Zum nächsten Ziel unserer Entdeckungsreise in der Soldiner Straße ist es vom fröhlichen Straßenfest nur ein Katzensprung. Wir haben noch runde 40 Minuten Zeit, diese füllen sich für mich mit einem weiteren Gespräch mit einem der Teilnehmer unserer alternativen Stadterkundung. Mit ihm spaziere ich durch die schattigen, aber nichtsdestotrotz heißen Straßen und wir tauschen uns über Probleme aus, die manche Gemeinde mit ihren Mitgliedern hat. Und solche, die manche Mitglieder mit ihrer Gemeinde haben.
Wir schlendern zurück und nun öffnet uns der »
Kinder-Club« in der Soldiner Straße die Tür. Auch dieses Projekt schließt eine Lücke, die durch die Sparmaßnahmen Berlins gerissen wurde.
Carola und Dietmar erzählen uns, was hier von ihnen und anderen ehrenamtlichen Helfern für die Nachbarschaft getan wird. 77% der Kinder im Kiez leben in Familien, die von Sozialhilfe leben. Dass diese Kinder zu Hause keine Spielsachen haben, liegt aber nicht nur daran, dass die Eltern keine kaufen können, sondern auch daran, dass sich mitunter acht Kinder ein einziges Zimmer teilen müssen. Da ist ganz einfach kein Platz für Spielzeug. »Wer kann, zieht weg. Wer das nicht schafft, bleibt. Mit diesem Rest arbeiten wir hier«, sagt Dietmar.
Der Kinder-Club hat ausschließlich Christen als ehrenamtliche Mitarbeiter, aber er ist ein ganz bewusst weltanschaulich neutrales soziales Projekt. Doch das heißt keineswegs, dass das Evangelium ausgesperrt bleiben muss. Beispielsweise hat man die Adventszeit zum Anlass genommen, den Kindern und ihren Eltern zu erklären, warum Christen Weihnachten feiern. Es gibt auch, zusätzlich zu den Öffnungszeiten, einmal wöchentlich eine »Geschichtenzeit«, die dazu dient, aus Büchern Geschichten über Jesus und biblische Geschichten vorzulesen. In vielen Familien gibt es kein einziges Buch, und das Interesse am Vorlesen ist groß. Die Eltern schicken ihre Kinder gerne zu diesen Stunden im Kinderclub. Daneben wird parallel zur Zeit des unbeschwerten Spielens dreimal wöchentlich auch Hausaufgabenhilfe angeboten. Für all diese Dienste an den ärmsten Kindern der Stadt braucht kein Mitarbeiter eine spezielle Ausbildung. Das kann jeder Christ – wenn er nur die Augen nicht von der Not abwendet, sondern sein Herz öffnet und anfängt, etwas zu tun. Während ich Carola und Dietmar zuhöre, kommt mir die Geschichte vom »barmherzigen Samariter« in den Sinn. Man kann entweder die Straßenseite wechseln und den Blick abwenden, oder sich um den Verletzten kümmern.
Vom »Kinder-Club« fahren wir ein paar Stationen mit der Tram zur Schönhauser Allee, wo wir bei italienischen Leckereien und erfrischenden Getränken Andrea treffen, sie ist Leiterin des »
Forum Islam« bei »Gemeinsam für Berlin«. Sie erzählt uns etwas aus ihrem Leben und Herzen. Andrea wohnt mit ihrer Familie in einem Gebiet mit überwiegend türkischem Bevölkerungsanteil von Moslems und Christen – schon das ist eine nicht immer einfache Mischung.
»Es ist im Grunde genommen ganz leicht«, erläutert sie, »die Möglichkeiten aufzuspüren, wo wir wirklich Salz und Licht sein können. Zum Beispiel las ich die Anzeige eines Fitnessclubs für moslemische Frauen. Auch andere Frauen seien willkommen, hieß es da. Und was meint ihr, worüber man beim Sport und der anschließenden Entspannung so alles ins Gespräch kommt.«
Auch Andrea erlebt auf vielfältige Weise, was wir schon am Vorabend in der Josuagemeinde gehört hatten: Wenn die Menschen spüren und erleben, dass wir sie nicht einfangen, zum Glauben oder sonst etwas überreden wollen, wenn sie erleben, dass wir sie so, wie sie sind, annehmen, offen und ehrlich, dann werden Gespräche über unseren Glauben recht bald möglich.
Gerade Moslems haben sehr ähnliche moralische und ethische Werte wie wir. Das Bild, das sie von »den Christen« haben, ist in der Regel völlig verzerrt. Für sie ist Deutschland »christlich«. Sie sehen die Bordelle, die nackten Frauen auf den Zeitschriftentitelblättern, sie sehen Drogenabhängige und erleben fremdenfeindliche Beschimpfungen oder Angriffe. Das sind für diese Menschen »die Christen«. Wen wundert es da noch, dass sie das Christentum erst einmal ablehnen. Wenn wir uns von diesen Menschen abwenden, oft genug angefüllt mit mindestens ebenso vielen Vorurteilen, wie sollen sie dann jemals eine Gelegenheit bekommen, den Unterschied zwischen dem »christlichen Abendland« und dem kennen zu lernen, was die Bibel lehrt?
Der Tag endet für mich mit einem fast eine Stunde währenden Gespräch mit einer jungen Bibelschülerin aus dem Teilnehmerkreis. Wir laufen nämlich etwa 20 Minuten zum nächsten S-Bahnhof, warten dort mehr als 20 Minuten auf dem nächtlichen Bahnsteig auf den richtigen Zug und fahren dann noch ein gehöriges Stück gemeinsamen Weges. Auch dieser Austausch zählt für mich zu den wertvollen Erlebnissen dieses Wochenendes und als sie dann ausgestiegen ist, um mit der U-Bahn zu ihrer Wohnung zu fahren, bin ich sehr tief berührt und Gott dankbar für einen weiteren Gedankenaustausch, der eigentlich unter Menschen, die sich zwei Tage zuvor nicht kannten, gar nicht möglich ist.
Viel Schlaf finde ich nicht während des »Berlin missional« Wochenendes. Aber irgendwie ist das völlig in Ordnung, wer würde schlafen wollen, wenn es so viel zu entdecken gibt! Um 9:00 Uhr am Sonntag treffen wir uns zum Frühstück im Café Rigarös im Bezirk Friedrichshain.
Hier, in der Rigaer Straße, sind wir nun in einem Gebiet gelandet, in dem die Künstler- und Alternativszene zu Hause ist. Hier ist man vor allem »anders«, unterscheidet sich deutlich vom Establishment und meidet alles »Normale«. Das Café ist demgemäß ausgestattet, ein Bartresen mit Armaturen (Messing, massives Messing!) aus dem vorigen Jahrhundert, eine bunt zusammengewürfelte Mischung von Sitzgelegenheiten, nicht ganz fertig gestrichene Wänden wechselnd mit rohem Mauerwerk... eben alles, was hier dazugehört.
Wir frühstücken gemütlich, während wir etwas über die Gemeinde erfahren, die dieses Café betreibt. Es ist die dritte Tochtergemeinde einer
Freikirche in Schöneberg.
Die Gottesdienstzeiten in der Rigaer Straße sind natürlich den Bewohnern ringsum angepasst. Man trifft sich am späten Sonntagnachmittag in Räumen hinter dem Café Rigarös, frei von liturgischen oder sonstigen Zwängen. Außerdem trifft man sich nur vierzehntägig, um Freiräume für Beziehungen zu Freunden außerhalb der Gemeinde zu haben. Aus diesem Beziehungsumfeld sind schon einige dazugekommen. Menschen werden errettet und verändert. Weil sie sich nicht den frommen Formen und Vorstellungen anpassen müssen, sondern etwas vorfinden, wo sie sich sofort wohlfühlen können. Wo sie sich nicht fremd fühlen. Wo sie niemand mit Bekehrungsversuchen überfällt. Wo sie Mensch sein dürfen. So, wie sie eben gerade Mensch sind.
Bevor wir abschließend zu einem gleich im Nebenhaus befindlichen pakistanischen Restaurant wechseln, haben wir nun Gelegenheit, unsere Eindrücke und Empfindungen aus dem Wochenende zu teilen. So höre ich auch noch kurz zusammengefasst, was bei den anderen Touren am Samstag kennen gelernt wurde. Und all das waren ja nur Puzzleteile aus dem gesamten Spektrum dessen, was Christen in Berlin so alles tun können. Harald Sommerfeld öffnet uns abschließend noch einmal sein Herz und erzählt, wie seine Vision von Reich Gottes in der Stadt aussieht. Dass sie an vielen Orten in Berlin bereits Wirklichkeit geworden ist, haben wir mit eigenen Augen gesehen, berührt, geschmeckt.
»Im Vorfeld findet«, berichtet Harald, »sehr viel Gebet statt. Gebet nicht für die eigenen Bedürfnisse, nicht für die eigenen Nöte, nicht für die eigene Versorgung oder die eigene Gemeinde, sondern Gebet für den Kiez, den Bezirk, die Stadt, das Dorf. Gebet, in dem das Herz Gottes für die Menschen gesucht und gefunden wird.«
Dann folgen die ersten Schritte. Kleine Schritte. Schritte, die womöglich unzulänglich scheinen. Auch die Arche in Hellersdorf, in der heute hunderte von Kindern mit Essen und mehr versorgt werden, hat ganz klein angefangen: Mit dem Blick auf die Situation (hier haben Kinder nichts zu essen!) und der Entscheidung: Selbst wenn ich nur ein paar Stullen für sie schmieren kann, dann will ich wenigstens das tun.
Die Ernte kommt viel später. In vielen Fällen sind etliche Jahre der Saat und geduldigen Bewässerung notwendig, bevor überhaupt Frucht sichtbar wird. Man braucht ein ganz erhebliches Maß an Barmherzigkeit, um das durchzuhalten.
Die Perspektive vieler Gemeinden ist: Wie kann es bei uns noch besser laufen? Wir können unsere Räume und Möglichkeiten noch großartiger werden?
Gemeinden, die missional denken und handeln, fragen ganz anders: Was haben die Menschen um uns herum auf dem Herzen? Wo sind Nöte, wo ist Bedarf, und wie können wir dazu beitragen, diese zu lindern? Das geht auf jeden Fall zu Lasten der gemeindlichen Belange. Mitglieder, die sich für ihre Nachbarschaft, für die Menschen rings herum engagieren, haben keine Zeit und oft genug auch kein Geld mehr für gemeindliche Dienste und Projekte. Die Erfahrung zeigt ganz unmissverständlich, dass gemeindliche Dienste manchmal nicht mehr besetzt werden können, wenn die Gemeindebesucher sich ihren Mitmenschen zuwenden. Und das ist für solche Gemeinden völlig in Ordnung. »Der Dienst am Menschen draußen ist genauso Gottesdienst wie der Dienst in gemeindlichen Aufgabenbereichen«, fasst Harald zusammen.
Jesus sagte: Was ich den Vater tun sehe, das tue ich. Gott ist schon da, im Kiez, auf dem Straßenstrich, im moslemischen Fitnessclub, in der Künstlerszene, bei den Reichsten und bei den Ärmsten der Stadt. Wir spüren auf, was er tut und klinken uns ein. Wir bemängeln nicht, dass die Menschen nicht unserem Idealbild entsprechen, sondern wir sagen den Menschen, wer der »unbekannte Gott« ist, für den sie da einen Altar aufgestellt haben (siehe Paulus in Athen, Apostelgeschichte 17).
Niemand muss warten, bis er perfekt ist. Man braucht weder theologisches Studium noch langjährige Bewährung in frommen Formen oder Formeln. Missional leben, das ist keine Mode, kein Rezept. Dafür gibt es weder Kurse noch eine Gebrauchsanweisung. Außer der, die in so vielen Haushalten sowieso vorhanden ist. Ihre Aufschrift lautet: Die Bibel.
Ich bin inspiriert und ermutigt, als wir uns dann das pakistanische Mittagsmahl schmecken lassen. Ich traue mich, ein indisches Bier zu bestellen und bereue meinen Mut keine Sekunde. Das schmeckt ja richtig gut!
Abschließend bleibt mir zu sagen, dass dies ein Wochenende war wie selten eins zuvor. Ich hoffe, dass Harald Sommerfeld dieses Angebot einer ganz und gar alternativen Stadt-Entdeckungsreise wiederholt, damit noch möglichst viele Christen das erleben können, was mir diese etwa 44 zurückliegenden Stunden geschenkt haben: Einen Blick auf das Reich Gottes in der Stadt, das oft genug ganz anders aussieht als erwartet. So anders, dass man es viel zu leicht übersieht.
Vielen Dank, Harald, für dieses Abenteuer!
P.S.: Mehr über Harald Sommerfeld und seine diversen Angebote:
Transformission