Sonntag, 12. Dezember 2010

Jessika – ein Verhängnis /// Teil 2

Die Leser haben entschieden – und natürlich halte ich mich an die eigenen Spielregeln. Der mysteriöse Fremde bleibt einstweilen am Leben. Wer den ersten Teil noch nicht gelesen hat, sollte das vielleicht vor der Lektüre dieser Fortsetzung nachholen: [Teil 1]

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»Wenn du dir die Zeit genommen hättest, das Magazin zu kontrollieren«, fuhr er fort, »wüsstest du, dass dieses Stück Metall in deiner Hand höchstens als Wurfgeschoss taugt.«

Jessika drückte ab. Ein Klicken war zu hören, kein Schuss. Sie zuckte mit den Schultern, warf die Pistole auf das Bett und fragte: »Also los jetzt, raus mit der Sprache, wer bist du und was willst du von mir?«

Seine Mine blieb freundlich, als er erklärte: »Wer ich bin, das sollte einstweilen offen bleiben, denn es hat mit meinem Anliegen nichts zu tun. Du erinnerst dich sicher an eine Nacht vor vielen Jahren, als du vor der Tür der Hausmeisterin standest und lauthals Einlass in die Wohnung verlangt hast. Sie ließ dich herein und war drauf und dran, dich von hinten zu erstechen.«

Die Geschichte mit der Hausmeisterin steht im Buch »Gänsehaut und Übelkeit«. Jessika studierte sein Gesicht noch aufmerksamer. Kannte der Mann sie von damals? War er ein Hausbewohner gewesen? Oder womöglich ein potentielles Opfer der mörderischen Hausmeisterin, das ihr entkommen war? Er mochte Anfang 50 sein, die kurzen Haare waren grau, der auf zwei Millimeter getrimmte Zwei-Tage-Bart ebenfalls. Sein freundliches Gesicht war ihr fremd. Nun gut, damals war sie noch ein Kind, Erinnerungen verblassten mit den Jahren. Jessika versuchte, sich den Mann jünger vorzustellen. Seine blau-grauen Augen – womöglich war sie diesem Blick schon begegnet, aber sie konnte nicht sagen, wann oder wo das gewesen sein mochte.

»Dein Vorschlag«, fuhr er fort, »den gerade von der Hausmeisterin ermordeten Mann zumindest teilweise zu verspeisen, hat dir damals das Leben gerettet.«

Jessika sagte trocken: »Sie hasste Männer.«

»Das ist zweifellos eine treffende Charakterisierung.«

»Ich war übrigens noch nicht strafmündig, abgesehen davon, dass ich den Mann ja nicht umgebracht habe.«

»Aber den Giftzwerg, den hast du persönlich ins Jenseits befördert.«

Jessika überlegt, wie sie diesen so freundlich lächelnden Fremden schnellstmöglich loswerden konnte. Du weißt zu viel, viel zu viel. Kann ich dich erwürgen? Du siehst ziemlich kräftig aus… Er mochte um die 90 Kilogramm wiegen, so ohne weiteres und ohne Waffe wollte sie keinen Angriff wagen. Und woher weißt du das eigentlich?

»Das war erstens ein Unfalltod, und zweitens überfällig«, sagte sie.

 

Nach der Schule hatte sie eine Ausbildung in einer Behörde begonnen, weil es mit dem Studienplatz nicht gleich geklappt hatte. Einer der Vorgesetzten war der Giftzwerg gewesen, ein gewisser Donald Ritz, der seinen Spitznamen wahrlich verdient hatte. Der Mann war unberechenbar, seine Launen berüchtigt. Er hatte seine Lieblingsmitarbeiter, deren vermeintliche Zuneigung er sich mit Prämien und Vergünstigungen zu erhalten suchte. Alle, die nicht zu diesem Kreis gehörten, hatten Angst vor Ritz. Da er als Leiter mit Personalverantwortung für seinen Bereich eingesetzt war, konnte es einen Mitarbeiter den Arbeitsplatz kosten, wenn Ritz dessen Nase nicht gefiel. Einen kleinen Anlass zu finden war kein Problem.

Jessika gefiel ihm nicht, aber sie hatte im Gegensatz zu vielen anderen keine Angst. Ihre Existenz hing nicht an dieser Ausbildung, und vor Männern fürchtete sie sich grundsätzlich nicht, schon gar nicht vor solchen eher klein gewachsenen Möchtegernmonarchen. Eines Tages, als er eine Schimpfkanonade losließ, weil Jessika ihm nicht schnell genug war, kam es zur Konfrontation.

»Du wirst mich noch kennen lernen, mein Frolleinchen!«, brüllte er durch das Büro.

Sie stand auf, trat ihm entgegen und sagte ruhig: »Ich wüsste nicht, seit wann Sie mich duzen dürfen.«

»Was? Auch noch frech werden? Ich schmeiß dich raus!«

»Dazu müssten Sie schon einen arbeitsrechtlich relevanten Grund haben, Herr Ritz. Ich erwarte von Ihnen eine Entschuldigung für Ihr Verhalten und einen angemessenen Umgangston.«

Der Kopf des kleinen Mannes wurde puterrot, die Adern schwollen sichtlich an. Dass jemand ihm widersprach, war er nicht gewöhnt. In seinem kleinen Königreich war er der unfehlbare Herrscher, um dessen Gnade die Untergebenen gefälligst zu winseln hatten.

Seine Stimme war bestimmt bis in die angrenzenden Büros zu hören: »Frolleinchen, ich werde dich…«

Jessika hob die Hand und erklärte: »Sie verlassen jetzt den Raum, bis Sie sich wieder beruhigt haben. Sie könnten auch die Firma verlassen und ein Bier trinken gehen, bei Ihnen zählen ja private Verrichtungen oft als Dienstgänge. Oder Sie lassen die Jalousien ihres Büros herunter und trinken den Beruhigungsschluck am Schreibtisch, solange keiner durch das Fenster hineinschauen kann. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen Zeit bis morgen, sich angemessen zu entschuldigen.«

Donald Ritz starrte die junge Frau entsetzt an. Woher wusste sie, dass er zum Beispiel für Arztbesuche Dienstgänge buchte? Woher wusste sie, was er hinter geschlossener Jalousie zu sich zu nehmen pflegte? Wie konnte sie es wagen, solche Dinge auszusprechen, während andere Mitarbeiter der Abteilung sich an ihren Schreibtischen den Anschein gaben, eifrig in die Arbeit vertieft zu sein, zweifellos aber die Ohren spitzten? Die Zornesröte seines Gesichtes war gewichen, hatte einer Leichenblässe Platz gemacht.

»Sie hören von mir«, zischte er und verließ das Büro.

Am nächsten Tag hörte Jessika nichts von ihm, er war wohl nicht zu dem Schluss gekommen, dass eine Entschuldigung angebracht sein könnte. Sie wartete bis zum Feierabend. Als sie nach Hause aufbrach, kam ihr auf dem Flur der Giftzwerg entgegen. Er würdigte sie keines Blickes, aber sie hörte ihn hinter ihrem Rücken zischen: »Schlampe.«

Etwa eine Stunde später setzte sich Ritz an das Steuer seines Dienstfahrzeuges. Er wusste, dass er nicht mehr nüchtern genug war, um ein Auto zu fahren, aber es war ja bisher auch immer alles gut gegangen. Bis zur scharfen Kurve der Autobahnauffahrt ging auch an jenem Tag alles gut. Das letzte, was Donald Ritz in seinem Leben sah, war eine Gestalt mitten auf der Fahrbahn, die ihm ruhig entgegenblickte. Er verriss das Steuer, der Wagen kam auf dem regennassen Asphalt ins Schleudern und prallte frontal gegen einen Lastwagen, der auf der Gegenfahrbahn mit rund 70 Stundenkilometern unterwegs war.

Dreißig Minuten später kam Jessika zu Hause an, ein zufriedenes Lächeln auf den Gesichtszügen.

Eine Person auf der Fahrbahn hatte niemand sonst wahrgenommen, auch nicht der nur leicht verletzte Fahrer des LKW. Der Alkoholgehalt im Blut des Verunglückten reichte als Erklärung für den Unfall, weitere Ermittlungen wurden nicht angestellt.

Es gab ein feierliches Begräbnis, zu dem die Mitarbeiter der Behörde dienstfrei bekamen. Der Nachfolger des Donald Ritz, sein bisheriger Stellvertreter, war ein fairer und integrer Mann. Die Stimmung in der Abteilung wandelte sich von Angst, Verrat und Afterreden zu einem produktiven und angenehmen Arbeitsklima. Jessika beendete ihre Ausbildung mit vorgezogener Prüfung nach nur zwei Jahren, um dann an die Universität zu wechseln.

 

Sie musterte den Mann, der ihr immer noch freundlich schmunzelnd gegenüber saß. Was willst du von mir? Wie werde ich dich los?

»Ein Unfalltod war es«, wiederholte sie.

»Und du warst erst 18 Jahre alt«, sagte der Fremde leise, als wäre das ein mildernder Umstand.

»Ich bleibe 18 bis ich sterbe«, erklärte Jessika.

»Du hörst gerne Bryan Adams?«

»Auch. Unter anderem.«

Er zwinkerte ihr zu und meinte: »Von mir aus kannst du jung bleiben. Ich kann mir eine Jessika fortgeschrittenen Alters sowieso nicht vorstellen.«

Sie griff nach der Beretta und fragte: »Bekomme ich meine Munition eigentlich wieder? Und was willst du denn nun von mir?«

»Ich will dich erst mal besser kennen lernen. Du bist mir rätselhaft.«

»Du mir auch.«

»Eben.«

Sie runzelte die Stirn: »Was eben? Wie eben?«

»Bevor ich übereilte Entscheidungen treffe, was aus dir werden soll, möchte ich, dass wir uns besser kennen lernen«, erklärte er.

Jessika witterte ihre Chance. Beim Sex wurden alle Männer fahrlässig unvorsichtig, und zum Kennenlernen gehörte für Männer in der Regel kaum etwas anderes als dass ihr Penis auf möglichst abwechslungsreiche Weise aktiv werden durfte. Diesbezüglich hatte sie einige Finessen auf Lager, vor ein paar Stunden erst war Signore Giuseppe Di Stefano in den Genuss ihrer Künste gekommen. Dass sein Herz dabei den Pumpdienst aufgegeben hatte, nun ja, das war eine ganz andere Sache. Immerhin hatte er sich in einem Augenblick höchsten Genusses von dieser Erde verabschiedet. So wie damals ihr Bernd. Ach Bernd, wenn ich dich zurückholen könnte

»Kennenlernen finde ich gut«, antwortete sie und schenkte ihrem Gegenüber ein erstes Lächeln. »Aber gehört es nicht auch dazu, dass man einander beim Namen nennen kann?«

Er nickte zustimmend. »Meinetwegen kannst du mich Johannes nennen. Oder wie auch immer du willst. Ich bin da nicht wählerisch.«

»Johannes. Und weiter?«

»Nichts weiter. Name ist Schall und Rauch. Du heißt ja auch nur Jessika.«

Sie war unschlüssig, wie es nun weitergehen sollte. Was er wirklich wollte, hatte er nicht verraten, und dass es ihm nur um Sex ging, hielt sie eher für unwahrscheinlich. Sie wusste auch nicht, ob er womöglich bewaffnet war, wen er vielleicht in sein Wissen eingeweiht hatte. Es war ein ungewohntes und unangenehmes Gefühl für Jessika, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben nicht die Zügel in der Hand zu halten.

»Ich gehe jetzt«, sagte Johannes schließlich, »wir sehen uns bald wieder. Die Munition findest du in deinem Nachttisch.«

Er stand auf und nahm seinen Mantel vom Bett. Jessika überlegte, ob sie schnell genug die Waffe laden und ihn einholen konnte, bevor er die Pension verließ. Es war unwahrscheinlich. Sie musste auf eine andere Gelegenheit warten, bei der sie besser vorbereitet sein würde.

Johannes setzte seinen Hut auf und reichte ihr die Hand.

»Gute Nacht, Jessika.«

Zögernd stand sie ebenfalls auf und reichte ihm die Hand. Sie blickte in seine Augen, die noch immer freundlich und auf sonderbare Weise vertraut wirkten. Sein Händedruck war fest. Er nickte ihr noch einmal zu und verließ dann das Zimmer. Die Tür zog er hinter sich zu.

Jessika stellte sich ans Fenster und sah ihn kurz darauf durch die Grünanlage zur Via Giuseppe Verdi verschwinden. Er sah sich nicht um.

Sie setzte sich auf ihr Bett und öffnete die Schublade des Nachttisches. Die Patronen lagen neben der obligatorischen Gideon Bibel. Unter der Bibel sah sie einen Umschlag. Sie zog ihn heraus und öffnete ihn. Einen Moment wusste sie nichts damit anzufangen, was sie sah. Eine Postkarte, die eine sonnendurchflutete Landschaft zeigte. Sie drehte die Karte um und erblickte ihre eigene Schrift. Liebe Grüße, Jessika stand unter einem roten Herz. Verständnislos starrte sie die Postkarte an.

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Nun sind die geneigten Blogbesucher wieder an der Reihe. Es könnte so oder so weitergehen. Oder auch so.

Jessika...
...kommt darauf, wer Johannes wirklich ist.
...findet einstweilen keine Antwort.
...hat eine Ahnung, aber keine Gewissheit.
Auswertung

Fortsetzung? Folgt, wenn sie geschrieben ist. Die Abstimmung werde ich mir zum Weiterschreiben am kommenden Mittwoch zu Herzen nehmen.