Ich weiche einer Gruppe jugendlicher Fahrradfahrer aus, die waghalsig ihren Slalom um die Passanten veranstalten, verfolgt von zwei Hirtenhunden, die fröhlich kläffen. Ich bin fast an der zweigeteilten Brücke, auf der Zoobesucher und Tiergartenspaziergänger getrennt das Wasser überqueren können.
Das hier aber habe ich veröffentlicht:
Harald weicht einer Gruppe jugendlicher Fahrradfahrer aus, die waghalsig ihren Slalom um die Passanten veranstalten, verfolgt von zwei Hirtenhunden, die fröhlich kläffen. Er ist fast an der zweigeteilten Brücke, auf der Zoobesucher und Tiergartenspaziergänger getrennt das Wasser überqueren können.
Die endgültige Version meiner Kurzgeschichte Ein ganz normaler Tag blieb nicht in der Ich-Perspektive, die sie in einem Zwischenstadium gehabt hatte. Nach einigen Experimenten habe ich mich für einen Harald entschieden, anstatt mir selbst in die Hosen zu machen.
Kluge Leser haben es bereits bemerkt: In der kleinen Reihe über das Schreiben geht es heute um die Ich-Erzählung. Diese hat Vor- und Nachteile.
Wer in der ersten Person Singular erzählt, beschränkt sich auf eine einzige Perspektive, es sei denn, er geht das Wagnis ein, von Kapitel zu Kapitel zu wechseln. Das ist ungeheuer schwierig, wenn das Ergebnis lesenswert sein soll; ich würde es mir nicht zutrauen.
Normalerweise wird man also, wenn man als Ich-Erzähler schreibt, Wahrnehmung und Wissen auf das beschränken müssen, was der Protagonist nach menschlichem Ermessen wahrnehmen und wissen kann. Er weiß eben nicht, was der Gesprächspartner für Gedanken hat, ob um die Ecke schon das Unheil lauert oder die große Liebe hereinbrechen wird, was 2 oder 200 Kilometer entfernt gerade vor sich geht. Man ist also, das ist der Nachteil, erheblich eingeschränkt.
Die Ich-Perspektive hat aber auch Vorteile. Die Erzählung wird für den Leser viel persönlicher, es fällt ihm leichter, sich mit den Protagonisten zu freuen, zu fürchten, zu feiern und zu leiden. Einblicke in Gefühlswelten wirken authentischer, subjektives Empfinden glaubhafter. Es entsteht Nähe, Vertrautheit, der Leser identifiziert sich eher mit einem Ich als mit einem Harald oder einer Sophia.
Ein Beispiel dazu, aus einem bisher unveröffentlichten Roman:
Diese Augen. Dieser Strudel des Lebens, der in ihnen wirbelte. Die unendliche Tiefe, in die ihr Blick mich hineinzog. „Fenster der Seele“ hatte mal ein kluger Mensch die Augen des Menschen genannt, aber Angelinas Augen waren mehr. Ich konnte in ihnen versinken. Ich wollte in ihnen versinken. Und wenn ich dort ertrank... konnte es ein angenehmeres Ende des irdischen Daseins geben?
In der dritten Person erzählt fände ich den Einstieg in den Roman weniger wirkungsvoll:
Diese Augen. Dieser Strudel des Lebens, der in ihnen wirbelte. Die unendliche Tiefe, in die ihr Blick ihn hineinzog. „Fenster der Seele“ hatte mal ein kluger Mensch die Augen des Menschen genannt, aber Angelinas Augen waren mehr. Gerhard konnte in ihnen versinken. Er wollte in ihnen versinken. Und wenn er dort ertrank... konnte es ein angenehmeres Ende des irdischen Daseins geben?
Im von mir in dieser Reihe über das Schreiben schon erwähnten Forum wurde letztes Jahr unter anderem die Erzählperspektive diskutiert. Da schrieb jemand:
Ich denke, es kommt darauf an, was ich mit meiner Geschichte ausdrücken will. Will ich den Leser ganz nah an den Protagonisten heranführen, ihn fühlen lassen, was er fühlt, ist zweifelsohne die Ich-Perspektive sehr klug.
Sehr richtig. In dem Roman, aus dem ich oben zitiert habe, will ich meinen zukünftigen Leser durch eine Bandbreite von Empfindungen führen, und zwar so, dass er (als Mann) Angelina genauso liebt wie Gerhard, beziehungsweise als Leserin sich einen Gerhard wünscht, der so empfindsam in die Seele einer Frau zu blicken vermag.
Es gibt jedoch eine Gefahr: Schlichte Gemüter unter den Lesern verwechseln den Protagonisten schnell mit dem Autor - eine für diesen nicht immer angenehme oder wünschenswerte Schlussfolgerung. Wenn jemand liest...
Mir fiel nur die blödeste Anmache ein, die es gibt. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“, rief ich hinüber. Sie würdigte mich keines Blickes, ignorierte mein Angebot und meine Anwesenheit. Die Musik war nicht so laut, dass sie mich nicht gehört hatte. Es war offenbar viel interessanter, die Rücklichter des vor ihr schleichenden Opel zu betrachten.
„Bitte, oder haben Sie keine Zeit?“, versuchte ich es erneut.
„Komm, steig ein“, meinte sie mit einem kurzen Blick, der mich frösteln ließ. Lodernder Hass und Wut funkelten mir aus ihren großen Augen entgegen, aber ich folgte ihrer Aufforderung und stieg ein. Das war so einfach nicht, da sie die Fahrt kein bisschen für mich verlangsamte. Etwas unbeholfen plumpste ich auf den Sitz und zog die Tür wieder zu. „Danke“, sagte ich. Höflichkeit ist der wirkliche Adel eines Menschen, pflegte meine Mutter mir schon als Kind einzutrichtern.
...dann könnte eine kleine Zahl von Lesern mich für jemanden halten, der fremde Frauen anspricht, wenn sie Augen haben, in deren Strudel ich versinken möchte. Man könnte mir, denn in dem Roman wird auch allerlei Ungutes passieren, unterstellen, dass ich in ähnliche Begebenheiten verstrickt sei. Natürlich ist das Unfug. Und die meisten Leser wissen durchaus zu trennen zwischen einem Autor und seinen Figuren. Mit solchen Reaktion muss aber eher rechnen, wer in der ersten Person erzählt.
Ich empfehle Schreibwilligen, beides auszuprobieren, sich nicht auf eine Form zu beschränken. Wie gesagt, Ein ganz normaler Tag hat gegen Ende des Entstehens die Perspektive gewechselt. Es war mir als Ich-Erzähler unmöglich, das Ausmaß des Grauens zu schildern, das die Berliner Innenstadt heimsucht. Mit Angelina (Arbeitstitel) war es umgekehrt. Schon beim Schreiben der ersten Kapitel bemerkte ich, wie sehr diese Frau es verdient, dass der Erzähler seine Leser ganz persönlich miterleben lässt, in welche ungeahnten Welten sie zu führen vermag.
Der Tipp für heute: Die Perspektive wählen, mit der man sich beim Erzählen selbst am besten in die Situation hineinfindet. Dann wird es für den Leser am ehesten nachvollziehbar.