Ausführliche Beratung und Information durch Fachleute ist wohl so gut wie überall wertvoller als »Gefühle« oder das, was irgend jemand irgend wo vom Hörensagen aufgeschnappt hat. Je scherwiegender das Problem, vor dem jemand steht, desto wichtiger dürfte auch der Rat und die Hilfe von denjenigen sein, die durch Studium und langjährige Erfahrung wirklich etwas Substantielles zu sagen haben.
Ich musste mich entscheiden: Adjuvante Chemotherapie oder nicht? Ein weiteres Abwarten und Hinausschieben wäre auch eine Entscheidung gewesen, und zwar gegen eine Therapie. Die ist nämlich nur sinnvoll, wenn sie innerhalb von 4 bis höchstens 8 Wochen nach der Operation startet.
Die beste aller Ehefrauen ist ja nicht weniger als ich betroffen von dem was mit mir geschieht oder nicht geschieht, und es fiel uns beiden nicht leicht, all das Für und Wider abzuwägen, zumal die Fachliteratur auch nicht immer so ganz eindeutig ist – mit gutem Grund, wie die Ärzte erklären: Jeder Mensch reagiert ganz individuell, alle Statistiken und Erfahrungswerte können höchstens aussagen, was in der Mehrzahl der Fälle passiert oder nicht geschieht – aber nie und nimmer würde ein seriöser Mediziner eine Voraussage treffen, was dem einzelnen Patienten bevorsteht oder wie dessen Krebserkrankung sich weiter verhalten wird.
Wir hatten letztendlich als Für an Erkenntnis:
- Ein nicht zu bemessender Prozentsatz von Patienten, die sich einer adjuvanten Chemotherapie unterziehen, tun dies insofern vergeblich, als in ihrem Körper (nach der gelungenen Operation) gar keine einzelnen Krebszellen unterwegs sind. Es ist schlicht und einfach nicht feststellbar, ob oder ob nicht.
Je nach statistischem Modell verbessern sich für Patienten, in deren Körper Krebszellen herumgeistern, die Chancen auf Heilung vom Krebs um 10 bis 15, nach anderen Berechnungsmodellen 3 bis 5 Prozent. Da niemand jedoch im Nachhinein feststellen kann, ob solche Krebszellen unterwegs waren oder nicht, sind all die Zahlenspiele wirklich nicht verlässlich. Sicher ist nur, dass in manchen Fällen die Chemotherapie ein Wiederauftreten der Krebserkrankung verhindert.
Als Wider blieben diese Punkte stehen:
- Die bei der Chemotherapie über 24 Wochen eingesetzten Giftstoffe wirken auf alle Zellen ein, die sich gerade teilen, nicht nur auf Krebszellen. Also werden immer und unausweichlich blutbildende Zellen im Knochenmark, in den Schleimhäuten und in den Haarwurzeln vernichtet.
- Durch die Wirkung auf das Knochenmark wird das körpereigene Immunsystem ausgeschaltet. Die Anfälligkeit für Infektionen steigt erheblich, schon ein simpler Husten oder Schnupfen kann tödlich enden, wenn nicht rechtzeitig und vehement mit Medikamenten gegengesteuert wird.
- Die Chemikalien schädigen zwangsläufig das Nervensystem. Bei den für mich vorgesehenen Wirkstoffen heißt das mit 99%iger Sicherheit: Es kommt zu übersteigerter Kälteempfindlichkeit, schon der Griff in den Kühlschrank nach der Milchpackung kann solche Schmerzen verursachen, dass es unmöglich wird, etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen. Auch herbstliche oder winterliche Witterung verursacht allerstärkste Schmerzen. Innerhalb von 12 Monaten nach der Chemotherapie verschwindet diese Schädigung aber so gut wie in allen Fällen wieder.
- Zu den nervenschäden, die nicht vermieden werden können, gehört auch (je nach Patient unterschiedlich stark) das Hand-Fuß-Syndrom. Vom Kribbeln in den Händen und Füßen bis zur Taubheit ist alles möglich. Je nach Intensität wird das Gehen und das Hantieren mit Gegenständen erschwert.
- Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen treten ebenfalls zwangsläufig ein, man kann allerdings mit Medikamenten gegensteuern. Es mag einiges an Geduld brauchen, bis die richtige Mischung von Gegenwirkstoffen gefunden ist … aber dann sollte Übelkeit so gut wie nicht mehr auftreten.
- Nicht unbedingt auftreten müssen Nebenwirkungen im Verdauungstrakt vom Mund bis zum Enddarm, es kann zu Entzündungen kommen, zu Durchfall oder Verstopfung bis zum Darmverschluss … aber das kann mir auch erspart bleiben, hier liegen die Chancen wohl bei 50 Prozent.
- Haarausfall ist möglich, muss aber nicht oder nicht vollständig auftreten.
- Die Erektionsfähigkeit geht mit größter Wahrscheinlichkeit für die Dauer der Behandlung verloren, die Libido verschwindet, Samenbildung findet nicht statt (letzteres ist nun wirklich in meinem Fall unerheblich). Nach Abschluss der Therapie normalisiert sich das sexuelle Vermögen des Patienten meist wieder.
- Schließlich haben die Mediziner noch zu bedenken gegeben: Schäden am Lymphsystem, der Leber, der Lunge, dem Herzen und den Nieren sind nicht auszuschließen. Ebenfalls ist nicht auszuschließen, dass eine Chemotherapie Krebs begünstigt oder gar auslöst, zum Beispiel Leukämie.
Die Kopfentscheidung sieht nun so aus:
- Ich willige in die Chemotherapie ein, denn ich will trotz der erheblichen Risiken und Nebenwirkungen nichts unversucht lassen, was einem Wiederauftreten der Krebserkrankung entgegenwirken könnte. Sechs Monate Chemotherapie sehen unendlich lang aus, aber sie könnten mir und uns – unter Umständen – keiner weiß es allerdings – einige oder viele Lebensjahre schenken.
Es entscheidet in diesem Fall der Kopf, nicht der Bauch oder das Herz. Ich habe Angst vor den Monaten, die vor mir und uns liegen. Aber ich will mir auch nicht in drei oder vier Jahren sagen müssen: Hättest du damals …
Die Behandlung beginnt voraussichtlich in der kommenden Woche. Der Termin steht noch nicht fest.
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