Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel, in einer trotz später Stunde recht belebten Einkaufsstraße, widerfuhr Daniel K. ein leider heute geradezu alltägliches Verbrechen. Er war nach Greifswald gereist, um einen Schulfreund aus der Jugendzeit zu besuchen. Die beiden trafen sich alle paar Monate, Herr K. kannte den kurzen Weg ins Hotel, daher holte ihn sein Freund nicht am Bahnhof ab. Es waren ja nur 10 Minuten zu gehen.
Aus einer Kneipe kamen drei überwiegend in schwarzes Leder gekleidete Jugendliche, sahen ihn mit seinem Rollkoffer die Straße entlanggehen. Sie gingen davon aus, dass dieser Fremde womöglich eine lohnende Beute mit sich führen mochte.
Einer der Angetrunkenen fasste Herrn K. von hinten um den Hals, ein anderer entriss ihm den Griff des Koffers. Der dritte ließ ein Messer aufschnappen. »Kein Mucks, du Schwein! Sonst stech ich dich ab!«
Herr K. wehrte sich, instinktiv und aus Panik. Bei klarem Verstand hätte er womöglich stillgehalten, aber der Schreck traf ihn zu unvorbereitet. Er konnte wegen des Würgegriffes nicht schreien, aber er bäumte sich gegen die Umklammerung auf und trat mit dem Fuß nach dem vor ihm stehenden Angreifer.
Nun ging alles so schnell, dass Herr K. kaum mitbekam, was mit ihm geschah. Die drei stießen ihn in einen Hauseingang, das Messer bohrte sich erst in den rechten Oberarm und dann in den linken Oberschenkel. Eine Hand suchte nach der Brieftasche, die er im Jackett trug. Der Jugendliche zerrte und zog, dann riss er den Stoff der Anzugjacke auf und schaute sich den Inhalt der Brieftasche an. Kreditkarten und Ausweise interessierten ihn nicht, er war auf Bargeld aus. Das war jedoch nicht zu finden.
Er stieß Herrn K. den Ellenbogen ins Gesicht. »Gib dein Geld her, du Schwein!«
Eine Antwort war dem Überfallenenn nicht möglich, da er im Würgegriff kaum noch Luft bekam. Einer der Räuber tastete nach dem Portemonnaie in der Gesäßtasche, zog es heraus und zeigte seinen Genossen die wenigen Geldscheine, die er vorgefunden hatte.
»Nur 150 Euro? Wo hast du dein Geld versteckt, Schwein?«
Der Griff um den Hals lockerte sich und Herr K. krächzte: »Mehr habe ich nicht bei mir.«
Der Ellenbogen traf erneut sein Gesicht, eine Faust schlug ihn in den Magen. Herr K. fiel zu Boden.
Die Jugendlichen leerten seinen Koffer aus, wühlten in den Kleidungsstücken und fanden nichts von sonderlichem Wert.
»Zieh dich aus!«, befahl der Wortführer.
Herr K. richtete sich mühsam auf und gehorchte. Anzug und Hemd wurden auf verstecktes Geld abgetastet. Auch die Unterwäsche musste er ablegen. Es fand sich kein weiteres Geld.
Die drei Angreifer nahmen seine Armbanduhr an sich, kein kostbares Stück, auch sein Mobiltelefon, ein älteres Modell, stopften sämtliche Kleidungsstücke samt den eben abgelegten in den Koffer. Dann wandten sie sich samt Gepäck zum Gehen. Herr K. kauerte im Hausflur, hoffte, dass der Alptraum nun vorbei sei. Da traf ihn von hinten ein gewaltiger Schlag auf den Kopf und er sank bewusstlos auf die Steinfliesen.
Wenige Minuten später kam eine Theologiestudentin auf dem Weg zu einer Diskussionsgruppe die Treppe hinunter. Sie war spät dran. Als sie den blutverschmierten nackten Mann im Flur liegen sah, stockte ihr Schritt. »Oh mein Gott, was ist denn das?« Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche, um einen Notruf abzusetzen. Das Display blieb trotz Druck auf den Einschaltknopf dunkel. »Scheiße, wieder nicht aufgeladen...«, murmelte sie. Sie machte einen großen Bogen um Herrn K. und trat aus der Haustüre. Sie war wirklich spät dran. Sicher kam bald jemand anderer vorbei, der dann die Polizei holen konnte...
Im dritten Stockwerk wohnte ein Lehrer, der vierzehn Minuten später das Haus betrat. Er sah Herrn K., auch er zögerte einen Moment. Sein Mobiltelefon funktionierte, er drückte die SOS-Taste. Als die Verbindung aufgebaut war, sagte er: »Hier liegt ein nackter, blutiger Mann im Hausflur. Schicken Sie bitte Rettungskräfte.« Dann beendete er das Gespräch. Er hatte jetzt keine Zeit, wollte schnell noch duschen, bevor die bestellte Prostituierte kam. So etwas wie blutende Nackte überließ man besser den Profis. Er stieg die Treppe hinauf, als ihm einfiel, dass er überhaupt nicht gesagt hatte, wohin die Rettungskräfte kommen sollten. »Na ja, die haben ja Geräte, mit denen sie den Ort des Notrufes anzeigen können. Die werden den Weg schon finden...« Der Lehrer ging duschen.
Gerade als Herr K. wieder das Bewusstsein erlangte, betrat die Prostituierte das Haus. »O mój wielki Boże«, entfuhr es ihr, »biedactwo!« Sie ließ ihre Handtasche fallen und beugte sich zu ihm hinunter. »Sie sind verletzt. Ich hole Hilfe«, versprach sie. Herr K. war noch zu benommen, um zu antworten. Er hatte Mühe, überhaupt zu begreifen, wo er war und warum.
Die junge Frau nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte Herrn K. über die Stirn. Sie zog ihren Mantel aus und bedeckte damit seinen Körper. Aus ihrer Jeanstasche zog sie ein Mobiltelefon und drückte eine Taste. Sie sprach kurz auf Polnisch mit jemandem, dann steckte sie das Gerät wieder ein. »Können Sie aufstehen? Ich habe ein Auto vor der Türe.« Herr K. rappelte sich mühsam auf. Die Frau wickelte ihm ihren Mantel um die Hüften und geleitete ihn langsam zu einem kleinen Renault.
Am nächsten Vormittag verließ Herr K. die Wohnung des Arztes, zu dem ihn die Prostituierte gebracht hatte. Die Stichwunden waren sofort nach seiner Ankunft gereinigt und verbunden worden, der Mann hatte ihn untersucht und keine Brüche feststellen können, dann fand Herr K. ein Nachtlager im Gästezimmer der Familie. Ein Schlafanzug hatte bereitgelegen. Beim Aufwachen fand Herr K. Wäsche und Kleidung auf dem Stuhl neben dem Bett, ein wenig zu groß alles, aber dankbar zog er sich an.
Der Arzt wies jedes Ansinnen auf eine Rechnung weit von sich. »Die junge Dame hat für die Behandlung bezahlt, auch die Medikamente, die ich Ihnen zur Vermeidung von Entzündungen mitgebe. Hier ist noch Verbandmaterial für die nächsten Tage.«
»Ich würde gerne die Adresse der Frau haben«, sagte Herr K. beim Abschied, »ich möchte ihr die Kosten erstatten, mich bedanken.«
»Sie hat mich ausdrücklich darum gebeten, genau dies nicht zu tun. Sie ist illegal in Deutschland, deshalb hat sie auch nicht den Notarzt angerufen. Mit Behörden kann und will sie nichts zu tun haben. Sie ist Verkäuferin in Świnoujście, arbeitet aber an den Wochenenden hier als Prostituierte, um ihrer krebskranken Mutter in der Heimat die Medikamente zu finanzieren. Ihr reguläres Einkommen reicht nicht dafür. Sie wünscht Ihnen gute Besserung. Hier sind noch hundert Euro, damit Sie irgendwie weiter oder nach Hause kommen.«
Sprachlos, mit Tränen in den Augen, trat Herr K. auf die Straße.
P.S.: Herzlichen Dank an meinen Arbeitskollegen Jakub P., der mir polnische Worte verraten und erklärt hat.