Ich habe keinen Grund, mich über die Entscheidung der geschätzten Leserschaft nach dem 3. Teil zu beschweren. Schließlich habe ich das Schlamassel selbst herbei beschworen. Niemand hat mich gezwungen, eine Frage, ganz zu schweigen von jener Frage, zu stellen.
Die Abstimmung hat ergeben, dass die Fotos echt sind. Nun gut. Ich hatte anderes im Sinn, aber die von mir ersonnenen Spielregeln sollen deshalb nicht außer Kraft gesetzt werden. Also muss mein Freund Haberling erfahren, dass keine Manipulationen vorliegen.
Zunächst jedoch, bevor es weiter geht mit der Entblößung, erneut die faire Warnung: Auch mit dieser vierten Fortsetzung ist die Geschichte nicht zu Ende. Wer weiterliest, bleibt wiederum ohne einen Ausgang der Handlung, womöglich drehen sich hinterher sogar noch mehr Fragen im Kopf als zuvor. Also beschwere sich niemand. Lesen auf eigene Gefahr.
Ach ja, und natürlich noch der Hinweis auf die bisherigen Teile: Teil 1 /// Teil 2 /// Teil 3
Genug der Vorrede.
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»Das kann aber nicht sein«, widersprach Stephan Haberling, »wenn diese Fotos echt sind, wie Ihr Kollege behauptet, warum weiß ich dann nichts davon? Es wurde wirklich nichts daran manipuliert?«
Detlef Fischer zog die Schulten empor. »Ich bin kein Experte, aber für mich klingt die Analyse eindeutig. Lichttemparatur, Konturübergänge, Schattenwurf, digitale Informationen… ich gehe einfach davon aus, dass ein Fachmann wie mein Kollege, ehemaliger Kollege besser gesagt, weiß, wovon er redet, wenn er zu einem so eindeutigen Urteil gelangt. Er hat immerhin auch festgestellt, dass die bisher vorhandenen Bilder nacheinander aufgenommen wurden, und dass die abgebildete Person zwar jeweils die gleiche Haltung eingenommen hat, aber – wie dies bei einem echten Menschen nicht anders zu erwarten wäre – ist das natürlich nicht zu 100 Prozent gelungen. Schon die Stellung der Füße ist auf keinem der vier Fotos wirklich identisch. Wenn man es weiß, sieht man es auch.«
Stephan Haberling betrachtete die Vergrößerungen der Füße auf dem Bildschirm. Es stimmte, was sein Nachbar sagte. Also blieb eigentlich nur eine einzige logische Erklärung: Trotz der Narbe am Knie war diese Person nicht er selbst. Das wiederum war unlogisch, denn eine dermaßen verblüffende Ähnlichkeit mochte es höchstens bei Zwillingen geben, und er hatte keinen Bruder, geschweige denn einen Zwillingsbruder.
»Und der Raum«, fragte Detlef Fischer, »der ist Ihnen wirklich völlig fremd?«
Die mehr und mehr entblößte Figur nahm den größten Teil der Fotos ein, man erkannte im Hintergrund eine Vitrine aus weißem Holz mit Glaseinsätzen, links daneben ein kleines Stück Wand im Terrakottaton offenbar mit einer interessanten Rohputztechnik gestaltet. Rechts waren Zweige und Blätter eines Ficus benjaminii zu erkennen. Was vom Fußboden zu sehen war, schien ein geknüpfter Teppich zu sein. Der Halogenstrahler, nach dem die Gestalt sich ausstreckte, gehörte zu einem Seilsystem. In der Vitrine stand weißes Geschirr, womöglich konnte ein Fachmann anhand der Bilder erkennen, welche Marke das war. Doch ob nun Seltmann oder Rosenthal oder sonst ein Hersteller, das änderte nichts daran, dass Stephan Haberling den Raum nicht kannte oder zumindest nicht erkannte. Er schüttelte den Kopf und meinte: »Keine Ahnung. Nie gesehen. Noch ein Bier, Herr Fischer?«
Vier leere Flaschen Krušovice standen auf dem Schreibtisch. 16 volle Flaschen waren noch vorrätig, aber der Nachbar lehnte dankend ab.
Wieder allein in seinem Arbeitszimmer überlegte Stephan Haberling, ob er nun etwas unternehmen oder einfach abwarten sollte. Polizeiliche Ermittlungen, das hatte er verstanden, waren einstweilen nicht angebracht, da keine eindeutige Straftat vorlag. Es blieb also die Möglichkeit, Picasaweb zu kontaktieren und darum zu ersuchen, die Galerie zu sperren. Allerdings war zu erwarten, dass alter.ego flugs mit anderen Anmeldedaten eine neue Galerie ins Leben rufen würde, ein endloses Katz- und Mausspiel. Auch nicht gerade sinnvoll.
Falls der Urheber des ganzen Schlamassels etwas von ihm wollte, hatte Stephan Haberling bisher nicht begriffen, was. Er öffnete noch einmal die letzte E-Mail. »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu« - mehr nicht. Unverständlich. Absurd. So wie die ganze Angelegenheit.
Er klickte auf »Antworten« und schrieb: »Tut mir leid, ich verstehe nicht, was gemeint ist. Ich weiß nicht, was Sie wollen. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Entweder Sie machen verständliche Aussagen, oder es ist hoffnungslos.«
Nach dem Absenden nahm er die vier leeren Bierflaschen und brachte sie zurück in die Küche. Die Gläser räumte er in die Spülmaschine. Irgend etwas essen könnte jetzt nichts schaden. Ein Ölsardinenbrot? Vielleicht eine Pizza?
Das Telefon unterbrach seine Kostauswahl.
»Haberling.«
»Hier ist Lisa.«
Er hatte keine Ahnung, wer Lisa sein mochte. Das hatte nicht viel zu bedeuten, da er sich Namen schwer merken konnte. »Hallo Lisa.«
»Ich will nur kurz fragen, ob du heute Abend beim Autorenstammtisch dabei bist.«
Also war Lisa wohl eine Autorin? Wenn sie einen Nachnamen genannt hätte, wäre es Stephan Haberling unter Umständen leichter gefallen, sich ein Gesicht vorzustellen. So ganz sicher war allerdings auch dies nicht. »Ich habe vor, zu kommen. Warum?«
»Dann bringe ich dir etwas mit, was vielleicht interessant für deine Arbeit ist. Sonst hätte ich es mit der Post geschickt.«
Nun gut, dann würde er spätestens in dem Moment wissen, wer Lisa ist, in dem ihm eine Dame etwas überreichte. Er nickte, was am Telefon zwar unerheblich, aber dennoch seine Angewohnheit war. »Okay, dann bis später, Lisa.«
Ihre Stimme klang nach einem Lächeln. »Ja, bis nachher, Stephan.«
Der Autorenstammtisch fand alle drei Monate statt, zu Stephan Haberlings Leidwesen in Kreuzberg. Am Lokal gab es nichts auszusetzen, Speisen und Getränke waren erschwinglich und gut, der Stammtisch im Kellergeschoss bot genügend akustische Entfernung zum lauten Betrieb oben, um sich ohne erhobene Stimme unterhalten zu können. Das einzige Problem am »Bergmann 103« war die Tatsache, dass es in der Bergmannstraße im Haus Nummer 103 lag, und ringsherum gab es so gut wie keine Parkplätze. So musste er zusätzlich zur normalen Fahrtdauer von 40 Minuten stets eine Parkplatzsuche und dann einen Fußweg von rund 15 Minuten zum Lokal einplanen.
Mitglied konnte jeder in Berlin lebende Autor sein, der mindestens ein Buch in einem »richtigen« Verlag veröffentlicht hatte. Da der Stammtisch nirgends publik gemacht wurde, kamen neue Mitglieder oder Gäste nur durch persönliche Einladung in die Runde. Bei den vierteljährlichen Treffen tauschte man sich zwanglos über Gott und die Welt, das Schreiben und das Lesen aus, ohne dass ein Thema vorgegeben war. Meist ergab sich ein Schwerpunkt von selbst.
Als Stephan Haberling eintraf, saßen bereits vier Stammgäste am Tisch, und darüber hinaus eine junge Dame, die er noch nie gesehen hatte. Da neben ihr ein Stuhl frei war, setzte er sich zu ihr und stellte sich vor: »Guten Abend, ich heiße Stephan Haberling. Sie sind zum ersten Mal dabei?«
»Ja, ich bin gespannt auf den Austausch. Herr Bendix Kleefeld war so freundlich, mich einzuladen.«
Stephan Haberling stutzte. Etwas am Tonfall kam ihm bekannt vor. Aber was?
Bendix Kleefeld lächelte über den Tisch und ergänzte: »Sie ist eine ganz famose Erzählerin und charmante Gesellschafterin, dafür lege ich die Hand ins Feuer.«
»Und haben Sie«, fragte Stephan Haberling, »auch einen Namen?«
»Natürlich. Lisa del Giocondo.«
Die Anruferin. Die Autorin des von ihm hochgeschätzten Buches »Mein zweites Ich«. Seine heimliche Muse. Die Unerreichbare – plötzlich erreichbar, direkt neben ihm am Stammtisch? Er war zu perplex, um sofort zu antworten.
Nach dem Stammtisch begleitete er Lisa in deren Wohnung, die in der gleichen Straße ein paar Hauseingänge entfernt lag. Es war überhaupt nicht seine Gewohnheit, fremde Frauen in deren Privatbereich aufzusuchen, aber hier und jetzt war sowieso alles dermaßen jenseits der Normalität, dass er keinen Augenblick gezögert hatte, als sie beim Aufbruch leise zu ihm sagte: »Wir gehen jetzt zu mir. Dort bekommst du das, was ich am Telefon versprochen habe.«
Sie stiegen die Treppen empor, im dritten Stock schloss Lisa eine Türe auf. Der Flur ließ bereits ahnen, dass diese Wohnung so ungewöhnlich eingerichtet und ausgestattet sein musste, wie ihre Bewohnerin ungewöhnlich war. Die Wände waren mit einem hellbraunen Baumwollstoff bezogen, so sah es auf den ersten Blick aus, aber die Wände leuchteten. Nicht grell, sondern in einer augenschmeichelnden Helligkeit.
Stephan Haberling berührte den Stoff, fasziniert von dem Effekt. Seine Begleiterin erklärte lächelnd: »Das ist mit Stoff bespanntes Glas, vom Boden bis zur Decke. Dahinter ist die LED-Beleuchtung installiert, und dahinter wiederum liegen die ursprünglichen Wände. Wenn ich die Wohnungstüre aufschließe, empfängt mich automatisch das Licht.«
Er nickte und sagte: »Wer bist du eigentlich, Lisa?«
»Geradeaus ist das Wohnzimmer. Setz dich hin, ich bringe ein paar Getränke aus dem Kühlschrank.«
Er war nicht mehr sonderlich überrascht, als er im Wohnzimmer eine Rohputzwand im Terrakottaton sah, an der eine Vitrine mit Geschirr und neben dieser ein Ficus benjaminii stand. Der Teppich war so weich, wie er auf den Fotos aussah. Unter der Zimmerdecke war ein Halogen-Seilsystem angebracht. Was fehlte, war ein zunehmend nackter Mann, der sich zu einem der Strahler empor streckte. Stephan Haberling hob die Arme und stellte fest, dass er, falls er sich auf die Zehenspitzen stellte, den Strahler erreichen konnte.
»Kannst du mir den so verstellen, dass das Licht auf das obere Fach in der Vitrine fällt?«, fragte Lisa del Giocondo, die in der Wohnzimmertür stand und lächelte. »Er ist etwas zu niedrig ausgerichtet.«
»Darf ich meine Kleidung dazu anbehalten?« fragte er zurück.
»Selbstverständlich.« Wieder dieses Lächeln, das ihn erinnerte. Zurückerinnerte. Zurück in jene Zeit, in der sich alles änderte. Endgültig. Unumkehrbar.
Er richtete den Strahler behutsam nach oben, bis er die gewünschte Stelle beleuchtete. Zwischen dem Geschirr im oberen Fach stand ein kleiner Bilderrahmen. Stephan Haberling trat an die Vitrine und betrachtete das Portrait.
»Komm, setzt dich zu mir und erzähl mir von Isis«, bat ihn die Frau, die er wenige Stunden vorher noch nicht gekannt hatte, und die ihm nun plötzlich so vertraut war wie kein anderer Mensch auf dieser Welt.
»Erzähl mir von Isis, bitte.«
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So. Mehr gibt es heute nicht zu lesen. Aber natürlich darf die obligatorische Abstimmung nicht fehlen. Bittesehr:
Wer ist Isis? |
Lisas Schwester. |
Stephans frühere Frau. |
Auswertung |
Ich werde am kommenden Montag Ausschau halten, was meine lieben Leser bevorzugen. Und dann weiterschreiben, was unser Stephan über Isis zu berichten hat.
Nachtrag 26.10.: Wer mag, kann noch klicken, aber ich schreibe mit der Entscheidung von heute früh im Kopf und im Herzen weiter: Gleichstand.