Eine halbe Stunde später parkten sie vor einem Restaurant, dass sich La Taverna dell'Etrusco nannte. Das Navigationsgerät hatte Johannes durch die verwinkelten Altstadtstraßen von Orvieto Terni in die Via Garibaldi geleitet. Die Adresse musste er wohl schon zuvor gespeichert haben, denn er hatte sie aus dem Menü »Lieblingsplätze« gewählt. Der schwarze Dodge Nitro fand kaum Platz am Rand der engen Straße.
»Warum hast du eigentlich kein normales Auto?«, fragte Jessika.
»Was wäre denn normal?«
»Ein VW, BMW, Opel … irgend so was.«
»Kein Mensch braucht einen Opel. Hat Thilo Sarrazin mal gesagt.«
Jessika lachte. »Na der muss es ja wissen …«
Johannes klappte den Seitenspiegel an und verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung.
»Seit meinem ersten Besuch in Amerika, das war im Jahr 2000, kommen für mich keine europäischen oder gar japanischen Fahrzeuge mehr in Frage. Ich habe mich wohl dort mit dem American-Car-Virus infiziert. Dieses Exemplar hier habe ich gewählt, weil der Nitro nicht aussieht wie andere, nicht so fürchterlich abgerundet und modekonform. Ein Hummer hätte mir auch gefallen, aber den könnte ich zu Hause kaum irgendwo parken, ohne den fließenden Verkehr zu behindern, abgesehen von seinem Durst nach leckerem Diesel.«
»Wo ist denn dein zu Hause?«, fragte sie, als sie das Restaurant betraten.
»Das weißt du doch«, gab er zurück.
»Buonasera! Benvenuti!«, schallte es ihnen entgegen. Ein rundlicher Herr gesetzten Alters strahlte sie an und streckte Jessika die Hand entgegen. Sein Redefluss kam nicht zum Erliegen, als er auch Johannes die Hand schüttelte, von graciosa signorina war die Rede und vom gagliardo eroe. Der Mann führte sie zu einem Fensterplatz, wischte mit seiner strahlend weißen Serviette nicht vorhandene Krümel oder Staub vom makellosen Tischtuch und zog für Jessika den Stuhl zurück, damit sie bequem Platz nehmen konnte.
Sie schenkte dem Wirt ein bezauberndes Lächeln und sagte: »Mille gracie.«
»Prego, prego, prego« rief er und beeilte sich, auch für Johannes den Stuhl zum Platznehmen beiseite zu ziehen.
Als sie beide saßen, brachte der Mann ihnen die Speisekarten und stellte zwei Gläser und einen Krug Wasser auf den Tisch. Johannes schaute gar nicht in die Mappe, sondern er fragte, was denn besonders zu empfehlen sei. Sofort hatte der Wirt einen Vorschlag parat. Er empfahl Abbacchio brodettato mit einem passenden Wein, die beiden waren einverstanden und er verschwand in Richtung Küche, um die Bestellung auszurichten.
Das Lokal war spärlich besetzt. Ein junges Paar speiste in einer Nische, an der Bar lehnten zwei Mädchen. Vor ihnen standen vier Gläser mit Wein, augenscheinlich warteten sie auf zwei weitere Personen.
Johannes schenkte Wasser ein und bemerkte beiläufig: »Deine Munition habe ich übrigens nicht mehr in meiner Hosentasche.«
»Ich bin gleich zurück«, sagte Jessika. Sie stand auf und verschwand in Richtung Toilette. Die Tür neben der Bar führte in einen weiß getünchten Gang, links lag eine Tür mit der Aufschrift Signora, rechts stand Signore. Am Ende des Ganges war eine weitere Tür zu sehen. Jessika öffnete sie, sah, dass sie auf einen Hof führte und nickte zufrieden. Sie ließ sie halb offen stehen und betrat die Herrentoilette.
Zwei Jugendliche standen nebeneinander an den Pissoires. Sie drehten nicht die Köpfe, um zu sehen, wer hereingekommen war. Jessika nahm ihre Beretta aus der Handtasche, entsicherte sie und richtete sie auf den Kopf des Jungen, der rechts stand. Sie wartete nicht, bis er fertig gepinkelt hatte. Der Schuss war in dem kleinen Raum ohrenbetäubend. Ohne zu zögern erschoss sie auch den zweiten Jugendlichen. Beide waren sofort tot. An der Wand lief Blut herunter, im Neonlicht des Raumes wirkte es unnatürlich rot, als hätte sich ein Set-Ausstatter beim Film im Farbton vergriffen.
Jessika verließ die Herrentoilette und eilte quer über den Gang durch die Tür mit der Aufschrift Signora in die Damentoilette. Niemand war zu sehen. Sie wischte die Beretta mit einem Handtuch gründlich ab und ließ sie dann im Spülkasten der hintersten Kabine versinken. Vom Gang her hörte sie aufgeregte Stimmen. Sie ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Es dauerte etwas länger, als sie erwartet hatte, bis die Tür aufgerissen wurde. Im Spiegel über dem Waschbecken sah sie den Wirt. Er rief ihr zu, zu bleiben wo sie war und schloss die Tür wieder von außen. Sie lächelte versonnen.
Wenige Minuten später kam er in Begleitung zweier Polizisten zurück. Jessika hatte ihr Lächeln gegen einen möglichst verwirrten und verängstigten Gesichtsausdruck eingetauscht, es gelang ihr sogar, ein leichtes Zittern in ihre Hände zu zaubern, die verkrampft die Handtasche hielten.
Die beiden Uniformierten interessierten sich nicht für Jessika, die vergewisserten sich nur, dass niemand sonst im Toilettenraum anwesend war. Sie wollten wissen, ob Jessika einen Mann mit Pistole gesehen habe. Sie schüttelte den Kopf. Dann gingen sie wieder hinaus.
Jessika fragte den Wirt, der noch an der Tür zum Gang stand, was das für ein Lärm gewesen sei und warum sie die Toilette nicht verlassen durfte.
»Mama mia, apocalisse« jammerte der vorhin noch so fröhliche Mann, als er Jessika mit einem Wink aufforderte, mit ihm zu kommen. Vor der Tür zur Herrentoilette stand ein weiterer Uniformierter mit gezogener Waffe. Er nickte Jessika nur kurz zu, als sie mit dem Wirt in Richtung Restaurant ging. »Mi dispiace, signora«, murmelte dieser, als er ihr die Tür aufhielt, »assassino, omicidio doloso semplice …«
Im Restaurant wimmelte es von Polizisten. Jessika hatte nicht damit gerechnet, dass die Ordnungskräfte so schnell auftauchen würden, vermutlich lag eine Polizeistation in unmittelbarer Nähe der Taverna dell'Etrusco. Aber beunruhigt war sie nicht. Sie hatte nicht vor, zu bleiben, bis die Waffe gefunden wurde. Sie schaute zu ihrem Tisch am Fenster hinüber.
Der Tisch war leer, keine Spur von Johannes. Keine Spur von den Gläsern und dem Wasserkrug, die der Wirt mit den Speisekarten gebracht hatte.
Sie blickte sich suchend um und fragte dann den immer noch Jammernden, wo ihr Begleiter geblieben sei.
»Che compagno?«
Sie starrte ihn fassungslos an.
»Mi dispisace, signora …«
Jessika beschloss, nicht länger zu verweilen, vermutlich war der Wirt zu sehr durcheinander, um eine klare Antwort auf eine einfache Frage zu geben. Sie trat auf die Straße. Kein Dodge Nitro war zu sehen. Auf dem Platz, an dem Johannes geparkt hatte, stand ein kleiner roter Fiat. Die enge Fahrbahn war von drei Streifenwagen und einer Ambulanz blockiert. Johannes musste vor dem Eintreffen der Polizei weggefahren sein.
Na warte! Mich hier sitzen zu lassen …
Jessika bedauerte jetzt, ihre Waffe zurückgelassen zu haben, aber das Risiko einer Taschenkontrolle war ihr zu groß gewesen. Sie ging zügig auf die nächste Kreuzung zu, aber ohne zu rennen. Auffallen wollte sie niemandem. Zahlreiche Schaulustige hatten sich in der Nähe der Taverna dell'Etrusco versammelt, aber alle Augen waren auf das Lokal gerichtet, niemand schien sie zu beachten. Sie bog um die nächste Straßenecke und atmete auf, als sie ein wartendes Taxi erblickte. Sie kannte sich in diesem Ort nicht aus, aber sie ging davon aus, dass es einen Bahnhof geben musste.
Sie öffnete die Tür und fragte: »Per favore … alla stazione dei treni?«
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Wer mehr über Jessika oder ob sie zum Bahnhof kommt wissen will, darf sich gerne die Lektüre besorgen:
Taschenbuch, 190 Seiten; € 8,83 als gedruckte Ausgabe; € 3,51 als E-Book für den Kindle
ISBN-13: 978-1508936626 / ISBN-10: 1508936625;
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Foto: „Dodge Nitro RT 2.8 CRD“ von Corvettec6r - Eigenes Werk. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.
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