Es sind die schlechtesten Autoren nicht, die sich von ihren Figuren gelegentlich überrumpeln lassen.
Diesen Satz las ich gestern der besten aller Ehefrauen aus der F.A.Z. vor, ohne zu sagen, von wem er stammt. Ich fragte, wer das wohl so trefflich formuliert haben könnte, und ihre erste Vermutung traf ins Schwarze: Marcel Reich-Ranicki. Wäre ich ein Jüngling, würde ich jetzt formulieren:
Yeah! Eva rulez! Statt dessen bekenne ich: Sie ist unvergleichlich, denn sie versteht mich und kennt mich, und liebt mich trotzdem...
Ich schweife ab? Na wenn schon. Nun gut, zurück zum Thema. Ich habe schon manch ungläubig-zweifelnden Blick geerntet, wenn ich im Gespräch erzählte, dass meine Erzählungen gelegentlich eine Richtung einschlagen, die ich weder geplant, noch geahnt habe. Es gibt Autoren, die entwerfen ihre Texte bis ins Detail, bevor sie anfangen, zu schreiben. Ich zähle mich nicht zu ihnen.
Manchmal ist da nur ein Bild, wenn ich die ersten Worte zusammensetze, oder eine Empfindung. Ich weiß noch nicht, ob überhaupt etwas daraus werden wird, oder wann, oder wie. Aber meine Figuren haben grundsätzlich die Freiheit, mich zu überraschen, zu überrumpeln. Sie dürfen leben, während ich sie niederschreibe. Sie dürfen auch sterben. Sich anständig benehmen oder über die Stränge schlagen. Ich lege ihnen keine Zügel an.
Ich kam einmal in einen Hausflur mit eigentümlichem Odeur. Nach starken Putzmitteln, Salmiak, Zitrone... Doch unter diesem Geruch lauerte etwas, was fast überdeckt war, aber eben nur beinahe. Etwas Fauliges, Blutiges womöglich gar?
Ich erinnerte mich, während ich die Treppe empor stieg, an die Kindheit: Einige Jahre lebte ich in dörflicher Umgebung am Rande einer Kleinstadt. Die Nachbarn zur Linken und zur Rechten waren Landwirte, es wurde bei ihnen auch geschlachtet. Genau der Geruch, der nach einem solchen Ereignis dem Bauernhof noch tagelang entströmte, fand sich Jahrzehnte später in jenem Hauflur wieder. Beinahe zugedeckt von Ajax oder Meister Proper. Oder einer anderen Reinigungssubstanz, diesbezüglich bin ich kein Experte.
Am gleichen Abend begann ich zu schreiben, und es wurde eine meiner berüchtigtsten Kurzgeschichten daraus:
Jessika. Ein harmloses, hilfsbereites Mädchen, das der mörderischen Hausmeisterin auf die Schliche kommt. Dass Jessika am Schluss der Erzählung in einem ganz anderen Licht erscheint, ahnte ich nicht, als ich schrieb. Ich war eigentlich dabei, sie in den letzten Sätzen umzubringen. Aber Jessika wollte nicht hinterrücks erdolcht werden. Sie hatte andere Pläne. Jessika hat mich überrumpelt.
Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Ob nun Liebesgeschichte (wie das
Fragment) oder Grausiges wie die erwähnte Jessika - ich lasse mich gerne auf Abenteuer ein, wenn ich schreibe. Manche Texte werden nie fertig, bleiben Entwürfe, unvollendete Bruchstücke. Die liest in der Regel niemand außer mir.
Andere wachsen und gedeihen in erstaunlichem Tempo, in wenigen Stunden, zur Reife und dürfen sich dem Publikum präsentieren.
Es gibt auch Manuskripte, die über zehn oder mehr Jahre immer wieder aufgenommen, bearbeitet und beiseite gelegt werden, bevor ich sie dann dem Leser zugänglich machen möchte.
Manche Figuren tun, was ich will, andere tun, was sie wollen. So wird das Schreiben für mich nie langweilig. Und für das Publikum - so hofft wohl jeder Autor - auch nicht die Lektüre.
Mein Tipp Nummer 6 für alle, die (erzählend) schreiben (wollen): Nicht warten, bis ein Entwurf im Kopf »vollkommen« ist, sondern einfach anfangen und sich gelegentlich selbst überraschen lassen. P.S.: Das Zitat von MRR stammt aus diesem wunderbaren Text, den er über Siegfried Lenz und dessen neues Buch geschrieben hat:
Bettgeschichten hatten für ihn nie BeweisqualitätP.P.S.: Nachdem ich gestern (Dienstag) diesen Beitrag geschrieben hatte, fand ich heute (Mittwoch) ein Video, in dem Stephen King bezeugt, dass er mitunter ähnlich arbeitet.
My attitude as a writer is: If something is working, just stand aside and let it work itself out. And that's what I did. Stephen King on writing Duma Key