Dienstag, 24. Juni 2014

Nicht wörtlich sondern ernst

Kürzlich habe ich unter der Überschrift »Von Angstabbau und Schuldabweisung« exemplarisch mein im Verlauf von vielen Jahren gewandeltes Verständnis der Bibel kurz angerissen. Vielleicht zu kurz? Jemand hielt den Beitrag diesbezüglich für missverständlich. Es klänge, meinte er, als würde ich mich zum Juror erheben der entscheidet, was in der Bibel gilt und was ungültig ist, als würde ich eine Art Zensur anwenden wollen.

In dem angesprochenen Artikel ging es um ein anderes Thema, nämlich darum, wie man schädliche Schuld- und Angstgefühle loswerden kann. Mein Bibelverständnis diente lediglich als Beispiel, wie in der Kindheit und Jugend eingeimpfte Ängste aufgespürt und entsorgt werden können. Dennoch will ich hier an zwei Beispielen ein wenig genauer erklären, was ich meinte und meine, denn manche Zeitgenossen halten die Bibel für ein Märchenbuch und lesen nie darin. Das ist schade, denn auch für jemanden, der das Denken nicht ausschaltet, kann das Buch eine ganze Menge Inspiration und Gedankenanstöße bewirken, wenn man die Lektüre ernst statt wörtlich nimmt. Eigentlich nur dann.

1. Wo kommt denn jetzt die Schlange her?

In den ersten Kapiteln der uns als Bibel überlieferten Schriften lesen wir von der Erschaffung des Lebens.

… Und Gott machte die Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art und alles Gewürm des Erdbodens nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. -1. Mose 1, 25 / Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag. -1. Mose 1, 31 …

Gott sah und bestätigte diesem Text zufolge, dass seine Schöpfung gut war. Nicht beinahe gut, auch nicht gut mit einer Ausnahme, sondern sogar sehr gut.

Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? -1. Mose 3, 1

Da muss man sich doch fragen: Wo kommt denn in einer guten, einer sehr guten Schöpfung plötzlich so ein aufmüpfiges Tier her? Dass es zu sprechen vermag sei dahingestellt, es gibt auch einen sprechenden Esel in der Bibel, aber steht diese List, dieser Wunsch, die Frau und damit auch den Mann zu verführen, im Einklang mit dem von Gott persönlich bestätigten »sehr gut«?

Wohl eher nicht, denn was gut ist, muss ja nicht geahndet werden. Doch die Strafe erfolgt kurz darauf.

Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. -1. Mose 3, 14

Wenn man schon diese ersten Kapitel der Bibel wörtlich nehmen möchte, muss man zwangsläufig einiges hinzu dichten oder weglassen. Dann war es entweder Gottes Absicht und »sehr gut«, dass die Schlange ihr Verführungsunternehmen durchführte, oder uns fehlt der Teil des Schöpfungsberichtes, in dem erzählt wird, wie aus der »sehr guten« Schlange eine weniger gute Schlange geworden ist. Dann allerdings bleibt die Frage offen, was denn dieses »gefallene« Wesen in dem Garten mit den völlig arglosen, weil nur an eine »sehr gute« Welt gewöhnten, Menschen zu suchen hatte.

Michelangelo_SündenfallIch nehme diese Schöpfungserzählungen natürlich nicht wörtlich. Aber ich nehme sie ernst. Und zwar als erzählerische Darstellung, die ins Gedächtnis rufen soll, wie leicht der Mensch verführbar ist durch Machtgelüste, Gewinnstreben und Karrieredenken. Es ging ja Eva und Adam nicht darum, gegen irgendein Gebot zu verstoßen, sondern darum, eine höhere Stellung einzunehmen, Wissen und sogar Weisheit zu erlangen:

Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. -1. Mose 3, 5

Nichts anderes hatte die Schlange versprochen, und daran, dass man zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermag, ist ja an und für sich nichts verkehrt.

Es drängt sich auch die Frage auf, was die beiden »verbotenen« Bäume überhaupt im »sehr guten« Garten zu suchen hatten. Standen sie nur da, um den Gehorsam des Menschen auf die Probe zu stellen? Wozu war das notwendig, wenn doch auch der Mensch, »sehr gut« war? Waren Gott Zweifel gekommen, ob seine Einschätzung »sehr gut« vielleicht doch nicht richtig war? Oder wollte er sich selbst beweisen, dass die beiden Menschen ihm mehr gehorchen würden als dem Streben nach Wissen? Wenn ja, wozu war das nötig?

Nach dem exegetischen Kommentar von Andreas Schüle ist der Sinn der beiden Bäume in der einen Mitte des Gartens, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, „ein letztlich nicht lösbares Rätsel.“ Bei den Kirchenvätern und in der mittelalterlichen Mystik stehen beide Bäume für die zwei Seiten der Wirklichkeit: Himmel und Welt, das Unsichtbare und das Sichtbare (vgl. Kol 1,15–16 EU), das „Männliche“ und das „Weibliche“, auch Gnade und sakramentale „Materie“ sowie geistig-geistliche und „buchstäbliche“ Exegese. -Wikipedia

Man kann die Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte natürlich auf vielfältige Weise interpretieren. Manche sehen ein Gleichnis zur Beschreibung des Wechsels vom Jäger und Sammler, andere ziehen den Schluss: Der Preis der Erkenntnis und Innovation sind die Mühen der Arbeit.

Wie auch immer – wörtlich, so wie wir die Erzählungen in der Bibel vorfinden, kann ich und will ich das nicht verstehen.

2. Wer hat damals eigentlich mitgeschrieben?

Es gibt im englischsprachigen Raum die sogenannte Red-Letter-Bible. Da sind alle wörtlichen Reden Jesu in roter Schrift zu finden. Für Menschen, die an den buchstäblich authentischen Originalton der biblischen Texte glauben möchten, ist das eine feine Sache, denn so sehen sie gleich, was unser Erlöser selbst gesagt und gelehrt hat.

Einmal abgesehen von der Frage, welche der zahllosen Übersetzungen und Übertragungen in die jeweilige Landessprache über einen Zeitraum von so vielen Jahrhunderten denn nun verbindlich sein soll, muss man sich auch eine Antwort darauf zurecht legen, wer denn damals als Stenograph mitgeschrieben hat. MP3-Diktiergeräte oder Tonbänder gab es noch nicht.

Selbst in den synoptischen Evangelien gibt es deutliche Abweichungen in der Schilderung des jeweils gleichen Ereignisses. Das ist aus meiner Sicht weder zu tadeln, noch verwunderlich. Die ältesten bekannten Aufzeichnungen, uns als Markus-Evangelium überliefert, sind vermutlich so um das Jahr 70-90 nach Christus aufgeschrieben worden; dass da aufgrund der mündlichen Überlieferung keine 1:1-Dokumentation entstehen konnte, ist völlig einsichtig. Die anderen Evangelien sind später verfasst worden. Das Matthäusevangelium wurde anhand der Markus-Vorlage etwa zehn Jahre später geschrieben, zwanzig Jahre danach wurde dann das Lukasevangelium verfasst, in den bereits die Naherwartung der Wiederkunft Jesu nicht mehr zu finden. Sie wurde durch den Gedanken ersetzt, dass die wachsende Gemeinde das Reich Gottes ausbreitet.

Das Johannes-Evangelium, Anfang des 2. Jahrhunderts entstanden, unterscheidet sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in Form und Sprache so deutlich von den anderen dreien, dass man davon ausgehen kann, der Verfasser habe die synoptischen Versionen entweder nicht gekannt oder sich bewusst von ihnen abgesetzt.

Keiner der Autoren des Neuen Testamentes im biblischen Kanon war Augenzeuge oder gar Begleiter des Jesus aus Nazareth gewesen – und niemand saß mit einem Diktiergerät oder Steno-Block bei der Bergpredigt neben Jesus, um den ellenlangen Text mitzuschneiden.

Das Thomasevangelium, das Petrusevangelium, das Judasevangelium, das Evangelium der Wahrheit und das Philippusevangelium wurden in der ersten Gemeinde noch in den Gottesdiensten und im Unterricht gelesen, aber sie wichen inhaltlich zum Teil so deutlich von den uns überlieferten vier Versionen ab, dass die Kirchenfürsten sie aus dem Kanon ausschlossen. Man hatte (und hat in manchen Kirchen noch heute) Angst davor, dass die Schäfchen den Stall verlassen könnten, wenn sie »ketzerische« Gedanken zu Gesicht bekämen. Ein eigenes Urteilsvermögen (oder gar Leitung durch den Heiligen Geist) trauten die katholischen Kirchenväter dem Volk nicht zu. Heute sind uns von diesen Schriften, die zum Teil sogar älter sind als das, was wir im Neuen Testament lesen, leider nur Fragmente überliefert.

Und was heißt das nun?

Ich kann und will und werde nur für mich reden: Die Bibel gewinnt an Bedeutung und Wert, wenn ich sie nicht wörtlich, sondern ernst nehme. Dann kann ich sie nämlich lesen, ohne mir das Denken verbieten zu müssen. Ich glaube nicht an ein Buch, sondern an einen Gott, über den in diesem Buch vieles zu lesen und zu erfahren ist. Aus dem, was ich lese, kann ich eine Vorstellung gewinnen, wer und wie Gott sein mag. Dass ich ihn jemals wirklich verstehen und meine Vorstellung akkurat sein könnte, halte ich für ausgeschlossen.

Wenn es tatsächlich so wäre, dass Christsein nur dann möglich ist, wenn man die Bibel erstens kennt und zweitens wörtlich versteht und befolgt, dann hätte es rund 1.800 Jahre, nämlich bis zur Erfindung des Buchdrucks, der Übersetzung in die entsprechenden Landessprachen und schließlich der massenhaften Verbreitung durch sinkende Druckkosten keine Christen gegeben. Niemand vom normalen Volk hatte über Jahrhunderte die Chance, eine Bibel zu lesen und wörtlich zu interpretieren. Es blieb den Christen nichts anderes übrig, als der Kirche zu glauben, dass dieses und jenes »Wort Gottes« sei.

Als im Jahr 400 nach Christus der biblische Kanon zusammengestellt wurde, herrschte bereits Uneinigkeit, welche Texte in die Heilige Schrift gehören sollten. Daher haben wir bis heute eine katholische, eine orthodoxe und eine lutherische Version dessen, was als »Wort Gottes« zählt – abgesehen von den zum Teil sehr von einander abweichenden Übersetzungen. Welche davon und in welcher Sprache nun wirklich das wortwörtliche Wort Gottes darstellt, können auch diejenigen nicht beantworten, die an die wörtliche Inspiration der Heiligen Schrift durch den Heiligen Geist glauben. Die wenigsten von uns können Griechisch oder Hebräisch oder Latein.

Dem einen mögen die Clemensbriefe wichtiger sein als der Hebräerbrief, der andere würde lieber auf die Offenbarung des Johannes verzichten als auf seinen Hirten des Hermas. Ich finde, das macht gar nichts. Ich kann mit den Schriften, die etwa ab dem Jahr 150 unter dem Namen Paulus verfasst wurden, wenig anfangen, mit dem Evangelium nach Johannes dagegen eine Menge. Das mindert aber doch nicht den Wert des Römerbriefes für andere Leser!

Was sollen wir nun hierzu sagen? –Paulus

Stelle ich mich also quasi als Richter »über die Bibel«, entscheide ich eigenmächtig, was gilt und was nicht gilt? Für Menschen, die an das wortwörtliche Bibelverständnis glauben möchten, kann sicherlich ein solcher Eindruck entstehen – obwohl auch diese Menschen in der Regel sehr wohl aussieben, was ihnen nicht zusagt. Keiner reißt sich ein Auge aus, weil es ihn »geärgert« hat oder hackt sich eine Hand ab, weil sie ihn zur Sünde verführt. Keiner wirft eine Frau aus der Gemeinde, weil sie ihr Haupt nicht bedeckt oder Schmuck trägt. Hoffe ich zumindest.

Aber ich habe nicht die Absicht, anderen Menschen vorzuschreiben was und wie sie glauben oder nicht glauben sollen. Wenn ich berichte, wie ich dieses oder jenes verstehe, dann heißt das nicht, dass meine Leser sich meiner Interpretation anschließen sollen. Ich traue es jedem zu, selbst zu denken und ich bin niemandes Lehrer; Theologe bin ich schon gar nicht.

Vielleicht gerät jemand ins Nachdenken – das ist ja nie verkehrt. Vielleicht sieht jemand bisher unbeachtete Aspekte – das ist doch bereichernd.

Wenn jemand meine Sicht nicht teilen mag, dann muss er das natürlich nicht tun. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das unbedingt zu verteidigen ist.

Quellen

  • - Entstehungsgeschichte des NT und Deutungsversuche der beiden Bäume im Paradies: Wikipedia
  • - Bild: Michelangelo via WikiCommons

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