Diese Episode schließt inhaltlich an die Erlebnisse des Herrn K. beim Besuch eines Gottesdienstes an, kann aber ohne weiteres auch ohne Kenntnis jener älteren Glosse gelesen und verstanden werden. Wer sich allerdings zunächst mit Herrn K. über Salbe wundern möchte, klickt hier: [Segen, Salbe, Sammeleimer – Herr K. besucht einen Gottesdienst]
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19:00 Uhr: Etwas unentschlossen steht Herr K. vor dem Haus, in das er zu einem Hauskreis eingeladen wurde. Das Gebäude ist nicht rund. Es ist in einer gerade Straße gelegen, nicht etwa in einem Kreis von Häusern um einen Platz herum. Was ein Hauskreis sein mag, weiß er nicht, die Dame, die ihn so freundlich eingeladen hatte, ging wohl davon aus, dass der Begriff Allgemeingut sei. Nun zögert Herr K.: Ob es wirklich angebracht ist, bei wildfremden Menschen an einem Mittwoch um 19 Uhr aufzukreuzen und zu erklären, dass man eingeladen sei? Auf dem Zettel hatte er »Steffi Müller« und die Adresse notiert, neben der Klingel steht Fam. Müller, also wird es wohl das richtige Haus sein, Kreis hin oder her.
Frisch gewagt ist halb gewonnen, das hat seine Mutter immer gesagt. Herr K. drückt auf den Klingelknopf. Zu seiner Erleichterung öffnet die Dame, die ihn eingeladen hat. Er muss also nicht umständlich erklären, warum er hier ist. Sie strahlt ihn an: »Herzlich willkommen! Hereinspaziert!«
»Guten Abend«, antwortet er höflich, »wenn ich nicht ungelegen komme ...«
»Nein nein, heute ist doch Hauskreis. Immer rein in die gute Stube!«
Herr K. folgt ins Wohnzimmer und merkt sich, dass ein Hauskreis offenbar nicht ein Gegenstand, sondern ein Zeitpunkt ist.
19:03 Uhr: »Bin ich zu früh dran?«, fragt Herr K., als er sieht, dass außer ihm und Frau Müller niemand zugegen ist.
»Nein, keineswegs. Wir fangen immer um Sieben an.«
Herr K. sitzt in einem Sessel und sieht sich um. Er befindet sich in einem gutbürgerlichen Heim, aufgeräumt und sauber, nicht teuer eingerichtet, aber auch nicht schäbig möbliert. Auf dem Couchtisch stehen Mineralwasser von Aldi, Obstsaft in Kartons von Lidl und zehn Gläser mit unterschiedlichem Dekor bereit. In einer Schale liegen Kekse.
Frau Müller fragt: »Darf ich etwas anbieten?«
»Ein Mineralwasser, vielen Dank«.
Sie schenkt ihm ein.
19:07 Uhr: Es klingelt, Frau Müller eilt zur Tür. »Hallo Monika!«, hört Herr K. ihre Stimme aus dem Flur.
Frau Müller kommt mit eine älteren Dame zurück. Diese eilt gleich auf Herrn K. zu und streckt ihm die Hand entgegen.
»Ich bin Monika. Wer bist du?«
Herr K. ist etwas irritiert. Gehört es zu den Kreisgepflogenheiten, dass man unbekannte Erwachsene duzt?
»Daniel«, murmelte er.
»Der Herr ist wunderbar!« ruft Monika. Herr K. zweifelt daran, dass er selbst damit gemeint ist. Es muss wohl um einen anderen Herrn gehen, vielleicht den noch abwesenden Hausherrn?
19:15 Uhr: Ein junges Paar stößt dazu, Michael und Esther, auch sie reden Herrn K. sofort mit dem vertraulichen Du an. Herr K. vermeidet in seinen gemurmelten Sätzen die persönliche Anrede, hält sich überhaupt aus dem Gespräch zurück, das sich um alltägliche Dinge wie Einkauf und Wetter dreht. Ihm ist noch nicht so ganz klar, was hier eigentlich veranstaltet wird. Ein Plauderabend?
19:25 Uhr: Nun sind wohl alle Teilnehmer da, acht Personen zählt Herr K., zuletzt kam eine Helga mit Gitarre. Die anderen Namen hat Herr K. nicht behalten. Helga stimmt ihr Instrument auf eine Weise, die zur wesentlichen Verbesserung des Klanges nicht beiträgt, während ringsum noch die Gespräche dahinplätschern.
19:30 Uhr: Michael räuspert sich und erklärt: »Dann wollen wir vielleicht mal anfangen.«
Es wird still. Herr K. ist gespannt.
»Wir machen vielleicht erst Lobpreis, dann das Thema«, fährt Michael fort. »Und am Schluss vielleicht dann die Gebetsgemeinschaft.«
Herr K. fragt sich, ob das mehrfache »vielleicht« Flexibilität im Ablauf signalisiert oder eine dem Sprecher unbewusste Angewohnheit darstellt. Da niemand abweichende Vorschläge unterbreitet, vermutlich letzteres.
19:35 Uhr: Es wird gesungen, mehr oder weniger. Herr K. kennt die Lieder nicht und rätselt an manchen Textstellen bezüglich der Aussage. Helga beherrscht offenbar nur einen einzigen Rhythmus, ein schrammelndes Auf und Ab des Plektrons über die Seiten, aber Herr K. will sich daran nicht stören. Es ist dies ja kein Konzert, bei dem man einer musikalischen Darbietung lauscht.
Die anderen haben alle die Augen geschlossen und einen leicht verklärten Gesichtsausdruck. Ob man beim Singen nicht umherschauen darf? Herr K. ist unsicher, aber es sieht ja keiner, dass er etwas sieht.
19:45 Uhr: Es wird immer noch gesungen. Zur Abwechslung auf Englisch, mehr oder weniger. »Siss is se däi, siss is se däi, sätt se lord häs mäid ...« - Herr K. würde gerne des englische th mit den Anwesenden einstudieren, aber er ist ja schließlich nur zu Gast und nicht als Englischlehrer engagiert worden. Allerdings tut es ihm in den Ohren weh, und leider muss offensichtlich das kurze Liedchen sechs - nein! sieben Mal! - wiederholt werden. Er überlegt, ob dies ein Feiertag für die Gläubigen ist, von dem er nichts weiß, oder warum ausgerechnet diesen Tag Gott auf eine Weise »gemacht« hat, die zu solch anhaltendem Gesang der spärlichen zwei Sätze, aus denen der Text besteht, Anlass gibt. Eigentlich ist es ein ganz normaler Mittwoch, etwas verregnet noch dazu.
19:55 Uhr: Die Gitarre liegt endlich neben dem Stuhl von Helga. Michael hat eine dicke Bibel auf dem Schoß, in der er suchend vorwärts und rückwärts blättert, bis er die gewünschte Seite gefunden hat. »Vielleicht lese ich mal vor«, sagt er und räuspert sich bedeutungsvoll. Er runzelt die Stirn, macht eine kleine Pause und liest dann tatsächlich vor.
»Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist.«
20:00 Uhr: Nach der Lesung herrscht Schweigen. Herr K. würde gerne fragen, warum das Zitat mitten in einem Satz mit »denn« anfängt und worauf sich dieses »denn« beziehen könnte, aber er ist ja nur zu Gast und vermutlich wäre das unangebracht. Möglicherweise wird vorausgesetzt, dass in einem Hauskreis der Wortlaut des kompletten Abschnittes bekannt ist, und alle anderen haben ja ihre Bibeln auf dem Schoß, so dass sie gegebenenfalls nachlesen können.
Dass man bei Gott berühmt sein kann, ist Herrn K. neu, aber warum auch nicht. Die Sache mit dem trotz mangelnden Ruhmes gerecht werden findet er ganz angenehm. Dadurch scheint man aber trotzdem bei Gott noch nicht berühmt zu sein. Und wer mit dem »sie« überhaupt gemeint ist, alle Menschen oder nur eine bestimmte Gruppe, ist Herrn K. auch nicht so recht klar. Nun ja.
Herr K. wartet ab, was nach dem andächtigen oder verlegenen Schweigen kommt. Helga seufzt schließlich: »Ach ja, der Herr ist so gut.«
»Amen«, ruft Monika.
Herr K. meint sich zu erinnern, dass das Amen den Schluss einer Predigt oder eines Gebetes markiert - aber vielleicht täuscht ihn ja die Erinnerung.
Michael erklärt nach einem tiefen Seufzer: »Wir sind also gerecht, ohne es verdient zu haben.«
»Die Gnade!«, freut sich einer von denen, deren Namen Herr K. sich nicht gemerkt hat.
Steffi nickt verzückt und fügt hinzu. »Mit ihm hat er uns ja auch alles geschenkt.«
Herr K. ist nun völlig verwirrt, wer hat wem was geschenkt? Ging es nicht um Ruhm und Erlösung, irgendwie? Na ja, denkt er, vielleicht wird das ja im weiteren Gespräch noch erklärt?
20:15 Uhr: Das Gespräch dreht sich inzwischen um die Frage, wann die neue Arbeitsstelle kommt, die Gott dem eben über die Gnade so erfreuten Teilnehmer, dessen Namen sich Herr K. nicht merken konnte, versprochen hat. Soweit Herr K. der Unterhaltung folgen kann, muss das Versprechen irgendwie während eines Gebetes, womöglich sogar in diesem Hauskreis, gegeben worden sein, und daher sucht Thomas? Johannes? Tobias? (jedenfalls irgendwas mit O im Namen) nun nicht nach einem Job und schreibt auch keine Bewerbungen. Gott hat ihm wohl gesagt, dass die Arbeitsstelle »kommt«, wie auch immer das vonstatten gehen mag. Wenn der Mann mit dem O nun aktiv würde, erfährt Herr K., dann wäre das Unglaube, da der Job ja aus Gnade schon gegeben sei – nur eben noch nicht sichtbar geworden ist. Und im Falle des Unglaubens »käme« dann die Arbeitsstelle eben nicht.
Herr K. staunt. Noch mehr würde er staunen, wenn der Arbeitsplatz schon »gekommen« wäre, das Verfahren könnte ja im Erfolgsfall ein probates Mittel gegen Arbeitslosigkeit werden.
20:25 Uhr: Monika und Helga erzählen, wie Jesus ihnen beim Einkaufen aus Gnade geholfen hat, ein Sonderangebot zu finden, von dem sie nichts gewusst hatten. Herr K. fragt sich, ob auch bei allen anderen Kunden, die an jenem Tag im Laden waren und zugegriffen haben, eine göttliche Hand im Spiel war.
Dabei fällt ihm ein, dass er noch ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau benötigt, der Geburtstag ist zwar erst in vier Wochen, aber Herr K. hat gerne rechtzeitig alles parat. Dabei fällt ihm ein, weil parat so ähnlich klingt wie Paral, dass er den Mückenschutz an der Balkontüre reparieren sollte. Dabei fällt ihm ein, dass er vergessen hat, die Pflanzen auf dem Balkon zu gießen, aber es hat ja heute ein paar mal geregnet. Dabei fällt ihm ein …
20:35 Uhr: Als es plötzlich eine Weile still ist, kehrt Herr K. aus seinen Gedankengängen wieder zurück in den Hauskreis. Michael blickt auf die Uhr und sagt: »Dann wollen wir vielleicht mal noch beten. Hat jemand vielleicht ein Anliegen?«
Herr K. hat keins, denn er muss zwar demnächst einkaufen gehen, sucht aber kein Sonderangebot und er hat auch einen Job, mit dem er ganz zufrieden ist.
Helga hat Kopfweh gehabt, am Morgen, jetzt nicht mehr, aber man könne ja mal für sie beten, damit es nicht wiederkommt.
Der Mann mit dem O im Namen wünscht Gebet, damit seine neue Arbeitsstelle bald »kommt«.
20:40 Uhr: Helga greift nach der Gitarre und stimmt ein Lied an, während alle wieder die Augen fest geschlossen halten. Herr K. wundert sich, dass sie singen »… wir heben die Hände auf zu dir Herr …«, obwohl niemand seine Hand auch nur ein paar Zentimeter nach oben bewegt. Aber er ist ja der einzige, der das sieht, und vielleicht heben die Leute metaphorische Hände? Herr K. kann sich jedenfalls nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet in einem gesungenen Gebet Gott etwas vorschwindeln würden. Der kann, vermutet Herr K., nichterhobene Hände sogar mit geschlossenen Augen sehen.
Dann ist es still, die Augen bleiben aber zu. Offenbar kann man mit Gott nur sprechen, wenn man nichts sieht. Oder sehen diese Leute den Unsichtbaren gerade dadurch, dass sie die Augen zukneifen? Dann könnten sie ja beim Singen auch Hände gehoben haben, die man eben nicht sehen kann, wenn man etwas sieht.
Michael, der neben Helga sitzt, legt schließlich eine Hand auf deren Arm und sagt: »Jesus kommt und berührt dich mit seinen gesalbten Händen und du wirst frei sein von deiner Migräne. Amen.«
Dann geht es um den Mann mit dem kommenden Job: »Wir sagen komm, Arbeitsstelle, im Namen Jesu …«
20:50 Uhr: »Und wie hat es dir gefallen?«, fragt Steffi Herrn K., als der offizielle Teil vorüber ist. Alle Augen ruhen erwartungsvoll auf ihm. Herr K. findet das peinlich und ringt um Worte. »Es war … vielen Dank für die Nachfrage … interessant … viel Neues für mich, aber anregend, zum Nachdenken anregend.«
»Der Herr ist wunderbar!«, ruft Monika und Herr K. nickt vorsichtshalber.
Ob er noch zur »Gemeinschaft« bleiben wolle, wird er gefragt, es gäbe nämlich noch Knabbereien und Tee, dabei könne er doch ein wenig von sich erzählen. Herr K. schüttelt den Kopf und erklärt, dass seine Frau zu Hause auf ihn warten würde, er müsse nun zügig aufbrechen.
»Bring deine Frau doch nächste Woche mit«, schlägt Helga vor, als Herr K. sich verabschiedet.
21:00 Uhr: Herr K. tritt auf die Straße und fragt sich, wie er seiner Frau von dem Abend berichten kann, ohne den Eindruck mentaler Verwirrung zu erwecken. Mitbringen wird er sie sicher nicht, da er keinen zweiten Besuch plant.
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P.S.: Die fast fertige Version dieser Glosse habe ich auf der Gemeindefreizeit einer Freikirche vorgelesen und wertvolle Tipps bekommen, die nun hier eingeflossen sind. Dank an die fleißigen Kommentatoren bei der improvisierten Lesung!