Freitag, 31. August 2007

Fragmentus amplificarus

Ein Fragment (v. lat.: frangere brechen) ist ein bruchstückhafter, unvollständiger Gegenstand. Dabei kann es sich sowohl um einen Rest eines ehemaligen Ganzen handeln, insbesondere in der Kunst aber auch um einen vom Künstler bewusst gewählten Ausschnitt eines bloß ideell Ganzen. Insbesondere ist ein Fragmenr in der bildenden Kunst eine unvollständige Plastik: ein Torso oder ein Non-finito, und eine literarische Gattung. (Wikipedia)

Ich hätte noch weiter gewusst, als der folgende Text reicht. Aber ich finde es inzwischen reizvoll, die reizenden Kommentare der gereizten Leserinnen und Leser auszureizen. Eine Geschichte öffentlich zu schreiben – ein Experiment mit dem Reiz des Neuen.

Was hier folgt, knüpft an das Fragment vom Dienstag an (und wiederholt den letzten Satz als ersten). Wer einen Schluss zu lesen wünscht: Augen weg! Denn wieder sehen wir betroffen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.
Sie reißt ihren Blick los von den Fluten unter sich und schaut ihm in die Augen, der sie so lange nun bereits betrachtet hat. Er wendet schnell den Blick aufs Meer, als habe er nur zufällig gerade zu ihr hingeblickt.
„Sie haben mich beobachtet“, spricht sie ihn an.
„Ich habe Sie bewundert.“
„Kann man bewundern, wen man nicht kennt?“
„Vielleicht bewundert man nur, was man nicht kennt?“
Sie betrachtet ihn aufmerksam, forscht in ihrer Erinnerung nach seinem Gesicht, Jahre jünger natürlich, denn wenn er sie erkannt hat, muss eine frühere Begegnung lange zurückliegen. Alle Überbleibsel ihrer Vergangenheit sind vom Sturm der jüngsten Zeit verweht, sie ist ein neuer Mensch. Und doch kann immer noch passieren, was nicht geschehen darf.
„Habe ich“, fragt sie und lässt seine Augen nicht los, „Sie schon einmal gesehen? Vielleicht unten in Mexiko?“ Oder war es ein Bild auf einem Regal, irgendwo bei irgendwem? Sie kann nicht sicher sein, spürt jedoch die Ahnung einer Erinnerung.
„In Mexiko war ich nie.“
„Aber?“
„Kein Aber. Ich wüsste nicht, wo und wann wir uns begegnet wären.“
Die Krempe seines Hutes verschattet die Augen, sie weiß nicht zu sagen, ob er die Wahrheit oder Lüge redet. Ein Segen, dass auch Sie nicht unbehütet ist.
„Sind Sie...“
Er unterbricht mit einem Lächeln: „Entschuldigung, ich habe mich nicht einmal vorgestellt, nachdem ich Ihren Anblick eine Ewigkeit genießen durfte. Konstantinos Sourvanos.“
„Ein Grieche in Deutschland. Warum?“
Statt einer Antwort fragt er: „Ihr Name bleibt Ihr Geheimnis?“
„Einstweilen.“

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Er ist verwirrt. Kann nicht zuordnen, sortieren, benennen, was mit ihm geschieht. Eine Fremde und seine Seele liebt sie seit seiner Geburt. Eine Unbekannte und sein Herz zieht sich vor Schmerz zusammen, weil sie sich jetzt abwendet. Wohl keine griechische Göttin, was für ein absurder Gedanke auch, ausgerechnet hier und jetzt, doch sie regiert ihn wie nur eine Macht es kann, die jenseits dieser Welt gegründet ist.
Sie entschwindet seinem Blick, das Hotel verschluckt sie und er kann nicht folgen. Er steht auf und lehnt sich an die Brüstung, die das Tosen unten von dem Weiß hier oben trennt, spürt noch die Gegenwart der Göttin wo sie stand. Sein Blick sucht was ihre Augen gesehen haben mögen. Grau und Blau mit wenig Weiß zerklüftet, keinen Augenblick der gleiche Anblick wie zu der vorigen Sekunde. Zwei Möwen kreisen über dem unendlichen Inferno, weit draußen kann ein Frachter sein, wenn nicht das Licht ihm etwas vormacht, was nie dagewesen.
Was sie sah, bleibt ihm verborgen, denn jedes Bild vom Meer ist flüchtig. Jede Erinnerung ist flüchtig. Hat er sie doch schon einst getroffen, woher kommt diese Gewissheit ihr zugehörig zu sein? Er ist kein dummer Junge mehr, der Hals über Kopf in Schwärmerei verfällt, wenn ihm ein weibliches Wesen aus der grauen Masse heraussticht.

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Sie lässt den Fahrstuhl unbeachtet und steigt in Gedanken tief verloren die vom Teppich weichen Stufen empor. Einst war sie, in jenem anderen Leben, verzaubert gewesen. Hatte sie in seiner Gegenwart eine Stunde verweilt, oder einen Tag? Sie kann es nicht mehr sagen, jede Erinnerung ist flüchtig wie ein Bild vom Meer, auch diese verschwimmt ihren Gedanken. Die Sonne ging nicht unter an jenem Tag, die Bäume reichten tief an einem sanften, schimmernden See. Was war geschehen, wann und wo? Wer war der Mann gewesen, mit dem sie einen Tag, eine Stunde teilen durfte? Sie waren eins gewesen in dem, was sie nicht taten. Hatte sie verborgen, hatte er verschwiegen, was hätte sein können? Oder machte ihr das Gedächtnis vor, was nie dagewesen?
Sie folgt den Spiralen der Stufen und erreicht das zweite Obergeschoss, will umkehren, zurück auf die Veranda, den Blick hinaus richten. Nein, sie will die Augen ihn erforschen lassen. Vergangenheit zurückholen, Zukunft ermöglichen.
Der schwere Schlüssel öffnet ihre Türe und ein leichtes Beben unter ihren Füßen fordert Aufmerksamkeit.