Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit ist ein köstliches Geschenk, nicht die Sterblichkeit allein, die wir mit den Molchen teilen, sondern unser Bewusstsein davon. Das macht unser Dasein erst menschlich. -Max Frisch, TagebuchWas gibt es nicht alles für schlaue, weniger schlaue und ziemlich dumme Sprüche und Aphorismen über das Sterben und den Tod. Es lässt sich ja auch ziemlich leicht über etwas schwadronieren, was weit weg zu sein scheint. Ganz anders sieht es aus, wenn das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit nicht eine ferne Theorie ist, sondern zu einer Tatsache wird, die unerwartet nah sein könnte.
Ich weiß nicht, wie viele Jahre mir auf dieser Welt noch bleiben. Ich hoffe und wünsche mir, dass es sehr viele sind. Aber ich komme nun auch nicht mehr an den Fakten vorbei, dass es für Darmkrebspatienten, auch wenn der Tumor operativ vollständig entfernt wurde, ein von Statistik zu Statistik unterschiedlich hohes Risiko einer erneuten Krebserkrankung gibt. Nur derjenige, der die ersten fünf Jahre nach der Operation ohne erneutes Auftreten von Krebs übersteht, hat relativ gute Chancen, wirklich geheilt zu sein.
Es wurde bei meiner Operation – soweit ich das, was die Ärzte erklärten und was ich am Befund selbst entziffern kann – sämtliches vom Krebs befallene Gewebe entfernt. Restlos. Keine Metastasen, keine weiteren Tumore sind im Körper verblieben. So weit, so gut.
Jedoch kann es sein, so die Mediziner, dass einzelne Krebszellen, die mikroskopisch nicht festzustellen sind, irgendwo verblieben sind. Verblieben sein könnten. Möglicherweise, vielleicht, unter Umständen … feststellen kann man das schlicht und einfach nicht. Daher ist die Standardprozedur (mir sagte man im Krankenhaus: »Das macht man eben so.«) eine »adjuvante Chemotherapie«. Dabei wird der Körper auf Verdacht hin, dass es womöglich irgendwo solch eine oder mehrere Zellen geben könnte, über sechs Monate mit starkem Gift »beschossen«.
Die Nebenwirkungen sind unstrittig, die habe ich auch schwarz auf weiß vom Krankenhaus mit nach Hause bekommen. Sie treten unabhängig voneinander auf und können ganz ausbleiben oder in verschiedener Stärke (von mild bis tödlich) auftreten: Veränderungen im Knochenmark führen zu Blutbildveränderungen, daher erhöhte Anfälligkeit für Infektionen; Übelkeit und Erbrechen; Appetitlosigkeit; Erschöpfung; Haarausfall; Schleimhautentzündungen; ein paar weitere Nebenwirkungen gibt es auch noch.
Strittig ist der Erfolg. Laut einer Untersuchung in Australien und den USA aus dem Jahr 2005 wird der Gesamtbeitrag adjuvant angewandter zytotoxischer Chemotherapien zur Fünf-Jahres-Überlebensrate bei Erwachsenen auf 2,3 % in Australien und 2,1 % in den USA geschätzt. Der Facharzt im Klinikum Steglitz, der mich vor der Entlassung noch aufsuchte, um mir die adjuvante Chemotherapie zu empfehlen, behauptete, dass eine Verbesserung um 10 bis 15 % möglich sei.
Über die mittel- und langfristigen Schäden, die eine solche Chemotherapie auslöst, gibt es schlicht und ergreifend noch keinerlei verlässliche medizinische Forschungsergebnisse. Dazu ist das Prozedere noch zu neu.
Und nun? Nun sitze, stehe und liege ich da und weiß nicht, was richtig und was falsch ist. Natürlich möchte ich alles tun, um meine Jahre auf der Erde zu verlängern, nichts versäumen, was womöglich positive Wirkung hätte. Aber alles in mir sträubt sich gegen den Gedanken, in die adjuvante Chemotherapie einzuwilligen.
Das Leben verlängern oder verkürzen mit einer einzigen Entscheidung – um nichts weniger könnte es gehen. Muss nicht sein, könnte aber sein. Das ist kein angenehmer Zustand.
Ein wenig Zeit bleibt ja noch. Am Donnerstag beginnt meine ambulante Rehabilitation; vor Ort stehen mir dann – so die Ankündigung – auch Fachärzte zur Verfügung, mit denen ich über die Histologie und das weitere Vorgehen sprechen kann. Und am Dienstag der kommenden Woche habe ich einen Termin bei einer onkologischen Praxis zur Beratung über den gleichen Sachverhalt. So werde ich zumindest zweierlei von einander unabhängige Meinungen zu hören bekommen.
Am liebsten hätte ich so eine Schrift an der Wohnzimmerwand nach biblischem Vorbild des Menetekel: »Mach die Chemotherapie.« oder »Lass das bloß sein!«. Aber man bekommt ja selten das, was man am liebsten hätte …
.