Für alle Blogbesucher, die gerne Silvester mit Feuerwerkskörpern feiern, hier eine kleine Geschichte aus dem Buch »Gänsehaut und Übelkeit« zur Einstimmung auf das bevorstehende Fest.
Und für alle anderen Blogbesucher auch.
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Ein ungeschriebener Aufsatz von Saskia B., 14 Jahre alt
Mein Lieblingsbild ist relativ klein. Es hat das Format 9 mal 13 Zentimeter, wie die meisten Fotos in meinem Album. Aufgenommen wurde es am 1. Januar 2007, etwa fünf Minuten nach Mitternacht, mit der Spiegelreflexkamera meines Schulkameraden und Freundes Klaus-Jürgen.
In der linken Bildhälfte sieht man im Hintergrund einige Gäste der Silvesterparty, deren Gesichter einen Ausdruck von ungläubigem Erstaunen zeigen. Weit aufgerissene Augen, Münder zu einem Ausruf des Erschreckens oder der Verwunderung geöffnet. Einige Hände strecken sich abwehrend der Kamera beziehungsweise dem Bildmotiv entgegen, als könne Geschehenes durch diese Geste ungeschehen gemacht werden. Andere haben wohl noch nicht begriffen, was geschieht: Mein Onkel Georg lacht aus vollem Halse und die Nachbarin, die mit uns gefeiert hat, nippt mit geschlossenen Augen an ihrem Sekt.
In der rechten Bildhälfte ist das eigentliche Motiv zu sehen: Das Gesicht meiner Schwester Liliane im Halbprofil. Das sichtbare Auge ist weit geöffnet. Im anderen Auge steckt ein qualmendes, Funken sprühendes Geschoß, das eigentlich gen Himmel hätte fliegen sollen. Das Foto ist im Augenblick des Eindringens des Feuerwerkskörpers in das Auge mit Blitzlicht aufgenommen, so dass man sehr schön erkennen kann, wie Blutstropfen in einem feinen Sprühregen aus der Verletzung entweichen. Gleichzeitig fliegen einige Tropfen einer weißlich schimmernden Masse, die offenbar schwerer ist als Blut, in die Nacht hinaus.
Durch die Reflektionen der bunten Funken, die der pyrotechnische Artikel seiner Bestimmung gemäß abgibt, wirken das spritzende Blut und die Augapfelmasse in der Luft wie ein zusätzlicher Einfall des Feuerwerksdesigners, wie eine ganz selbstverständliche Ergänzung des Showeffektes.
Die blonden Haare meiner Schwester haben in dem Augenblick der Aufnahme noch kein Feuer gefangen, die Kamera hat sie in einer elegant wirkenden Wellenbewegung, hervorgerufen durch das Zurückreißen des Kopfes, festgehalten. Man kann jedoch bereits ahnen, dass eine der fliegenden Locken Sekundenbruchteile später der explodierenden Rakete sehr nahe kommen wird.
Lilianes Mund ist auf dem Bild halb geöffnet, der gellende Schrei steckt noch in der Kehle, bereit, zu entweichen. Man erkennt zwischen den perlweiß schimmernden Zähnen die Zungenspitze, die nur Augenblicke später im Reflex auf den Schmerz abgebissen werden wird.
Die Farben des Bildes sind leuchtend und kräftig, die Bildkomposition ist naturgemäß nicht durchdacht oder arrangiert. Die Aufnahme ist ein Zufallstreffer, ein Glücksfall für den Fotographen, der just im richtigen Augenblick den Finger am Auslöser hatte.
Warum dieses Foto mein Lieblingsbild ist? Es markiert einen Wendepunkt in meinem Leben. Ich war im Vergleich zu meiner Schwester stets ein hässliches Entlein, unansehnlich, unscheinbar. Alle Augen ruhten stets auf ihr, der bezaubernden Elfe mit dem goldenen Haar und dem Engelsgesicht.
Seit dem 1. Januar 2007, etwa fünf Minuten nach Mitternacht, hat sich das Blatt gewendet. Ich bin zwar noch immer keine Schönheit für einen Modekatalog, aber ich bin dabei, meine überflüssigen Pfunde zu verlieren, und wenn man heute mich und meine Schwester sieht, blickt man freiwillig von ihr weg und zu mir hin.
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Na denn. Einen guten Rutsch allerseits, wie man so sagt. Und bitte sorgfältig zielen mit den Geschossen.