Ich habe kürzlich mal ein paar Texte aus meiner Sammlung "work in progress" (ein Euphemismus für "unfinished and almost forgotten") angeschaut, und dabei so einiges gefunden, was ich vielleicht doch wieder aufnehmen und fortführen möchte. Zum Beispiel ein Manuskript, das die Fortsetzung meines vor nunmehr 10 Jahren erschienenen Romans Es gibt kein Unmöglich! darstellen könnte. Es erzählt die Geschichte des Johannes Matthäus alias John Matthews weiter, zum Teil mit Rückblenden in die Kindheit, wie dieses Kapitel:
Kapitel 16And I asked this God a question and by way of firm reply
He said: I’m not the kind you have to wind up on Sundays.
Jethro TullAls Johannes elf Jahre alt war, hatte er sich an einem Herbsttag im Moor verirrt. Es war kein riesiger Sumpf, aus dem es kein Entkommen gegeben hätte, aber für einen Elfjährigen, der allein und orientierungslos die Dämmerung hereinbrechen sieht, war das Benninger Ried, wie das Gebiet hieß, auf jeden Fall groß genug, um in Panik zu geraten.
Er hatte den Nachmittag damit verbracht, für den Biologieunterricht verschiedene Pflanzen zu sammeln, die typisch für ein Feuchtbiotop waren. Bei einigen war er nicht sicher, aber er legte sie trotzdem zwischen die Blätter des dicken Buches, in dem er die Gewächse preßte.
Sein Fahrrad stand an einen Baum gelehnt in der Nähe der Landstraße, die den nahen Ort Benningen mit seinem Wohnort Memmingerberg verband. Wenn auf dieser Straße Verkehr herrschte, dann hauptsächlich landwirtschaftlicher. Gegen Abend wurden die Fahrzeuge auf der Straße immer seltener.
Johannes war tiefer und tiefer in das Ried hineingegangen, die Gummistiefel sanken gelegentlich bis zum oberen Rand ein, so daß seine Füße und Hosenbeine bereits naß waren. Für einen unternehmungslustigen Jungen ist so etwas jedoch kein Grund, womöglich vorzeitig nach Hause zu gehen. Johannes war fasziniert von der Vielfalt, die die Natur hier offenbarte, wenn man sich nur die Mühe machte, geduldig hinzuschauen. Er entdeckte die verschiedensten Tiere, vom schlängelnden nackten Wurm im brackigen Wasser bis zum buntgefiederten Vogel, der mißtrauisch von einer Weide herabäugte.
Als Johannes mit einem Blick auf die Uhr feststellte, daß er bereits vor über zwei Stunden zu Hause zum Abendessen erwartet worden war, erschrak er. Seine Mutter konnte sehr streng sein und verprügelte ihre Söhne bei gegebenem Anlaß mit einem hölzernen Stock, der zu eben diesem Zweck in der Küche aufbewahrt wurde. Eine solche Verspätung konnte durchaus ein Anlaß sein. Also drehte Johannes sich um und begann, zügig durch das Moor zu waten, in die Richtung, in der er sein Fahrrad vermutete.
Daß er tiefer in den Sumpf steuerte, anstatt zum Rand zu gehen, bemerkte er nach einigen Minuten. Daß es dunkel wurde und auch noch leichte Nebelschwaden über der Feuchte entstanden, sah er im gleichen Moment. Er wurde nervös, machte einen Schwenk nach links, stiefelte eine Weile weiter, sah sich erfolglos nach irgend welchen markanten Punkten um, die ihm verraten konnten, wo die Straße lag, wechselte wieder die Richtung und geriet dann in Panik wie eine Küchenschabe, wenn das Licht angeht und sie zu weit vom Schlupfwinkel entfernt ist.
Er irrte kopflos herum. Die Dunkelheit siegte über die bleiche Abendsonne. Der Nebel wurde dichter. Geräusche aus dem Moor narrten ihn. Er lauschte immer wieder auf das Brummen eines Motors, um wenigstens ungefähr die Straße anpeilen zu können, aber auch das war vergebens.
Sei vernünftig. Hör auf, wie verrückt herumzurennen. Bleib stehen und denke nach! befahl er sich selbst.
Nachdenken? Worüber?
Wie du hier rauskommst, du Idiot!
Johannes blieb stehen und schloß einen Moment die Augen. Er versuchte, sich an irgend etwas zu erinnern, was in dieser Situation helfen konnte. Ihm fielen die vielen Geschichten von Karl May ein, die er gelesen hatte. Die Helden dort konnten in der größten Scheiße stecken, sie kamen immer heraus.
Na ja, gut, abgesehen von Winnetou mit der Kugel in der Brust.
Logik und Karl May. Zwei Dinge, die ihm tatsächlich halfen.
Es ist logisch, daß man aus einem Moor herauskommt, wenn man immer genau geradeaus geht. Ob man bei der Straße heraus kommt, ist nicht sicher, aber das erste Problem, der Sumpf, wäre damit immerhin überwunden. Wie aber kann man geradeaus gehen, ohne unmerklich einen Bogen zu machen? Da half Karl May. Irgendwo hatte Johannes gelesen, daß sich Old Shatterhand an der bemoosten Seite der Baumrinde orientierte. Wenn er Glück hatte, fand er hier im Moor ein ähnliches Anhaltszeichen, Bäume jedenfalls gab es nicht.
Hätte er eine Taschenlampe gehabt, wäre es leichter gewesen. Aber man nimmt keine Taschenlampe mit, wenn man vor hat, um 18 Uhr zum Abendessen zu Hause zu sein. Er hielt einen angefeuchteten Finger in die Höhe, um festzustellen, ob es vielleicht einen kleinen Luftzug gab. Tatsächlich war ihm, als verspürte er einen leichten Hauch, Wind wäre übertrieben gewesen, von links.
Er ging zwanzig Schritte geradeaus und machte die nächste Fingerprobe. Damit er ganz sicher war, hielt er den Arm gerade nach oben ausgestreckt. Er spürte den kalten Hauch. So ging er weiter, jeweils zehn oder zwanzig Schritte, anhalten, Fingerprobe, Wind von links, weitergehen. Johannes war sich keinesfalls sicher, ob das ihn tatsächlich geradeaus führte, aber ihm fiel keine Alternative ein. Als er den linken Stiefel verlor, weil der sich so festgesaugt hatte, daß Johannes ihn nicht aus dem Sumpf ziehen konnte, wollte die Panik auf der Stelle wieder die Regie übernehmen.
Ich werde hier versinken und in etwa zwanzig Jahren findet jemand mein Skelett.
Er lachte laut. Das war ein guter Anfang für eine Geschichte. Er mußte sich das zu Hause gleich aufschreiben. Solche Einfälle waren Gold wert.
Er stapfte weiter, links barfuß, rechts mit Stiefel. Daran, worauf er mit seinem bloßen Fuß trat, mochte er nicht weiter denken. Gewürm, womöglich scharfkantige Wurzeln, Schlangen sogar - hier gab es neben den harmlosen Blindschleichen zumindest Kreuzottern, das wußte er aus dem Biologieunterricht. Aber selbst das war immer noch besser, als stehenzubleiben und auf irgend jemanden oder irgend etwas zu warten.
Schließlich hatte trockenen Boden unter den Füßen. Er beschloß, weiter geradeaus zu gehen, und dann, sobald er an einen Weidezaun kam, diesem zu folgen. Die Wiesen hier waren alle eingezäunt, weil die Bauern ihr Vieh dort weiden ließen.
Gegen Mitternacht kam Johannes zu Hause an. Er hatte nach einer langen Wanderung die Straße und sein Fahrrad gefunden. Er war dreckig, naß und todmüde. Und er hatte Angst vor seiner Mutter.
Als sie ihm die Türe öffnete, gab es statt der Prügel jedoch eine Umarmung, die nicht enden wollte. Sie schluchzte, wiederholte immer wieder „Oh mein Gott, danke! Wo warst Du? Mein Gott, vielen Dank! Wo bist du bloß gewesen...“ und wollte ihren Sohn nicht loslassen.
Meint sie jetzt Gott mit ihrem „wo warst Du?“ oder mich? überlegte er. Vermutlich mich. Also gut - tolle Geschichte oder Wahrheit?
Johannes entschloß sich, die Wahrheit zu erzählen, wenn die auch weniger abenteuerlich war als eine tolle Geschichte, die er sich genauso schnell hätte ausdenken können, wie er sie erzählte. Im Geschichten erfinden und erzählen konnte ihn kaum jemand schlagen. Andere verstrickten sich dabei in Widersprüchen, mußten an entscheidenden Stellen kurz nachdenken - und schon war man ihnen auf die Schliche gekommen. Johannes passierte das nicht.
So, das wars auch schon mit dem 16ten Kapitel. Vielleicht schreibe ich das Manuskript ja im Jahr 2008 weiter, mal sehen. Auf jenem Blog, der ausschließlich Artikeln und Texten gewidmet ist, gibt es übrigens eine weitere Erzählung aus der gleichen Schatztruhe auf meiner Festplatte, einen mörderischen ungeschriebenen Aufsatz.
Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen Jahreswechsel, der genau so ausfällt, wie es den jeweiligen Vorstellungen entspricht und dann ein ausgesprochen frohes und erfolgreiches Jahr 2008.