Donnerstag, 18. März 2010

Wer bist du, Jessika?

Ich hatte, als »Die Entblößung« zu Ende ging, angekündigt, dass es eventuell wieder mal eine Mitmach-Geschichte geben würde. Vielleicht wird aus dieser so etwas? Ich habe keine Ahnung, ob und wie es weitergehen kann… – aber manchmal überraschen mich meine Geschichten ja. Und vielleicht sind die geneigten Leser so freundlich, mir mit ein paar Tipps auszuhelfen…
Der folgende Text ist etwa vierzehn Jahre alt, zumindest sein erster Entwurf. Er ist Teil einer längeren Erzählung, aus der kaum noch etwas werden wird. Aber, so fand ich, als kleine Kurzgeschichte, als Episode im Leben eines Schriftstellers, geht er nach sorgfältiger Überarbeitung allemal durch. Bitteschön:
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Zwei Wochen nach ihrem Einzug in seine Wohnung wusste er genauso viel von ihr wie am ersten Tag - im Grunde nichts. Er beschloss, das zu ändern, und zwar jetzt, auf der Stelle, im Abendsonnenschein auf der Terrasse der Pizzeria.
Jessika bestellte einen Krug Carpineto und zwei Gläser.
»Moment, bitte, ich hätte lieber ein Bier«, sagte Bernd, bevor der Kellner verschwinden konnte.
Jessika sah überrascht auf. Sie wirkte einen Moment sehr konzentriert - dann entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder und ihr Lächeln kehrte zurück, dieses Lächeln, das ihn von Anfang an gefangen genommen hatte.
»Zwei Bier dann, bitte.«
»Du kannst ruhig Wein trinken, wenn du …«
»Zwei Bier«, wiederholte Jessika und der Kellner ging mit einer leichten Verbeugung und freundlichem Schmunzeln seines Weges.
»Du wolltest Wein, Bernd, aber noch wichtiger war dir, nicht das zu wollen, was ich wusste, dass du es willst. Warum? Was mache ich falsch?«
Die Frage war gut gestellt. Es gab keine Antwort, die Bernd hätte in kurze Sätze fassen können. Falsch machte Jessika eigentlich nichts, sie machte alles richtig, und genau das war verkehrt. Jedes menschliche Wesen ist mal ungeschickt, irrt sich, sagt ein Wort zur falschen Zeit, ist unausgeschlafen wenn der Partner hellwach ist oder überdreht wenn der Partner gerade müde wird - Jessika passierte nichts dergleichen. Sie gab die richtigen Antworten, hatte die richtigen Stimmungen, die Harmonie zwischen Bernd und ihr war so perfekt, dass sie zu Bedenken Anlass gab.
Bernd war glücklich, wie noch nie in seinem Leben. Er war so glücklich, dass die Gedanken, es könne sich um einen sehr lebhaften Traum handeln, gelegentlich kaum zu unterdrücken waren. Es war eben alles zu glatt, zu poliert – so sah kein normales menschliches Leben aus. Ein Traum, womöglich, aber niemals die Realität. Zusätzlich irritierte ihn, das er weder Jessikas Vergangenheit, noch ihre Wünsche, Ziele oder Träume kannte.
»Ich weiß nichts von dir, Jessy. Nichts. Das macht mich verrückt.«
Sie sah ihm in die Augen, und er meinte, nur Unverständnis für diese Bemerkung in ihrem Blick zu lesen.
»Aber du weißt doch alles, Bernd! Wenn nicht du, wer denn dann? Du hast mich doch hervorgerufen.«
Er bemühte sich, konzentriert und logisch zu bleiben, ausnahmsweise keine Emotionen zuzulassen. Allein der Blick ihrer wunderbaren Augen wollte ihn alles vergessen lassen, was er eigentlich fragen oder sagen wollte. Doch heute Abend wehrte er sich dagegen. Er wollte ein Homo sapiens sein, mit der Betonung auf sapiens.
»Jessika, können wir für einen Moment, eine oder zwei Stunden vielleicht, einfach mal beide ganz normale Menschen sein? So amüsant das Rollenspiel auch sein mag, ich möchte jetzt gerne wissen, wo du herkommst, wo du gelebt hast, warum du hier aufgetaucht bist. Ich liebe dich, Jessika, das weißt du. Vielleicht ist es dadurch um so schwerer zu ertragen, dass ich für dich ein aufgeschlagenes Buch bin und du für mich ein Buch mit sieben Siegeln.«
Sie nickte ernst. Ihre schmalen Finger zogen zwei Zigaretten aus der Schachtel, beide nahm sie in den Mund. Bernd griff nach dem Feuerzeug und zündete beide Zigaretten an, dann reichte sie ihm seine. Ein Ritual, das sich bereits anfühlte wie seit Jahren, Jahrzehnten gar, eingeübt. So war es beim ersten gemeinsamen Rauchen gewesen. Und geblieben. Er schwieg und wartete.
Jessikas Augen sagten ich liebe dich, grenzenloses Vertrauen, bedingungslose Zuneigung waren in ihre Züge geschrieben.
»Es ist kein Rollenspiel. Ich bin die Jessika, die du vor Jahren für eine Kurzgeschichte erfunden hast.«
»Bitte, lass das. So etwas ist unmöglich. Wir sind doch beide intelligente und realistische Menschen, wollen wir nicht heute einmal auch entsprechend miteinander reden, anstatt romantische Ideen auszuschmücken? Ich liebe dich, Jessika, egal woher du kommst, ob aus dem Bordell, aus dem Gefängnis, aus dem Kloster…«
Beer 5Der Kellner brachte das Bier und verschwand wieder mit einem freundlichen »zum Wohle«.
Jessika seufzte. »Okay, Bernd. Hör mir einfach zu, woran ich mich erinnere. Ich habe dich nie angelogen und werde es auch nicht tun. Es wäre leicht, dir zu erzählen, ich sei aus Hamburg oder Mainz gekommen, wäre bisher ein Freudenmädchen in Paris oder eine Nonne in Afghanistan gewesen, ich hätte mich in dich verliebt, alle deine Bücher gelesen, deinen PC angezapft, um an die unveröffentlichten Texte zu kommen und so weiter. Aber ich will das nicht. Ich will dir nichts als die Wahrheit erzählen. Hörst du mir zu und sagst erst etwas, wenn ich fertig bin?«
»Einverstanden. Leg los, Jessika. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich, Bernd.«
Sie beugte sich über den Tisch und küsste ihn, liebevoll, zärtlich.
»Meine erste Erinnerung sieht so aus«, fing sie an zu erzählen, »dass du an deinem Schreibtisch sitzt, auf den Bildschirm starrst und eine Geschichte mit dem Titel Jessika schreibst. Wie meistens, wenn du schreibst, fängst du einfach mit einem Satz, einer Idee, an, und die Geschichte entsteht beim Tippen. Du hast nie die komplette Handlung im Kopf, wenn du beginnst.«
Sie trank einen Schluck Bier. Bernd nickte, sie hatte recht. Aber das hatte er im Vorwort zu einem seiner Bücher der ganzen Welt – soweit sie denn seine Bücher las – verraten. Keine große Zauberei also, dass Jessika dies wusste.
»Du sitzt da jedenfalls, es ist Nachmittag, gegen 14:00 Uhr, und du hast gerade beschrieben, wie eine Frau einem Mann mit einem Brotmesser genüsslich und langsam den Bauch aufschlitzt, dem hervorquellenden Blut zuschaut und abschätzt, wie lange er noch durchhalten wird, weil sie ihm im letzten bewussten Augenblick seines Lebens den Penis abschneiden und ihm das Organ vor die sterbenden Augen halten will.«
»Dass du die Geschichte kennst, ist mir nicht neu, Jessika. Ohne mich zu rühmen: Tausende haben sie gelesen, sie war sehr erfolgreich.«
»Du wolltest einfach zuhören.«
»Ja, sorry. Ich bin ja schon still.«
»Du starrst auf den Bildschirm, und plötzlich hast du ein Gesicht vor Augen oder im Kopf, ein kleines Mädchen, plötzlich siehst du die Geschichte. Das Mädchen wohnt im gleichen Haus und weiß alles. Nur die Hausmeisterin ahnt nicht, dass Jessika, denn so nennst du deine kleine Heldin, ihr blutrünstiges Geheimnis kennt. Die Idee ist da, und du schreibst die ganze Geschichte in der ersten Version fürbass am Stück in den Computer. Dann schaust du um 17:00 Uhr erstaunt auf deine Armbanduhr und fragst dich, wo die Zeit geblieben ist.«
Bernd zündete schweigend zwei weitere Zigaretten an, die Jessika aus der Packung genommen hatte. Er zwang sich, nichts zu sagen, versprochen war versprochen. Sein Job war jetzt das Zuhören. Jessika hatte recht, genau so war es gewesen mit der kleinen Horrorerzählung.
Bernd winkte dem Kellner und deutete auf die beiden leeren Gläser. Jessika nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und fuhr fort: »Also, du hast die Erzählung beendet, die erste Fassung, hast die Datei gespeichert und bist mit dem Hund spazieren gegangen. Dann hast du die ganze Nacht daran gearbeitet, und am Morgen, acht Stunden und sechs Dosen Bier später, war die endgültige Fassung fertig. Du hast mehrmals überlegt, ob du den Schluss so offen lassen oder Jessika doch lieber umbringen solltest.«
Bernd nickte nachdenklich. Das konnte sie nun wirklich nirgends gelesen haben, hatte er es womöglich in einem Gespräch erwähnt?
Jessika redete bereits weiter. »Ich war dafür, mich am Leben zu lassen, sintemal ich erst dreizehn war, und mich doch schon in dich verliebt hatte. Mir war gleichzeitig klar, dass du eine Dreizehnjährige niemals an dich heranlassen würdest, denn das, was du in anderen Erzählungen über Angelina oder die Kinder in Rothberg geschrieben hast, würde dir nicht im Traum im wirklichen Leben einfallen. Ich wusste, dass ich erst erwachsen werden musste. Also wartete ich sechs Jahre, bis ich neunzehn war. Dann schien mir die Zeit reif.«
»Wofür reif? Wo warst du inzwischen?« Bernd hatte mittlerweile vergessen, dass Jessikas Geschichte erfunden sein musste. In diesem Moment glaubte er, was sie erzählte.
»Das ist eben schwer zu beschreiben, Bernd. Ich war und war doch nicht. Ich war nicht fort aus dieser Welt, aber ich war auch nicht real. Nicht in dieser Form, nicht als Frau. Dessenthalben hat es so lange gedauert.«
Bernd grinste. »Sag mal, Jessika, erst sagst du fürbass, dann sintemal und jetzt dessenthalben. Diese Worte sind etwas aus der Mode.«
»Eben, Bernd. Ich halte nichts von Mode. Genau wie du. Darf ich jetzt weiter erzählen?«
»Ja, aber ich glaube, ich kann dir nicht glauben.«
»Das ist – du bist doch ein gläubiger Mensch, das ist bei einigen deiner Texte ja deutlich herauszulesen.«
»Ja und doch nein. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es von manchen Kanzeln gepredigt wird. Oder nicht mehr. Ich bin älter geworden und habe vieles gesehen, was ich lieber nicht gesehen hätte. Ich habe vor allem gelernt, selbst zu prüfen, selbst zu hinterfragen, nicht einfach als unumstößlich anzunehmen und nachzuplappern, was ein Pastor oder Politiker oder sonst jemand verkündet. Mir ist eine gewisse Blauäugigkeit abhanden gekommen. Es ist im Leben mehr möglich, als man auf den ersten Blick meinen möchte.«
»Und trotzdem bist du bereits überzeugt, dass meine Geschichte, die doch deine ist, nicht wahr sein kann.«
Er überlegte seine Antwort gründlich. Wenn er von etwas überzeugt war, dann davon, dass man nichts von vorne herein als unmöglich abtun sollte. Das hatten die Menschen getan, bevor sich das erste Flugzeug in den Himmel erhob, bevor es Medikamente gegen bis dahin tödliche Krankheiten gab... Die Menschheit neigte dazu, erst einmal alles als Teufelswerk abzutun, was unvorstellbar schien, sei es das Fliegen, sei es die Heilkunst.
»Ich versuche, zuzuhören, Jessy, und erst später eine Meinung zu bilden. Ist das okay?«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich, Jessika. Erzähl mir, wo oder was du gewesen bist in den sechs Jahren.«
»Ich war zumindest zum Teil Angelina. Aber ich mochte sie nicht sonderlich. Du warst von ihr abgestoßen und fasziniert zugleich. Ich war auch ein wenig Sophia, aber sie ist zu jung, mit ihren fünfzehn Jahren. Und sie ist nicht so, wie ich sein wollte. Ein zu vernünftiges, zu erwachsen wirkendes Mädchen, eine weise Frau im Teenagerkörper. Du hast jedenfalls Recht, dass du den Roman noch nicht veröffentlicht hast. An Sophia musst du noch arbeiten, bis sie glaubwürdig wird. Ich wollte Jessika sein, eine erwachsene Jessika, die Jessika, die mit dreizehn Jahren in der Hausmeisterwohnung einen Menschen verspeist hat, zumindest seine Leber und das Gehirn. Mit meiner Vergangenheit, aber kein Kind mehr. Daher habe ich so lange äh – gehofft – oder verharrt, bis du mich jetzt endlich wieder hervorgeholt hast.«
»Hat’s geschmeckt bei der Hausmeisterin?«, fragte Bernd trocken und griff zum Bierglas, das dritte inzwischen.
»Die Leber ja, das Gehirn nein. Prost.«
»Zum Wohlsein.«
Während das Zigarettenritual sich entfaltete, forschte Bernd in seiner Erinnerung. Wenige Wochen zuvor hatte er begonnen, über eine Fortsetzung der rabenschwarzen kleinen Horrorgeschichte nachzudenken. Nicht mit der Hausmeisterin, sondern mit dem Mädchen aus der Nachbarwohnung. Die Versuche waren nicht gelungen, er brachte es nicht fertig, Jessika als Kind wieder aufleben zu lassen. Die Figur entglitt ihm jedes Mal. Doch dann kam er auf die Idee, die Fortsetzung etliche Jahre später anzusiedeln. Warum sollte aus der Dreizehnjährigen nicht eine junge Frau geworden sein? Sie konnte womöglich mit jemandem auf einer Terrasse sitzen, ihrem nächsten Opfer, aber das Opfer ahnte natürlich nichts von seinem Schicksal. Das Opfer konnte ein Mann sein, der sich in Jessika verliebt hatte. Am besten, die beiden lebten bereits etwa zwei Wochen zusammen, dann eines Abends…
Jessikas Stimme unterbrach seinen Gedankengang: »Bin ich nun oder bin ich nicht, Bernd?«
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So. Ja. Und nun? Ist die Geschichte damit zu Ende? Keine Ahnung. Daher meine Frage an die Leser:




Soll es, wie soll es weitergehen?
Nein. Hier ist Schluss.
Ja, Jessika ist wirklich jener Erzählung entstiegen.
Ja, Jessika führt Bernd an der Nase herum.
Ja, aber ich weiß nicht wie.
Auswertung

P.S.: Die Kurzgeschichte »Jessika« befindet sich in dem Buch »Gänsehaut und Übelkeit«. Angelinas Geschichte gibt er zur Zeit nur im Kindle-Format, aber eine Leseprobe ist verfügbar: Wenn die Nacht vom Himmel fällt