Einerseits sind die Vorteile, die ein Buch im Gegensatz zu mündlicher Überlieferung bietet, nicht von der Hand zu weisen. So gut wie jedes Weitererzählen würde, ob nun gewollt oder unabsichtlich, den Inhalt färben, leicht verändern, sehr verändern, gewichten … ein Buch dagegen hält alles so fest, wie es zum Zeitpunkt der Drucklegung vorliegt. Ob man das Buch später überarbeitet, ist eine ganz andere Frage. Erst einmal ist es eine Momentaufnahme.
So gesehen ist es ein Gewinn, Berichte, Briefe, Lehrstücke, Poesie, Phantasie und andere Formen der religiösen Literatur in Form eines Sammelwerkes, das Bibel genannt wird, zu haben. In vielen Sprachen noch dazu (was wiederum bei jeder Übersetzung und Übertragung zwangsweise den Inhalt färben, leicht verändern, sehr verändern, gewichten muss). Zumindest liegt uns heute in unserer Sprache eine Sammlung von Texten vor, die einigermaßen verlässlich in den ersten paar Jahrzehnten der Geschichte des Christentums von Menschen verfasst wurden, die noch vergleichsweise nahe an den Ereignissen der Entstehung der christlichen Kirche und Gemeinde dran waren.
Was das sogenannte Alte Testament betrifft, also den vorchristlichen Zeitraum des jüdischen Glaubens und Lebens, so sind die meisten Texte lange vor der Schriftkultur entstanden. Es wurden von einer Generation zur nächsten Erfahrungen mit Gott und der Welt sowie die Deutungen, die man aus diesen Erfahrungen zog, mündlich überliefert. Erst zum 2. Jahrhundert wurde die hebräische Bibel überarbeitet und in die uns bekannte Form gebracht. Bestehende Texte wurden dabei mit neuen kombiniert. Darum gibt es zwei Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel und viele weitere Passagen, die wie Fehler oder Abweichungen wirken.
Nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu entstand zwar die christliche Gemeinde, aber keine schriftlich festgehaltenen Texte, da man von einer baldigen Wiederkunft Christi ausging – wozu da noch Schriften verfassen, wenn sowieso bald alles vorbei ist. Erst im Rahmen der ersten Mission entstanden Briefe und Berichte, später wurden neben den in der Bibel enthaltenen noch etliche andere) Evangelien verfasst.
Einerseits ist es also gut und hilfreich, dass wir ein Buch haben, in dem wir nachlesen können, was die Menschen damals über Gott und Jesus und die Welt und das Jenseits glaubten und hofften und mutmaßten.
Andererseits verführt das vorliegende Buch, das in vielen christlichen Kreisen als »Wort Gottes« bezeichnet wird, dazu, dass recht abenteuerliche und oft sogar gefährliche Ideen und Lehren dadurch legitimiert werden, dass sie ja schließlich »biblisch begründet« seien. Die Sklaverei, die Vernichtungskriege gegen Un- oder Andersgläubige, das Abschlachten der Heiden, wenn sie nicht zum Christentum überzutreten bereit waren – alles galt zur jeweiligen Zeit als Gottes Wille, da man ja entsprechend unterstützende Sätze in der Bibel finden und zitieren konnte.
Das ist heute nicht anders. Zahlreiche Christen schüren leider Hass auf Homosexuelle, weil Paulus, einer der biblischen Autoren, der schon zu Lebzeiten nicht unumstritten war, ein paar entsprechende Worte hinterlassen hat. Viele Menschen lassen sich finanziell ausbeuten und ausräubern, weil in ihren Gemeinden gelehrt wird, dass Gott nur denjenigen liebt und segnet und schützt, der opfert und opfert und opfert. In zahlreichen Kirchen werden gar Kranke und Notweidende unter psychischen Druck gesetzt, weil es ihnen schlecht geht, denn das sei – so wird allen Ernstes gelehrt – ja ein deutliches Anzeichen, dass zwischen dem Leidenden und Gott eine Sünde vorliegt. Zur Not, wenn derjenige ein reines Gewissen hat, auch in der vorigen, vorvorigen oder sonst einer Generation … es ist, mit Verlaub, zum Kotzen.
Noch ein Problem mit dem Vorliegen des Buches, das man gerne Wort Gottes nennt: Gott wird der Mund verboten. Er kann und darf nichts mehr sagen, was von den einmal ausgesuchten und festgelegten Schriften abweichen würde. Er hat gar keine Chance, darauf hinzuweisen, dass vielleicht dieses oder jenes zwar der Überzeugung des biblischen Autors entsprochen hat, aber mit Gott und seinem Willen nichts zu tun haben muss … denn das wäre ja unbiblisch von Gott. Er hat, so verstehen viele die Bibel, irgendwann beschlossen: Ich diktiere der Menschheit jetzt ein Buch und damit basta.
Das Christentum ist übrigens nicht allein mit der Fixiertheit auf ein Buch. Was wird nicht alles im Namen des Korans getan, gelehrt und geglaubt … und wie viele Atheisten gründen ihr Leben auf agnostische Literatur, als seien die Autoren unfehlbar – göttlich sozusagen, wenn es denn einen Gott gäbe.
(Quellen zur Entstehung der biblischen Zusammenstellung: [Wie die Bibel wurde, was sie ist] /// Bildquelle: [Qumran Bibelausstellung]
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