Dienstag, 15. Februar 2011

Vom unbiblischen Christentum

Was nennt sich nicht alles biblisch oder bibeltreu. Gemeinden, Verbände, Organisationen und so mancher Christ schmücken sich mit diesen Adjektiven. Das soll meist dazu dienen, sich von denen abzugrenzen, die sich zwar auch als Christen empfinden, aber eben nicht ganz so gut und richtig denken und lehren und glauben wie man selbst.
Was aber bibeltreu oder biblisch sein soll, ist in der Regel nicht so ohne weiteres zu erkennen.

Die ersten Christen waren jedenfalls nicht bibeltreu. Das sieht jeder ein, denn es gab gar keine Bibel. Es gab die Schriften, die wir heute als Altes Testament kennen, aber die hatte man nicht zu Hause, sondern die wurden in der Synagoge verwahrt und dort vorgelesen. Die Schriftgelehrten und Pharisäer, die in den Evangelien meist nicht allzu gut wegkommen, waren noch am ehesten bibeltreu, denn sie hielten sich so streng wie möglich an die vielen Hundert Vorschriften und Gesetze, die in den Schriftrollen zu finden waren. Dazu gehörte die Tora (die fünf Bücher Mose), die Propheten (Josua, Richter, Samuel, Jesaja, Jeremia und Hesekiel sowie das Zwölfprophetenbuch) und die Schriften (Psalmen, Hiob, Sprüche…). Diese Bücher wurden über einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren gesammelt, schriftlich fixiert, mehrfach überarbeitet und schließlich im Jahr 135 nach Christus als Tanach abgeschlossen. Zur Zeit Jesu wurde noch an den Texten gearbeitet, eine „endgültige“ Fassung lag noch nicht vor.
Das, was wir heute als Neues Testament kennen, entstand von etwa 50 bis 100 nach Christus, wurde über einen langen Zeitraum überliefert und in verschiedenen Sammlungen zusammengetragen. Aus dem Jahr 367 stammt ein Osterfestbrief des damaligen Bischofs von Alexandria, in dem erstmals die noch heute als verbindlich angesehenen 27 griechischen Einzelschriften aufgezählt werden, die wir als Neues Testament kennen.
Die Briefe das Clemens an die Korinther, der Brief des Barnabas und etliche andere Texte, die in den Gottesdiensten der christlichen Gemeinden neben den 27 Schriften gelesen wurden, fielen damit aus dem Buch heraus, das für die Kirche verbindlich wurde.
Erst mit der Übersetzung in viele Sprachen und der Erfindung des Buchdrucks, also um das Jahr 1530 herum, wurde die Bibel für breite Bevölkerungsschichten zugänglich, soweit sie lesen konnten.
Wer sich also heute als biblisch bezeichnet, oder als bibeltreu, weil er die regelmäßige Lektüre der Bibel pflegt und sich an das dort Gelesene zu halten versucht, muss staunend zur Kenntnis nehmen, dass es erst seit rund 480 Jahren bibeltreue und biblische Christen geben kann – eine recht junge Spezies angesichts der 2000jährigen Geschichte des Christentums.

Die ersten Christen waren jedenfalls nicht bibeltreu. Das ging schon los mit Jesus: „Ihr habt gehört … ich aber sage euch.“ Was den gottesfürchtigen Menschen als ehernes Gesetz galt, missachtete Jesus, wenn es darum ging, Leidenden zu helfen. Jesus hatte keine Ambitionen, das religiöse Gesetz abzuschaffen, sondern er stellte die Perspektive wieder richtig. Zweifellos hatte Gott angeordnet, dass der Sabbat zu heiligen sei, aber wenn ein Mensch in Not geriet, dann war für Jesus die Nächstenliebe vorrangig. Selbstverständlich brauchte man Geldwechsler und Tierhändler, um im Tempel die vorgeschriebenen Opfer bringen zu können, aber wenn aus dem Tempel eine Räuberhöhle gemacht wurde, dann griff Jesus zur Peitsche. Unmissverständlich sagte das von Gott gegebene Gesetz, dass eine Frau, die beim Ehebruch ertappt wird, umgehend gesteinigt werden muss, aber Jesus schrieb lieber stumm mit dem Finger auf die Erde, als den Anklägern zuzustimmen.
Auch die erste Gemeinde nach Jesu Auferstehung und Himmelfahrt war natürlich nicht bibeltreu, da die Bestandteile der Bibel erst später geschrieben wurden. Für Verwirrung sorgte offenbar vielerorts die Frage, wie weit oder ob überhaupt das immerhin unstrittig von Gott gegebene Gesetz für die Christen gelten sollte. Mit solchen Fragen der Interpretation befassen sich viele Briefe des Paulus an seine Gemeinden. Gilt das Gesetz Gottes nur für Judenchristen oder auch für Nichtjuden? Dürfen wir Fleisch kaufen und essen, das aus dem Götzenopfer stammt? Muss eine Frau ihr Haupt verhüllen, wenn sie betet oder nicht? Dürfen homosexuelle Christen am Gemeindeleben teilnehmen?
Paulus, der die Schriften des Alten Testamentes sehr gut kannte, sah manches anders als seine Zeitgenossen wie zum Beispiel Petrus, der ein schlichter Fischer war und überwiegend das wusste, was er in der Synagoge oder bei Gesprächen mit Jesus gehört hatte. Paulus stellte meist wie Jesus die Liebe über den Buchstaben des Gesetzes, manchmal blieb er aber auch bei dem, was in den Schriften stand, vor allem in moralischen Fragen, aber auch bei der Kleiderordnung und bezüglich der Rolle der Frauen. Bei anderen Themen lehrte er die Freiheit vom Gesetz und betonte, wie wichtig beim Umgang miteinander die Liebe sei.

Nun behaupten heute viele, dass sie bibeltreu seien, weil sie wissen und anwenden, was sie in dem Buch finden, das es damals noch nicht gab. So mancher nennt sich biblisch, obwohl er einen Großteil dessen ignoriert, was in den Schriften des Alten Testamentes eindeutig als Wort Gottes definiert ist. Übrigens – wenn in der Bibel vom Wort Gottes die Rede ist, dann ist an keiner Stelle die Bibel damit gemeint, und schon gar nicht das Neue Testament. Doch das nur am Rande, weil die Begriffsverwirrung Bibel=Wort Gottes trotz ihrer offensichtlichen Unlogik doch recht häufig anzutreffen ist.
Das Fatale ist, dass so manche haarsträubende und abstruse Lehre mit der Begründung „es steht geschrieben …“ oder „die Bibel sagt …“ unter das Volk gebracht wird. Man pickt sich einen Vers aus dem Zusammenhang und zementiert mit diesem „biblischen Beweis“ den Anspruch, dass dieser Lehre keineswegs widersprochen werden darf, weil sie ja schließlich auf einem biblischen Fundament stünde. Selbst Meinungen zu Themen, die in der Bibel überhaupt nicht angesprochen werden, kann man mit dem geschickten Zusammenstellen von mehreren aus ihrem Zusammenhang gerissenen Versen noch bibeltreu begründen. Meist geht es dabei um „als Christ darf man nicht …“ oder „als Christ muss man …“. Man muss zum Beispiel täglich Bibel lesen, als Christ. Ein Privileg, das in den ersten 1500 Jahren des Christentums den Menschen verwehrt war. Die logische Schlussfolgerung wäre, dass sie keine „richtigen“ Christen waren.

Ich zähle mich dann doch lieber zu den unbiblischen Christen, die gerne in der Bibel lesen, die Lektüre auch für wertvoll und fruchtbringend halten, die ihre Bibel, Altes und Neues Testament, ernst nehmen. Ernst, nicht wörtlich. Denn, so steht es geschrieben, der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.