Montag, 27. August 2012

Von Ulmen und Weinstöcken

Kürzlich, beim Spaziergang durch einen Weinberg, machte ich mir allerlei Gedanken über die Ulmen und den Wein, der sich an ihnen empor rankte. Mir war, als träte jemand neben mich und ginge ein Stück des Weges mit mir durch die stillen Reihen hügelan und hügelab.

»Was denkst du denn so über die Ulmen und die Weinstöcke?«, fragte mich mein möglicher Begleiter.

»Ich finde, dass sie vorzüglich zu einander passen.«

»Sie sind ein Abbild derer, die du deinesgleichen nennst.«

»Meinst du die Menschen, die Menschheit an und für sich?«

»Und wenn es so wäre?«

»Dann«, bat ich den, der neben mir spazieren mochte oder auch nicht, »dann möchte ich das Geheimnis erfahren, das Ulme und Weinstock zum Abbild des Menschen macht.«

Ich blieb oder wir blieben stehen. Er fragte: »Siehst du diese Ulme und diesen Weinstock?«

»Ja, ich betrachte sie gerade aufmerksam. Wie Menschen sehen sie nicht aus.«

564px-29-autunno,Taccuino_Sanitatis,_Casanatense_4182.»Der Weinstock hier trägt Früchte, die Ulme aber ist zumindest für euch Menschen ein unfruchtbarer Baum. Ihre Samen sind nicht genießbar und fliegen schnell davon. Wenn sich nun der Weinstock nicht an der Ulme emporrankt, kann er keine Frucht bringen, weil er zu sehr am Boden kriecht. Selbst wenn er ohne Ulme Frucht trägt, so verfault sie, weil der Weinstock sich nicht an der Ulme emporwindet. Wenn aber der Weinstock an der Ulme emporwächst, dann trägt er sowohl von sich selbst aus Frucht und zugleich wegen der Ulme.«

Ich sah mich um. Ringsherum rankten sich die Weinstöcke an Ulmen empor und trugen schöne, gesunde Früchte. Es war beinahe, als wüchsen die Trauben an den Ulmen selbst. Doch hatte das noch immer nichts mit meinesgleichen zu tun.

Bevor ich noch eine Frage stellen konnte, fuhr womöglich mein Begleiter fort: »Du siehst also, dass die Ulme viel Frucht hervorbringt, und zwar nicht weniger als der Weinstock, eher sogar noch eine ganze Menge mehr.«

»Wieso sogar noch mehr?«

»Weil der Weinstock, wenn er an der Ulme emporwächst, viele und gute, wenn er aber am Boden kriecht, faulige und wenige Früchte bringt.«

Mir war auf einmal nicht mehr, als ginge jemand neben mir durch die stillen Reihen der Weinbeerbäume, wie man sie früher genannt hatte. Ich ließ meine Gedanken schweifen. Da fiel mir etwas ein: Kürzlich, beim Spaziergang durch eine Einkaufsstraße, machte ich mir allerlei Gedanken über die Kopfmenschen und die Arbeiter …

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Inspiriert zu dieser kleinen Fabel hat mich ein Gleichnis im »Hirte des Hemas«, einem wunderbaren uralten Buch. Das Bild von Ulme und Weinstock stammt von WikiCommons und ist gemeinfrei.

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