Freitag, 21. Oktober 2016

Du musst hier raus ... – Teil 1

Etliche Menschen haben mich gefragt, warum ich meine de facto unkündbare Berufstätigkeit aufgegeben und damit eine schmerzlich spürbare finanzielle Einbuße in Kauf genommen habe. Meine Antwort in vier Worten: Der Klügere gibt nach.

Das würde ich gerne ausführlicher schildern, allerdings gilt eine Verschwiegenheitsverpflichtung bezüglich der Vorgänge und Zustände bei einem Arbeitgeber über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus. Stattdessen will ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nun einfach eine Geschichte erzählen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und wirklichen Orten – Sie ahnen das ja schon – wären rein zufälliger Natur und sind nicht beabsichtigt.

---

Nehmen wir einmal an, es hätte einen Arbeitnehmer namens Johannes Matthäus gegeben, der in einem Industriebetrieb – nennen wir ihn QVL-Werke GmbH & Co. KG (kurz QVL) – als Personalreferent gearbeitet hat. Nehmen wir ferner an, es hätte dort einen Vorgesetzten – nennen wir ihn Herrn Immermüller – gegeben und zwei Mitarbeiterinnen im Personalbüro – nennen wir sie Frau Mosdrich (wie der Mostrich, aber mit d) und Frau Hirte. Und schließlich nehmen wir an, man schriebe den 4. Februar 2013. An diesem Tag kehrt Johannes Matthäus an den Arbeitsplatz zurück, den er runde zwölf Monate zuvor, am 13. März 2012 um 16:03 Uhr, verlassen hatte, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand.

Anfang Februar 2012 war er bereits sechs Tage lang wegen starker Krämpfe und Bauchschmerzen arbeitsunfähig gewesen. Nach einer Untersuchung im Krankenhaus hatte man ihn wieder nach Hause entlassen und Antibiotika verordnet. Es handele sich um eine Entzündung im Darmbereich, eine Divertikulitis, hatte es geheißen. Vier Wochen lang waren die Schmerzen immer wieder aufgetaucht, trotzdem fuhr Johannes Matthäus Tag für Tag ins Büro, denn er machte seine Arbeit gerne. Ab dem 10. März 2012 aber wurden die Beschwerden zu quälend und es kamen Erbrechen sowie ständige Übelkeit hinzu. Sein Zustand verschlimmerte sich dermaßen, dass er schließlich am 13. März abends vom Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Es folgten die Diagnose Darmkrebs, eine Operation, eine Rehabilitation und acht Zyklen Chemotherapie.

Und nun, am 4. Februar 2013, 46 Wochen später, wollte Johannes Matthäus endlich wieder arbeiten. Einen Schritt zurück in die Normalität tun. Er freute sich darauf.

Die Personalabteilung war inzwischen in ein anderes Büro umgezogen und um Frau Hirte, die als Krankheitsvertretung eingestellt worden war, ergänzt worden. Herr Immermüller hatte Johannes Matthäus einmal zu Hause besucht und ihm eine Zeichnung des neuen Büros zukommen lassen, auf der er sich seinen zukünftigen Arbeitsplatz aussuchen hatte dürfen. Doch als er nun an diesem Morgen zum ersten Mal das neue Büro betrat, hatte man ihm den schlechtesten Platz von allen zugewiesen: Mit dem Rücken zum offenen Raum und zur Tür, und – das war das wirklich Schlimme – gegenüber von Frau Hirte, die sich schnell als lichtscheues Wesen entpuppte.

Solange es wirklich dicke, schwere Wolken am Himmel gab, konnten die Jalousien oben bleiben. Doch schon bei Schleierbewölkung, ohne dass die Sonne auch nur hervorlugte, fühlte sich Frau Hirte geblendet und verdunkelte ohne zu fragen den Raum. Wenn Johannes Matthäus protestierte, blieb er ohne Erfolg, denn Frau Mosdrich, früher etwas weniger lichtempfindlich, hatte sich die Lichtfurcht inzwischen angeeignet. Was Frau Mosdrich schon immer ausgezeichnet hatte und geblieben war, war ihre feste Überzeugung, bei der kleinsten Luftbewegung krank werden zu müssen. Daher durfte, wenn ein Fenster gekippt war, auf keinen Fall die Tür offen sein. Tischventilatoren betrachtete sie als Mordwerkzeug. Die ehemalige Kollegin Frau Maladhaus, inzwischen seit ein paar Jahren in Rente, hatte seinerzeit einen Tischventilator unter dem Schreibtisch versteckt gehabt, um bei Sommerhitze wenigstens an den Beinen eine kleine Erleichterung zu verspüren.

So saß also fortan Johannes Matthäus Sommer wie Winter, Herbst wie Frühling im total abgedunkelten Büro, falls nicht schwere Wolken den Himmel verdeckten. Die Sauerstoffzufuhr war minimal, da Frau Mosdrich und Frau Hirte sich einig waren, dass es entweder zu kalt draußen oder zu heiß draußen war. Seinen Tischventilator konnte Johannes Matthäus nur auf niedrigster Geschwindigkeitsstufe laufen lassen, weil sonst die fünf Meter entfernt sitzende Frau Mosdrich wütend und lauthals meckerte, dass sie »im Zug säße« und sich den Tod holen würde.

Und Herr Immermüller? Was tat Herr Immermüller? Nichts.

Johannes Matthäus bat ihn mehrmals, eine andere Sitzordnung durchzusetzen: Die Frauen einander gegenüber auf der einen Seite des Büros, sein Schreibtisch auf der anderen. Dann hätte eine Hälfte des Büros abgedunkelt werden können, die andere bekäme Licht. Dann hätte ein Fenster, weit von Frau Mosdrich entfernt, geöffnet werden können, ohne dass sie einen tödlichen Lufthauch abbekäme. Dann wäre die Arbeitssituation so gewesen, wie ursprünglich beim Besuch des Herrn Immermüller während der Arbeitsunfähigkeit vorgesehen und versprochen. Vor allem aber so, dass Johannes Matthäus längerfristig - trotz der bleibenden Folgen seiner Erkrankung - seine Arbeit hätte tun können.

Er erklärte seinem Vorgesetzten die Auswirkungen des Fatigue Syndroms und wie stark sein Wohlbefinden, seine Leistungsfähigkeit und letztendlich seine Gesundheit von Tageslicht und guter Sauerstoffversorgung abhängig waren. Herr Immermüller, selbst natürlich mit einem Einzelbüro ausgestattet, in dem er lüften und die Helligkeit regeln konnte wie er wollte, hörte sich alles an und versprach: »Ich werde mal sehen, was ich da tun kann.«

Was das bedeutete, wusste Johannes Matthäus allerdings seit Jahren. Herr Immermüller versprach gerne …

---


[Zur Fortsetzung]