So. Nun die Fortsetzung. Ein vierter Teil folgt dann morgen. Wenn jemand Teil 1 und Teil 2 noch nicht gelesen hat, empfiehlt es sich, das vor dem Lesen von Teil 3 nachzuholen. Bittesehr: [Teil 1] [Teil 2]
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Die Saat
Es dauerte dann noch sechs lange Monate, bis Renate endlich wusste, ob der Mann tatsächlich oder nur im Traum ihr Gefährte geworden war.
Sie träumte das erste Mal von ihm, als die Saat in einem Tonschälchen aufging, als sich zarte grüne Spitzen dem Licht entgegenstreckten. Sie träumte, dass sie in ihrem Verkaufsraum stand, eine frische Ananasblüte in der Hand, um sie in die Vitrine zu stellen. Dabei dachte sie, dass der Kunde mit dem Koffer an diesem Exemplar seine Freude haben würde.
Die Türe öffnete sich und er betrat mit einem zufriedenen Lächeln auf den Zügen das Geschäft. In der Hand trug er wieder den Hut, in der anderen hielt er eine Blume, die Renate unbekannt war, und das wollte etwas heißen.
»Guten Morgen«, grüßte er höflich, »lassen sie die Ananas ruhig gleich auf dem Tisch, ich nehme sie.«
»Guten Morgen, mein Herr. Ich freue mich sehr, Sie wieder zu sehen. Es ist lange her.«
»Neun Monate und vier Tage.«
»So genau wissen Sie das?«
»Sie etwa nicht, Renate?«
»Doch, ja. Ich werde nie vergessen, was ich empfand, als ich den Inhalt des Koffers studierte. Darf ich Sie, Herr – äh ...«
»Peter. Nennen Sie mich einfach Peter.«
»Gut, also, darf ich Sie, Peter, fragen, woher Sie den Koffer beziehungsweise den Inhalt hatten?«
»Sie dürfen fragen, aber die Antwort werden Sie mir kaum glauben. Ich habe die Samen selbst gesammelt und eingenäht.«
»Und woher hatten Sie das Dokument?«
»Selbst geschrieben. Ich gebe zu, es ist viel Zeit vergangen, ich hatte es zusammen mit der Saat gut verwahrt, bis ich die richtige Erbin gefunden hatte.«
»Sie machen Witze, Peter.«
Er schmunzelte und betrachtete aufmerksam die Ananasblüte. Dann zuckte er mit den Schultern und erklärte ruhig: »Ich wusste doch, dass Sie mir nicht glauben. Aber würden Sie mir wohl diese Blüte überlassen? Zu einem fairen Preis?«
»Ich schenke sie Ihnen. Der Koffer war viel mehr wert als das, was Sie bekommen haben.«
»Irren Sie sich nur nicht. Ich habe mehr bekommen, als es schien. Und ich bitte um Ihr Verständnis: Geschenke nehme ich nicht an. Ich biete Ihnen diese Blume zum Tausch.«
Behutsam stellte er die Pflanze auf die samtene Unterlage. Das Gewächs wirkte wie aus einer anderen Welt. Die Blütenblätter waren so dünn, dass man hindurchsehen konnte. Ein elfenbeinfarbenes Gewebe, im Licht der frühen Sonne schimmernd wie Seide. Eine einzige Blüte tronte auf einem Halm, den spiralförmig feingefächerte Blätter umgaben, die von einem tiefen Grün zu den Spitzen hin in ein wohltuendes Blau überblendeten. Ein Blatt war abgebrochen, an der Bruchstelle war ein winziger Tropfen zu sehen, rot, wie Blut, dachte Renate, es sieht aus wie Blut.
»Es ist Blut, wenn Sie so wollen, denn was ist der Lebenssaft einer Pflanze anderes als der, der im menschlichen oder tierischen Körper pulsiert?«
Renate bemerkte gar nicht, dass Peter auf etwas geantwortet hatte, was sie nur gedacht, aber nicht gesagt hatte. Sie war fasziniert und gefangen genommen von der überirdischen Schönheit der Blüte, des Stieles und der Blätter.
»Woher stammt dieses Gewächs? Wie heißt es?« fragte sie fast flüsternd, andächtig in den Anblick versunken.
»Es stammt aus einem großen Garten, wo es noch viele davon gibt. Es heißt Lebenskraft. Ich finde, das ist ein passender Name.«
Sie beugte sich hinab und atmete den schwachen Duft ein, wie lieblich und wohltuend war er, so unverwechselbar, so überirdisch wie die ganze zarte Pflanze.
Dann war Renate in ihrem Bett aufgewacht. Sie starrte einige Minute an die Decke und meinte, noch immer den Duft der Lebenskraft wahrnehmen zu können. Aber sie lag in ihrem Bett, es gab keine Blume. Als sie in ihrem Geschäft war, stellte sie eine frische Ananasblüte in die Vitrine. Doch niemand kam durch die Ladentür.
Je größer die Pflanzen aus dem Garten des Teufels gediehen, und jedes einzelne der ausgesäten Samenkörner ging auf, jede einzelne Pflanze entwickelte sich kräftig und gesund, desto öfter und intensiver träumte Renate von Peter. In ihren Träumen lud er sie ein, ihn zu besuchen, sie folgte ihm in eine Villa, die äußerlich unscheinbar wirkte, im Inneren jedoch unvergleichliche Schätze barg, Kleinode aus aller Welt, herrliche Gemälde, eine Bibliothek mit unzähligen handgeschriebenen Werken, darunter mehrere Bibeln sowie zahlreiche theologische Werke, die laut Peter aus einem Kloster stammten, von dem die meisten Menschen, die den erfolgreichen Roman eines italienischen Philosophen und Schriftstellers über dieses Kloster gelesen hatten, annahmen, dass die gesamte Bibliothek mit dem Kloster abgebrannt sei.
»Sprichst du von Umberto Eco? Der Name der Rose?«
Peter nickte versonnen. »Ja, und dies hier sind die kostbarsten Bände aus jenem Kloster. Nicht alles ist verbrannt, einiges wurde vor dem Feuer in Sicherheit gebracht.«
Renate machte sich nichts daraus, dass in einem Traum Bücher und Schauplätze aus einem Roman real waren, denn in Träumen nimmt man alles hin, was geboten wird.
Renate verfiel ihrem Peter mehr und mehr. Sie duzten sich längst, häufige Berührungen blieben nicht aus. Allerdings schliefen sie nicht miteinander in diesen Träumen, so sehr sich Renate auch danach sehnte. Peter brach liebevoll, aber entschieden jede Umarmung ab, aus der mehr werden konnte. »Später«, meinte er dann, »wenn wir vereint sind. Später.«
Den ganzen Tag wartete sie nur darauf, dass es endlich Abend wurde, dass sie endlich ihr Tagewerk beenden und ins Bett gehen, träumen konnte.
Mit dem Gedeihen der Saat aus dem Koffer gediehen ihre Träume, wurden realistischer, langsam und unmerklich schwand die Realität und wurde zum Traum, während die Träume zur Realität wurden. Renate wusste gelegentlich nicht, ob sie wachte oder träumte.
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Fortsetzung folgt.