängt, oder Jessika hat es verdrängt, indem sie ihm keinen Raum für klare Gedanken lässt. Es wird noch zwei Fortsetzungen dieser Geschichte geben, und die Leser dürfen, so sie wollen, entscheiden, wie es weiter geht.
Bernd könnten bereits in der nächsten Folge endlich die Schuppen von den Augen fallen, dann muss er zwangsläufig überlegen, wie er Jessika schnellstens los wird. Die Erkenntnis kann ihn aber auch erst in der letzten Folge ereilen, dann wird es für ihn um so schwieriger sein, denn wir sehen ja: Jessika gewinnt Tag für Tag mehr Einfluss auf ihn. In ihm.
Was darf es denn sein, liebe Leser?


Die Konfrontation mit Jessika...
...beginnt in der nächsten Folge. Basta!
...schieben wir noch bis zur letzten Folge auf. Basta!
Auswertung

Samstag, 10. April 2010

Ein Besuch bei der Bank

Ein ziemlich garstig wirkender Biker betritt eine Bank und erklärt der Dame am Schalter: »Ich will ein Scheiß-Bankkonto eröffnen.«
Die irritierte junge Frau antwortet: »Entschuldigen Sie, mein Herr, ich muss Sie missverstanden haben. Was haben Sie gesagt?«
»Hören Sie doch zu, verdammt noch mal! Ich habe gesagt, ich will ein verdammtes Scheißkonto eröffnen!«
»Es tut mir leid, aber solch eine Ausdrucksweise tolerieren wir hier nicht.«
Die Angestellte verlässt ihren Schalter und geht zum Chef, um ihm die Situation zu schildern. Der  ist ebenfalls der Meinung, dass sie sich solche Ausdrücke nicht anhören muss. Zusammen kehren sie zum Schalter zurück.
»Mein Herr, wo liegt denn das Problem?«, fragt der Filialleiter den Rocker.
»Es gibt kein verfluchtes Problem! Ich habe in einer beschissenen Lotterie acht Millionen Scheißeuro gewonnen und ich will in dieser bescheuerten Bank ein verdammtes Konto eröffnen.«
»Ich verstehe«, meint der Filialleiter, »und diese blöde Kuh hier wollte Ihnen nicht behilflich sein?«

Foto: WikiCommons

Freitag, 9. April 2010

Auch mal schön: Geld fürs Nichtstun

imageManch einer hat sich furchtbar aufgeregt und, soweit selbst Autor, Widerspruch eingelegt, als Google (Motto: Don’t be evil!) begonnen hat, Bücher zu digitalisieren.
Meinereiner fand die Idee gar nicht so schlecht und hat nichts getan. Das kam nämlich einer schweigenden Zustimmung gleich. Ich bin einer von den Autoren, die – gerne auch digital – gelesen werden möchten, das schmeichelt dem Ego. Wenn Ausschnitte meiner Bücher bei den Google Books zu finden sind, stört mich das nicht im Geringsten. Zum Beispiel hier [Klick]. Oder hier [Noch mal Klick]. Manch einer, mich eingeschlossen, wird durch Leseproben neugierig und kauft dann das angelesene Buch.
Nun kam ein Scheck der VG Wort mit dem Lohn fürs Nichtstun bei mir an. Die VG Wort war so freundlich, bei Google eine Pauschalsumme für die digitale Nutzung herauszuschlagen und mein Anteil am Kuchen ließ nicht lange auf sich warten. Ich könnte damit unter anderem zum Beispiel ein Hähnchen, gegrillt, erwerben, um den Dire Straits gerecht zu werden: Money for nothing and your chicks for free- obwohl es da wohl um andere chicks ging, an denen ich wiederum kein Interesse habe.
P.S.: Selbstverständlich kann man meine Bücher auch kaufen, ohne digitale Leseproben vorher in Augenschein zu nehmen. Ein paar Klicks genügen:
Gänsehaut und Übelkeit: Erzählungen :: Liebe und Alltag: 16 Erzählungen :: Es gibt kein Unmöglich!: Roman :: Ich aber habe für dich gebetet: Ein Sachbuch :: Wer einen Amazon Kindle besitzt: Wenn die Nacht vom Himmel fällt: Roman

Donnerstag, 8. April 2010

Wat für ne Ausjabe!

Ich habe heute auf dem Weg ins Büro etwas getan, was mir sonst fremd ist. Ich habe eine B.Z. gekauft. Für Nichtberliner: Ein lokales Boulevardblatt nach dem Motto: Niveau? I wo!

Niveauvolles ist wohl auch in dieser Ausgabe nicht zu finden. Aber heute erscheint die komplette Zeitung in Berliner Mundart, oder besser gesagt uff Berlinerisch.

»Schrödas lange Leitung jeht an Start«, »Unbekannte habn zwee Fensta am Büro vonna SDP Lichtenberch inna Rathausstaße einjeworfen«, »Dicket Ding. Bomble lecht Tejel lahm«…

Lauta unjeheua wichtije Nachrichtn, die ick da beim erstn Übafliejen entdecke. Wat für ne Ausjabe! Und dit füa 60 Cent, da kamma nich meckern, wa!

Mittwoch, 7. April 2010

Martin Walser: Mein Jenseits

Mein Jenseits, Martin Walser, Schicksale & ErfahrungenIch betrachtete, rund vierzig Jahre ist das nun her, mit leichtem Gruselgefühl in einer Basilika Skelette in reicht verzierten Glaskästen. Das war in Ottobeuren, nicht weit von Memmingen, unserer gerade gegen Berlin getauschten neuen Heimat. Mein Bruder, drei Jahre älter als ich und dreißig Jahre klüger schon als Kind, erklärte mir, dass es sich um Reliquien handle. Den Sinn, die Knochen von Toten in einer Kirche auszustellen, verstand ich nicht recht, aber ich war fasziniert vom Anblick der goldverzierten Skelette.
Daran dachte ich zurück, als ich jetzt Martin Walsers Novelle »Mein Jenseits« las. Professor Augustin Feinlein, Leiter einer Klinik, blickt in diesem Buch auf Episoden seines Lebens zurück, während er darüber nachdenkt, nach seiner Pensionierung Messner in der örtlichen Stiftskirche zu werden. Dort gibt es eine Reliquie, die einige Tropfen des Blutes Jesu enthalten soll. Der Professor, in seiner Freizeit auch Reliquienforscher, plant Ungeheuerliches mit diesem kostbaren Stück.
Martin Walser hat ein Buch über die Liebe geschrieben, trotz des Titels »Mein Jenseits« kein frömmelndes Buch, denn die Liebe, über die Feinlein nachsinnt, ist so aussichtslos, so ungreifbar wie auch das Jenseits, das er immer wieder neu oder anders definiert. Das Alter bringt es mit sich, jenseitige Fragen zu erwägen, während die Erfüllung des Liebestraumes in unüberbrückbare Distanz gerät. Glaube und Liebe - zwei Lebenspole werden in dieser Novelle meisterhaft zusammen- und ausgeführt.
Ich weiß, dass ich Unmögliches vorhabe. Ich bin dreiundsechzig. Seit längerem. Ich werde nie älter sein als dreiundsechzig. Ich sage jetzt nicht, seit wie vielen Jahre ich jetzt schon dreiundsechzig bin. Ich sage nur, dass ich mit dreiundsechzig aufgehört habe zu zählen. Das war möglich. Mein Umgang mit Zahlen hat es möglich gemacht. Ich glaube nicht an Zahlen. Ich weiß, was man alles machen kann mit Zahlen, aber ich weiß auch, was man mit Zahlen nicht machen kann. Und doch macht. Ich habe aufgehört, das mitzumachen.
Die Novelle birgt viel Humor. Professor Feinlein wird langsam wunderlich, sein Umgang mit dem Zählen der Lebensjahre ist nur eine von vielen Facetten des Skurrilen. Dass er im Flugzeug nach Rom seinen Hut vergisst, und wie er hutlos in Rom am Verlust der Kopfbedeckung leidet, sein ewiger Kampf mit seinem Nachfolger Dr. Bruderhofer als Klinikleiter, seine Erinnerungen an Eva Maria, jene aussichtslose Liebe - all das hat Martin Walser liebevoll und meisterhaft mit Augenzwinkern zu Papier gebracht.
Ich sitze ja immer wieder ohne Anlass im Kirchendämmer und lasse Zeit vergehen.
Auch ich ließ Zeit vergehen, nicht im Kirchendämmer, aber doch bewusst, um länger die Lektüre genießen zu können. Dies ist eines der schmalen Bücher, die ich langsam gelesen habe, damit die unvermeidliche letzte Seite nicht allzu schnell erreicht wird.

Mein Fazit: Ein herrlich unzeitgemäßes Buch, unterhaltsamer und oft erheiternder Lesestoff, meisterlich erzählt. Langeweile kommt nicht auf, auch wenn gerade nicht viel Handlung stattfinden sollte. Die Kauzigkeit des Protagonisten wird dem Leser so liebenswert, dass er den Professor Feinlein schließlich zu kennen meint. Und was der am Schluss mit dem Reliquar anstellt...
Martin Walser: Mein Jenseits
119 Seiten, 19,90 Euro
ISBN-13: 978-3940432773
Direkt bestellen: Mein Jenseits

P.S.: Die Version, die mir der Osterhase gebracht hat (1. Auflage) enthält einige, oder besser gesagt viele Druckfehler. Ich habe den Verlag darauf angesprochen, man bot mir sofort den kostenlosen Austausch gegen ein Exemplar der korrigierten 3. Auflage an. Ich werde jedoch mein fehlerbehaftetes Buch behalten, wer weiß, ob es nicht als Rarität eines Tages Sammlerwert bekommt…

Dienstag, 6. April 2010

Wer bist du, Jessika? – Teil 3

image 75 Prozent der Abstimmenden wollten Bernd nicht im Dunkeln tappen lassen. Er sollte Verdacht schöpfen, dass Jessika alles andere als harmlos ist. Das Leservotum umzusetzen war so einfach nicht, da ich eigentlich vorhatte, noch etwas zu warten mit der Erkenntnis. Aber gut, ich halte mich an meine eigenen Spielregeln. Bernd schöpft Verdacht, mehr noch, in dieser Fortsetzung wird er – ach nein, das steht ja unten im Text.
Wer Teil 1 und Teil 2 sucht, wird mit Klick auf Teil 1 und Teil 2 fündig.
--- --- ---  --- --- ---  --- --- ---
Als sie eine Stunde später auf dem Weg zu Bernds Wohnung waren, wusste er immer noch nichts über Jessika außer ihren Namen und die sonderbare Altersspanne, wobei er nicht sicher war, ob das vermeintliche Wissen stimmte. Sie mochte genauso gut Juppi heißen, oder Alexandra. Oder Elke. Esmeralda. Kassiopeia. Anna Karenina…
Sie schien mehr über ihn zu wissen, als ihm lieb war. Dass sie seine Bücher kannte, nun ja, das schmeichelte seinem Autorenego. »Wenn einer nicht egozentrisch ist, dann wird er nicht Dichter. So waren sie alle, von Goethe bis Brecht. Nur vermochten Goethe oder Brecht diese Egozentrik einigermaßen zu verbergen«, hatte das Büchernörgele, wie Michael Ende Herrn Reich-Ranicki einst getauft hatte, unlängst festgestellt. Bernd nahm sich da nicht aus. Natürlich will ein Autor gelesen werden, und je mehr er davon weiß, dass er gelesen wird, desto wohler wird es seiner Dichterseele. Aber Jessika hatte auch Details aus seinem Leben angesprochen, die er für sorgsam gehütete Geheimnisse gehalten hatte. Er war nun auf der Hut. Dass Jessika keine normale Person war, keine Zufallsbekanntschaft, das war so sicher wie die Tagesschau um 20 Uhr. Eine Stalkerin? Eine Verwirrte?
Sein Arm um ihre Schultern gelegt, ihre Hand auf seiner Hüfte, schlenderten sie zurück zum Haus mit dem nach wie vor gesperrten Fahrstuhl. Als sie die Treppen emporstiegen, fiel ihm wieder die Bemerkung ein, die er am Cafétisch nicht weiter hinterfragt hatte, weil sich zu viele Fragen gleichzeitig in seinem Kopf gedreht hatten.
Er ging, wie es sich für einen Herrn mit Benimm gehörte, einen halben Schritt hinter Jessika die Stufen empor. Zwischen dem dritten und vierten Stockwerk fragte er: »Letzte Woche sind sechs Menschen abgestürzt. Warum sollte das in meinem Sinne sein?«
Sie drehte den Kopf zu ihm zurück, mit erstaunter Mine. »Das ist doch ein schöner Tod, wenn man nicht weiß, dass es so weit ist. Einfach von einem Moment zum anderen ist man über die Schwelle getreten.«
»Na ja, schon, besser als unheilbarer Krebs wie Dennis Hopper oder ein langes bitteres Entdämmern hinein in die Hilflosigkeit wie Walter Jens. Aber wieso sollte der Unfall mit dem Fahrstuhl in meinem Sinne gewesen sein? Ich kannte die Familie Aksu kaum, gar nicht im Grunde genommen, vor allem aber hatte ich keine Veranlassung, ihren Tod zu wünschen.«
»Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und für jedes Vorhaben unter dem Himmel gibt es eine Zeit. Zeit fürs Gebären und Zeit fürs Sterben, Zeit fürs Pflanzen und Zeit fürs Ausreißen des Gepflanzten.«
»Das Zitieren biblischer Texte beantwortet meine Frage nicht, Jessika.«
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm. Eine Stufe höher als er stehend nahm sie ihn fest in die Arme, Stirn an Stirn geschmiegt. »Manche Antworten kommen von selbst, wenn es an der Zeit ist. Manche Antworten kommen nie. Und manche Antworten würde man am liebsten nie bekommen haben, wenn sie da sind.«
»Aber ich…«
Sie küsste ihn liebevoll, sanft, wie vor zwei Wochen in der Finsternis der Fahrstuhlkabine. Ein Gedanke, der sich gerade näherte, kam ihm abhanden. Eine Frage, die gestellt werden wollte, eine fast formulierte Vermutung, aber sie war noch zu zart, flüchtiger Nebel, sie entschwand.
Bernd schloss die Türe auf, ließ ihr den Vortritt und Jessika ging unbekümmert voran. Sie warf vom Flur aus einen kurzen Blick in die Küche, ins Arbeitszimmer, ins Wohnzimmer. Das Gästezimmer, dessen Tür geschlossen war, ließ sie unbeachtet und ging zielstrebig ins Bad. Bereits im Flur ließ sie ihre Kleidungsstücke fallen. Sekunden später stand sie unter der Dusche, die Badezimmertüre blieb sperrangelweit offen.
Bernd konnte immer weniger verstehen, was eigentlich mit ihm, seinem Leben vor sich ging. Ich dachte, das war in deinem Sinne… - irgendetwas lauerte im Hintergrund seines Bewusstseins. War es ein Bild? Eine Erinnerung? Fast hatte er zugreifen können, auf der Treppe, vor dem Kuss.
»Bernd?«
Was konnte, sollte, mochte der Gedanke gewesen sein? Wieder regte sich das nicht Greifbare, zu weit entfernt, im Nebel. Nicht deutlich genug, zu verschwommen noch…
»Bernd? Kommst du?«
Er trat zögernd, verloren, an die Tür zum Badezimmer. Jessika winkte ihn herein und zog ihn aus. Es war alles so richtig, so unabwendbar, so natürlich, so unwirklich vertraut. Solche Dinge ereigneten sich vielleicht in Romanen und Erzählungen, wenn die Charaktere einen entsprechenden Charakter hatten und die Autoren ihrer Phantasie die Zügel locker ließen, aber niemals im Leben.
im NebelJessikas Körper, den er erfühlt hatte beim Kuss vor zwei Wochen. Ohne Scheu ließ sie sich im leichten Dunst der feuchter werdenden Luft betrachten. Bernd gingen flüchtige Gedanken an Aids, an Verhütung, an Religion und Moral durch den Kopf, aber er wollte genau das, was offensichtlich Jessika im Sinn hatte. Er, der zurückhaltende Gentleman, der schüchtern einen Bogen um zweideutige Situationen zu machen pflegte, ausgerechnet er ließ sich willig von einer Frau entkleiden, die unter seiner Dusche stand, die er erst vor einer guten Stunde mehr oder weniger kennen gelernt hatte, die ihn zwei Wochen zuvor im festsitzenden Aufzug ungefragt geküsst hatte, um anschließend wortlos zu verschwinden. Nun gut, ein Wort hatte sie immerhin gesagt: Jessika. Der Klang ihrer Stimme war ihm Tag und Nacht nicht aus dem Sinn gewichen in den beiden Wochen.
Sie zog ihn zu sich und an sich unter die Dusche. »Du brauchst keine Angst vor Aids oder sonst etwas zu haben, ich bin kerngesund, und die Pille nehme ich auch. Wir beide sind ein Fleisch, in gewissem Sinne, dagegen bringt kein Gott Einwände vor. Und die Moral, die ist doch relativ, nicht wahr? Also entspann dich, Bernd.«
»Kannst du eigentlich Gedanken lesen?«
»Das hat dein Maler auf der Insel Fehmarn seine Angelina auch gefragt, bevor die Nacht vom Himmel gefallen ist.«
»Du kannst meine Gedanken nicht lesen. Das gibt es nämlich nicht. Dies ist kein Roman, Jessika.«
Sie stand fast reglos an ihn geschmiegt, er genoss den leichten Druck ihrer Haut gegen seinen Unterleib. Der warme Regen aus der Brause hüllte die Engumschlungenen mehr und mehr in feinen Nebel, löste sie aus dem Badezimmer, versetzte sie in Ungewisses, Unwägbares, Ungesehenes. Im Nebel wird Orientierung schwer. Im Nebel verlieren Entfernungen ihr Maß. Im Nebel gehen Geräusche eigensinnige Wege. Im Nebel kann etwas lauern, was man nicht zu sehen wünscht, aber im Nebel wird es sich auch nicht zeigen.
Jessikas Hand strich sanft über seinen Rücken. »Ich bin doch deine Schöpfung«, flüsterte sie im Rauschen des Wassers gerade noch hörbar, »du hast mich erträumt, erschaffen, erwünscht, nenn es wie du willst. Jetzt bin ich da. Für dich. Ich weiß doch, wie du denkst, was du empfindest. Ich brauche zu diesem Behufe keine Gedanken lesen, ich bin ein Teil von dir.«
Natürlich war das Unfug. Vollkommener Blödsinn. Aber Bernd mochte jetzt nicht mehr grübeln, nachsinnen, abwägen, den verlorenen Gedankenhauch zu finden suchen, sich wehren. Wozu auch. Der Nebel hatte alles entfernt, was an der Wirklichkeit wirklich sein mochte. Sie waren die einzigen Menschen auf der Welt, Mann und Frau, und sie verschmolzen, noch unter der Dusche, und dann im Schlafzimmer, mehrfach, zu einem Fleisch.

Am späten Nachmittag wachte Bernd auf, allein zwischen zerwühlten Laken. Aus dem Wohnzimmer hörte er gedämpft Musik, Bob Dylan sang gerade beyond here lies nothin', but the mountains of the past. Jessika war vermutlich dort im Wohnzimmer, hatte – wie passend! – Together Through Lifeaufgelegt, oder war sie schon wieder verschwunden für Wochen? Was wäre ihm eigentlich lieber? Eine Fortsetzung des Unwirklichen oder eine Rückkehr in die Welt, die er gekannt hatte, in der er sich zurechtfand? Wenn er ehrlich mit sich zu Rate ging, dann wollte er Jessika. Nicht nur ihr Körper zog ihn an, das war sicher sicher auch der Fall, keine Frage angesichts der vorangegangenen Stunden, aber es war viel mehr, was ihn förmlich zu ihr hinsog. Als wäre sie ein einst abhanden gekommener Teil seiner Person, die nie vollständig hatte sein können, solange Jessika fehlte.
Das Gefühl nahm zu, sie würden sich seit Monaten kennen, nein, seit Jahren. Natürlich war sie eindeutig nicht normal, irgendwie nicht ganz richtig im Kopf, ausgeflippt, verdreht, aber auf eine angenehme Weise. Anders als jener Besucher, der in einer Geschichte von Stephen King einen Autor mit der Anschuldigung konfrontierte, seine Geschichte gestohlen zu haben. Wie hieß doch die Erzählung? My Secret Window war der Titel der Verfilmung, aber die Geschichte hieß nicht so. Sie war in einem Sammelband zu finden. Irgendwas mit Midnight.
Bernd stand auf und sah sich nach seinen Kleidungsstücken um, dann fiel ihm ein, dass die im Badezimmer auf dem nassen Boden liegen mussten. Er nahm Boxershorts aus der Wäscheschublade und legte sie dann zurück. Es war warm genug, und immerhin war dies seine Wohnung, in der er sich auch sonst unbekleidet aufhielt, wenn die Witterung entsprechend war. Sein Balkon war von außen nicht einsehbar, gerne genoss er in seinem Liegestuhl hüllenlos die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut, im Frühling und im Herbst. Die Sommersonne mied er, indem er seine Markise ausrollte.
Er ging ins Wohnzimmer und sah Jessika durch die Balkontüre auf seinem Liegestuhl in der Sonne. Sie trug so viel Kleidung wie er.
»Ich habe dir ein Bier in den Kühlschrank gestellt«, rief sie.
»Danke!«
»Kommst du raus zu mir?«
»Ja. Soll ich dir was mitbringen?«
»Ich habe noch Mineralwasser, einstweilen reicht das.«
Bernd ging zunächst zum Bücherregal und griff nach Four past Midnight um sich zu vergewissern, dass die gesuchte Geschichte Secret Window, Secret Garden in diesem Sammelband zu finden war. Er schlug die Seite 253 auf. “You stole my story”, the man on the doorstep said. “You stole my story and something’s got to be done about it.”
Bernd stellte das Buch zurück. Er würde sich später die Zeit nehmen, seine Situation mit der von Stephen King geschilderten zu vergleichen. Natürlich hatte Jessika nicht behauptet, er hätte ihr etwas gestohlen, schon gar nicht ihre Geschichte. Im Gegenteil. Aber immerhin: Das Buch schilderte, unter gänzlich anderen Umständen zwar, das Auftauchen einer Figur aus der Gedankenwelt in der Wirklichkeit des Autors. Bernd hatte eine Ahnung, eine Hoffnung, womöglich in dieser Erzählung einen Schlüssel zu finden, der jenen flüchtig gewordenen Gedanken zurückholen konnte.
Er trug sein Bier auf den Balkon, Jessika hatte den Liegestuhl zusammengeklappt und die beiden Gartenstühle mit den bequemen Polsterauflagen bereitgestellt. Sie sah hinreißend aus im warmen Nachmittagslicht. Sie zwinkerte ihm zu, erst rechts, dann links. Als Bernd sich setzte, bekam er einen sanften Kuss auf die Stirn. Das kribbelte irgendwo tief im Kopf, hinunter ins Rückenmark, nicht auf der Haut.
»Wer bist du, Jessika?« fragte er.
»Ich erzähle dir, was du gerade schreibst. Es ist die Fortsetzung deiner Geschichte über die mörderische Hausmeisterin. Nein, nicht die Fortsetzung, es ist eine andere Geschichte, nur eine Person taucht wieder auf, die nächtliche Besucherin. Das Mädchen ist inzwischen erwachsen und du fragst dich, was aus ihr geworden sein mag«, meinte sie, während sie ihre Hand auf seinem Oberschenkel ruhen ließ.
»Volltreffer. Warst du an meinem Computer?«
Jessika schmunzelte und küsste ihn mit ihren weichen Lippen. Die Stirn. Das Kribbeln, inwendig.
»Und keine Angst, Bernd. Jessika hat sich geändert. Sie verspeist weder Leichen noch hat sie die unangenehme Eigenart der Hausmeisterin übernommen, Männern ihr Lieblingsorgan abzuschneiden.«
Ihre Hand wanderte am Oberschenkel empor. Bernd schloss die Augen. »Was machst du bloß mit mir?«
»Alles, was du in deinen Manuskripten geschrieben hast. Oder schreiben wolltest, bevor du dann doch die Zügel angezogen hast. Du glaubst, Literatur sei nur Phantasie, Autoren würden samt und sonders alles erfinden, es gäbe eine Wirklichkeit und eine weitere Welt im Kopf des Autors. Zwei Welten, streng getrennt. Zumindest sagst du dir das. Aber glaubst du es denn wirklich?«
Bernd schwieg. Er wartete, wartete auf das, was noch im Nebel verborgen war. Seine Augen hielt er geschlossen, die Abendsonne färbte den blicklosen Blick rötlich. Ein warmes, ein lebendiges Rot, nicht wie die Fahrzeuge der Feuerwehr. Bei der Rückkehr vom Einkauf waren sie vor dem Haus aufgereiht. Sechs tote Menschen mussten aus dem Schacht geborgen werden. Vier Kinder darunter. Ich dachte, das war in deinem Sinne… Und plötzlich lichtete sich der Nebel. Jessika hat die Familie Aksu umgebracht. Ein Gedanke so deutlich, so unmissverständlich, als hätte ihn jemand laut ausgesprochen. Jessika hat die Familie Aksu umgebracht.
»So ein Unfug«, murmelte Bernd.
Jessika sagte nichts, ihre Hand massierte, was die Hausmeisterin in jener finsteren Geschichte abzuschneiden pflegte. Vielleicht hätte er sie damals nicht schreiben sollen? Nicht einmal denken sollen? Aber wie kann ein Mensch nicht denken, was in ihm erwacht?
Bob Dylans Stimme klang aus dem Wohnzimmer. You’re as whorish as ever, Baby you could start a fire. I must be losing my mind. You're the object of my desire. I feel a change coming on and the fourth part of the day is already gone.
Bernd sagte halblaut: »Ich werde mich hüten, meinen mind zu losen.«
Jessika küsste ihn auf die Stirn. Das Kribbeln. Dann das Feuer, dann das Verlöschen der Vernunft.
--- --- ---  --- --- ---  --- --- ---
In der Fortsetzung werden Menschen zu Tode kommen. Nein nein, nicht Bernd, den brauchen wir noch. Und Jessika werden wir vorerst sowieso nicht los.
Nun kann man kann ich das, was unweigerlich passieren wird, sehr detailliert schildern, in etwa so: »…die Hände des Jungen zerplatzen in kleinste Teilchen, die in alle Richtungen davon spritzen…« – oder einfach die Art des gewaltsamen Todes vermelden. Was hätten denn meine Leser mehrheitlich lieber?

Wenn schon gewaltsam gestorben wird...
...dann so grausig wie möglich.
...dann eher dezent, kein Horror bitte.
Auswertung

Montag, 5. April 2010

Freunde

Es ist ein freundschaftsbetontes Osterfest, diese Tage im April 2010. Am Karfreitag hatten wir ein befreundetes Ehepaar zum Brunch bei uns zu Hause, am Samstag Abend gingen wir mit einem anderen Paar zunächst italienisch Essen und dann zum Konzert in die Philharmonie. Und heute besuchen wir eine befreundete Familie zum Kaffee, Spaziergang (falls das Wetter nicht allzu garstig ausfällt) und – womöglich – Abendimbiss.
Gott erhalte uns die Freundschaft. Man möchte beinah glauben, man sei nicht allein. -Kurt Tucholsky in "Die Weltbühne", 23. September 1930
Morgen geht es hier mit Jessika und Bernd weiter. Bernd scheint keine Freundschaften zu haben oder zu pflegen. Ob ihn das um so empfänglicher macht für das, was da mit ihm geschieht? Kann sein, dass da Zusammenhänge bestehen. Jedenfalls: Teil 3 ist morgen an dieser Stelle zu finden.