So etwas wie moralische oder unmoralische Bücher gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Weiter nichts. -Oscar WildeWenn Herr Wilde mit diesem Zitat der Wahrheit nicht zuwiderredet, kann ich ja ohne moralische Bedenken mal wieder meine Blogbesucher daran erinnern, dass es auch Bücher - das sind diese altmodischen, überwiegend aus Papier und Druckerschwärze beziehungsweise Toner bestehenden Gegenstände, deren einzelne Seiten man umblättern und deren gesamten Inhalt man ohne Scrollrad so nach und nach betrachten kann - aus meiner virtuellen Feder gibt.
Ich spendiere also hiermit eine (neben »Linda«) weitere Leseprobe aus »Liebe und Alltag«. Nicht ohne Hintergedanken jedoch, denn dies ist nur einer von zwei Zwillingen. Es gibt da im Buch auch noch die kleine Erzählung »Das erste Mal allein mit Jakob«, die durchaus mit dieser hier im Zusammenhang steht. Vielleicht will ja jemand auch Tinas Sicht der Dinge kennenlernen und kauft das Buch?
Schluss mit der Vorrede. Jetzt hat Jakob das Wort:
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Das erste Mal allein mit Tina
Tinas Eltern, so erzählte sie am Telefon, würden für eine Woche nach Amerika fliegen, um ihren Hochzeitstag zu feiern. Am Freitag, früh am Morgen. Ob ich denn Lust hätte, nach der Schule zu ihr zu kommen. Das Wort Lust betonte sie besonders, oder bildete ich mir das ein? Sie schien aufgeregt und mindestens so nervös wie ich. Ihre Tante konnte erst am Abend aus München anreisen, um dann auf Tina »aufzupassen«.
Lust, wer hat sie nicht, wenn er 17 Jahre alt und ein normaler Junge ist? Tina und ich gingen miteinander, wie man das so nannte, wenn aus allgemeiner Freundschaft etwas wurde, wofür man noch nicht so recht die richtigen Worte fand. Wir gingen miteinander, und zwar Hand in Hand zur Schule und zurück nach Hause, auch mal ins Kino, ins Café. Andere Freunde störten eher, seit wir miteinander gingen. Dann trauten wir uns nicht, die Lippen aufeinander zu legen, unbeholfen Arm um Hüfte zu schmiegen.
Allein mit Tina, die Aussicht war verlockend und beängstigend zugleich. Bei mir zu Hause konnten jeden Augenblick Geschwister ins Zimmer platzen, denn abzuschließen war verboten. Natürlich befühlten wir einander, ließen unsere Hände auch unter Kleidungsstücke wandern, aber die Klamotten ablegen war nicht drin.
Bei ihr zu Hause gab es keinen nervenden kleinen Bruder, keine neunmalkluge große Schwester, und wenn ihre Eltern nach Amerika flogen...
Was tut man eigentlich mit einem Mädchen, mit dem Mädchen, wenn man ein paar Stunden ungestört ist? Ich konnte mir vieles ausmalen, aber nur eines vorstellen.
»Wir sind ganz ungestört«, sagte sie, »ich meine wirklich ungestört. Hast du Lust?«
»Na klar! Ich muss nur noch meinen Eltern eine Erklärung liefern, warum ich von der Schule nicht nach Hause komme.«
»Wie wäre es denn damit: Du kommst zu mir, damit wir für die Klausur am Montag lernen können.«
Am Montag stand tatsächlich eine Klassenarbeit an. In Biologie. Mit dem wunderbaren Thema Bildung haploider, genetisch unterschiedlicher Keimzellen für geschlechtliche Fortpflanzung als eine Ursache für Ungleichheit innerhalb der Art.
»Gute Idee. Wir lernen für die Klausur«, sagte ich und dachte daran, dass wir die geschlechtliche Fortpflanzung, haploide Zellen hin oder her, einstweilen unbedingt verhindern mussten. Tina nahm sicher nicht die Pille, also sollte ich wohl besser Kondome besorgen.
Der Freitag war ein kurzer Schultag mit nur fünf Stunden. Ich hatte morgens schon leichte Bauchschmerzen, von der Art, die mich bei Nervosität regelmäßig heimsuchte. Was würde nach der Schule geschehen? Ich duschte, nachdem ich den Druck der morgendlichen Erektion mit ein paar Handbewegungen entladen hatte, ausgiebig. Ein paar Tropfen Rasierwasser, dann frische Unterwäsche. Boxershorts oder Slip? Ich hatte keine Ahnung, was besser war. Schließlich nahm ich die Boxershorts, weil sie nicht so deutliche Konturen erkennen ließen. Oder wäre gerade das verlockender? Was würde Tina besser gefallen? Ein Blick auf die Uhr - höchste Zeit. Also Boxershorts, kurzentschlossen.
Beim Anziehen richtete sich der eigensinnige kleine Freund schon wieder auf, aber es blieb nun keine Zeit mehr. Vermutlich würde er, wenn es darauf ankam, völlig unbeteiligt schlafen wollen. Er machte sowieso meist, was er wollte. Beim Duschen nach dem Sport reckte er sich peinlich in die Höhe, und neulich, als ich Langeweile und Zeit hatte, wollte er sich nicht erheben.
Wie gut hatten es doch die Mädchen, dachte ich, die konnten unbekümmert über die Beulen in unseren Jeans bei den unmöglichsten Gelegenheiten kichern.
Tina hatte aufgeräumt, ihr Zimmer duftete nach Parfüm und sie hatte die Heizung aufgedreht, so dass ich gezwungen war, den Pullover sofort abzulegen, während sie Cola und zwei Gläser aus der Küche holte. Ich fuhr zum hundertsten Mal mit den Fingern in die Jeanstasche, um zu überprüfen, ob ich die Kondome wirklich bei mir hatte. Drei Stück, um auf der sicheren Seite zu sein.
Tina stellte das Tablett auf ihren Schreibtisch und nahm mich in die Arme. »Endlich allein.«
Mir fiel nichts ein, was als Antwort gepasst hätte.
Tina grinste und zog mich mit sanfter Gewalt an sich. »In deiner Hose scheint es ziemlich eng zu sein«, meinte sie und unsere Lippen verschmolzen. Mein Bauchschmerz ließ nicht nach. Was tut man jetzt, fragte ich mich, wie geht es weiter? Ihre Bemerkung deutete in die gewünschte Richtung. Aber was antwortet man auf so etwas? Und wie fängt man jetzt an? Wer fängt jetzt an? Mein Magen...
Wir setzen uns auf ihr Bett. Ein Schluck Cola konnte gegen die Ratlosigkeit nicht helfen, aber immerhin gewann ich Zeit. Tina verschwand in Richtung Toilette. Ich überprüfte, ob die Kondome noch in meiner Tasche steckten. Natürlich steckten sie, wo sollten sich auch in den letzten zwei Minuten hingekommen sein. Ich hatte zu Hause ausprobiert, wie man mit diesen Dingern umgehen musste. Aber jetzt zitterten meine Hände, waren feucht. Und überhaupt, mein Bauch rumorte ziemlich unangenehm. Schweißperlen auf der Stirn hatte ich auch.
Als Tina ins Zimmer kam, umgab sie eine frische Wolke Duft.
»Hmmm, ich glaube ich müsste auch mal...«, sagte ich und ging ins Bad. Ich musste zwar, aber natürlich konnte ich nicht, denn da gab es, wie ich aus peinlicher Erfahrung wusste, ziemliche Probleme mit dem Zielen, solange die Schwellkörper mit Blut vollgepumpt waren. Auch diesbezüglich hatten es die Mädchen wohl leichter.
Ein leichtes Würgen. Wenn ich mich übergeben musste, dann lieber jetzt und hier, als in ihrem Bett. Aber so schlimm war es doch nicht. Ich wusch mir die Hände, trocknete die Stirn mit dem Gästehandtuch. Mein T-Shirt zeigte Schweißflecken, aber da war nun nichts zu ändern.
Ein letzter verzweifelter Blick in den Spiegel, dann zurück in Tinas Zimmer. Sie hatte sich auf ihrem Bett ausgestreckt. Ich setzte mich an den Rand. Am besten, fiel mir ein, ist immer noch die Ehrlichkeit.
»Tina, ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Ich bin nervös und mir ist etwas übel.«
Sie zog mich neben sich auf das Bett und meinte: »Dann geht es uns beiden ja genau gleich.«
»Ehrlich?«
»Ja. Ich habe alles vergessen, was mir meine Freundinnen geraten haben.«
»Okay. Und ich habe alles vergessen, was ich vorher gelesen habe.«
Sie strich mir sanft über die schon wieder feuchte Stirn. Ich legte meine Hand unsicher auf ihre Schulter. Unsere Lippen trafen sich.
»Wir müssen gar nichts, können auch einfach hier liegen und träumen«, schlug sie vor.
»Einverstanden«, sagte ich, »das machen wir.«
Der Druck in meinem Magen ließ nach.
Und dann ergab sich alles, ganz ohne Verkrampfung und Nervosität.
Heute, zwanzig Jahre später, lachen wir noch immer über unser erstes Mal. Und wenn Tina vorschlägt, dass wir uns »ein wenig hinlegen und träumen« könnten, bin ich gerne einverstanden. Auch ohne schweißnasse Stirn und Magengrummeln.
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Wie gesagt, Tinas Empfindungen an jenem Tag gibt es im Buch, schwarz auf weiß.
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