Samstag, 2. Februar 2008

Alexanders Löwe

Alexander zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn hinter der Biegung des Weges bernsteinschimmernde Augen anblicken würden. Die ganze Zeit war er allein gewandert, vielleicht hatten ein paar Vögel irgendwo gezwitschert, aber denen schenkte er keine Aufmerksamkeit. Sie gehörten zu den Büschen, den wenigen Bäumen hier und dort, zum wolkenlosen Himmel. Als das Augenpaar in seinen Blickwinkel geriet, blieb er stehen. Ein gewaltiges Tier lag auf dem Weg und rührte sich nicht. Wartete wohl ab, wie Alexander reagieren würde.
Im Zoo hatte er schon Löwen gesehen, in sicherer Entfernung, durch Wassergräben oder Gitterstäbe auf Distanz gehalten. Hier gab es solche Vorkehrungen nicht. Das Raubtier lag zehn Schritte vor ihm, gewaltige Fänge schimmerten in dem halb geöffneten Maul.
Alexander wunderte sich über seine eigene Reaktion. Flucht war zwar der erste Gedanke, doch etwas zog ihn an, als locke der Löwe seine Seele auf unerklärliche Weise. Am liebsten wäre Alexander hingerannt, um sein Gesicht in der gewaltigen Mähne zu bergen.
Ein Rest Vernunft schien ihm immerhin geblieben, denn er rannte nicht. Stattdessen ging er mit leisen, tastenden Schritten vorwärts, die Bernsteinaugen fest im Blick. Zehn Schritte, die zur Ewigkeit zu wachsen schienen. Gedanken halb gedacht: Fliehen – zwecklos – das Tier ist schneller als ich. Fliehen – wozu? Ich will zu ihm. Ich muss zu ihm. Er ist…
Was? Was ist er, der Löwe? Ein Raubtier! Ein Geschöpf, das Hunger haben kann, das Beute für die Löwin und die Jungen braucht.

Doch kein Gedanke konnte etwas daran ändern, dass seine Füße weiter schritten. Er kniete schließlich nieder, seine Hand berührte vorsichtig das Fell und dann drückte er sein Gesicht tatsächlich in die Mähne. Atmete tief den Duft ein, der so ganz anders war, als das, was einem vor zoologischen Raubtiergehegen in die Nase stieg. Würzig. Wild. Anziehend. Stark.
Alexander wurde zum Kind, dem die Gefahren noch nicht die Gefühle verschüttet haben. Er legte sich zum Löwen, kuschelte, umarmte, herzte, streichelte. Hätte es Zuschauer gegeben, sie würden wohl an seinem Geisteszustand gezweifelt haben. Ein ausgewachsenes Mannsbild spielt mit seinem überdimensionierten Kuscheltier – nur ist es kein Löwe aus Stoff und Füllmaterial. Es atmet, leises Knurren dringt ans Ohr – oder ist es die ins Gewaltige gesteigerte Version des Schnurrens einer Sofakatze?
Die Lefzen hoben sich, man konnte meinen, dass der Löwe lächelte. Er legte sich auf die Seite, Alexander spielerisch gefangen zwischen muskulösen Läufen. Die Tatzen hatten Krallen, gewaltige Krallen. Aber sie holten nicht aus, um die Beute zu erlegen, sie schmiegten sich an den Menschenkörper, hielten ihn fest.
Fest.
Sehr fest.
Zu lange.
Zu fest.
Alexander war jetzt sicher, dass er träumte. Anders konnte es gar nicht sein. Nie und nimmer würde er mit einem wilden Tier spielen und kuscheln, das ihm an Kräften so weit überlegen war. Es konnte folglich nur ein Traumgespinst sein, in dem er sich verfangen hatte. Gleich würde er aus dem Klammergriff entlassen in seinem Bett aufwachen und den Kopf schütteln.
Er keuchte, rangt um Atem. Die Tatze lastete noch immer schwer auf seiner Brust. Zu schwer für einen Menschen. Was einem Raubtierkörper angemessen sein mochte, schien nicht für Menschenkörper ausgelegt zu sein. Doch woher sollte ein Löwe wissen, wie schnell die Rippen eines Menschen zu zerbrechen drohen?
Mit letzter Kraft, weil es wohl doch kein Traum war, aus dem es gnädiges Erwachen gegeben hätte, schob Alexander die schwere Pranke von seiner Brust.
Der Löwe ließ ihn los, Alexander konnte wieder atmen. Er schnaufte, er keuchte, er hustete und die Punkte, die vor seinen Augen tanzten, verwehrten noch ein paar Momente lang den Blick auf das Unglaubliche: Der Löwe schrumpfte.
Alexander schloss die Augen, kniff sie zu und riss sie wieder auf. Es blieb dabei. Kleiner und kleiner, bis schließlich ein Plüschtier vor ihm lag. Nicht in der Landschaft, in der er eben noch um Atem ringend unter einer schweren Tatze um sein Leben bangte, sondern auf dem Küchentisch.
Wenn das kein Traum ist, muss ich zum Psychiater. Ich will den Löwen zurückhaben. Was soll ich mit dem Stoffgebilde?
Alexander beschloss, aufzuwachen. Er empfand Enttäuschung, Trauer, Verlust.

Er schlug die Augen auf und starrte an die Zimmerdecke. Zögerlich begann der Tag, nur ein grauer Schimmer drang durch das Fenster. Der erste Vogel draußen ließ ein zaghaftes Zwitschern hören.
Alexander setzte sich auf. Die Brust schmerzte, als hätte er aus dem Traum eine Verletzung mit in die Wirklichkeit getragen. Er holte tief Luft. Die Lungen füllten sich, doch das Atmen verursachte Pein. Als hätte etwas ihm die Rippen eingedrückt.
Er schloss die Augen und legte sich zurück ins weiche Kissen. So einen Unfug habe ich noch nie erlebt. Seit wann bleibt aus Träumen etwas hier im Leben?
Nicht nur der Schmerz war real, auch das Gefühl, etwas Wertvolles verloren zu haben, wollte nicht weichen.
Wenn ich nur noch einmal zurück könnte, ich würde mich nicht wehren, vielleicht würde der Löwe…

…die Pranke selber heben, bevor ich wirklich keine Luft mehr habe? Tatsächlich wich der Druck, bevor aus den tanzenden Punkten vor Alexanders Augen Schwärze werden konnte. Die Pranke hob sich, schwebte zögernd über ihm. Er blickte in die Bernsteinaugen, erleichtert, befreit, und überzeugt, dass dieses Tier ihn hatte lieben wollen.
Ein Hauch aus dem gewaltigen Maul strich über Alexanders Körper, und augenblicklich waren Schmerz samt Atemnot verschwunden.
»Danke, das tut gut«, murmelte Alexander. Jetzt rede ich auch noch mit einem Tier. Gut, dass mich niemand sehen kann.
»Und wenn dich meine Liebe nun erdrücken würde?«
»Das wäre mir -« Es dauerte, bis ihm die Ungeheuerlichkeit ins Traumbewusstsein drang. Er redete nicht nur mit einem Löwen, der Löwe gab ihm auch noch Antwort. Wenn ich das nach dem Aufwachen meiner Simone erzähle, lacht sie sich bunt und scheckig.
»Es kann das Leben kosten, mein Freund zu sein.«
»Ich glaube fast, das wäre mir egal.«
Alexander setzte sich zwischen den Pranken auf. Der Löwenblick war unbeirrt auf seine Augen gerichtet, und nichts daran wirkte feindselig.
»Fast ist nicht gut genug«, entgegnete der König.
König? Wie jetzt, Raubtier, oder? Doch Alexander konnte nicht umhin, von seinem Gesprächspartner so zu denken. König statt Löwe. Oder König und Löwe. Oder König als Löwe?
»Ich will dein Freund sein, koste es, was es wolle.«
»Du wirst nicht mehr der gleiche sein. Mein Freund muss sein wie ich.«
»Muss ich denn sterben, um zu leben?«
»Ich oder ein billiges Abbild aus Plüsch. Meine Kraft oder weicher Stoff zum Kuscheln. Wie ich werden oder mich durch ein Spielzeug ersetzen. Was willst du?«
»Muss ich mich gleich entscheiden?«
Er hörte keine Antwort. Nur ein fernes Geräusch, das er nicht benennen konnte, drang an sein Ohr. Ein hässliches Geräusch, ein Klang aus einer fernen Welt.

Der Wecker bekam einen unsanften Schlag, als Alexander sich schließlich aufsetzte. Simones Augen waren offen, er gab ihr einen Kuss.
»Ich hatte einen Traum…«
»Das glaube ich gerne«, meinte sie, »so wie du dich herumgewälzt und vor dich hin gemurmelt hast.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Ich habe nicht viel verstanden, aber irgendwas von einem Löwen, den du nicht zum Plüschtier machen willst. Weil er sonst alle Kraft verliert. Du hast gesagt, du würdest lieber bei ihm – oder mit ihm – oder für ihn sterben, als ohne ihn leben. Das letzte habe ich nicht recht verstanden.«
Alexander nahm seine Simone fest in die Arme und drückte sie an sich. Fest. Ganz fest.


P.S.: Inspiriert wurde ich zu dieser kleinen Erzählung durch einen Traum und seine Auslegung von Don Ralfo. Danke, Ralf!